Welt-AIDS-Tag

Die Geschichten von sechs HIV-Patienten die heute virusfrei sind

Stuttgart - 01.12.2023, 12:15 Uhr

Im Februar 2023 ging die Nachricht durch die Medien, dass der sogenannte Düsseldorfer Patient „von HIV geheilt“ wurde. (Foto: photalo / AdobeStock)

Im Februar 2023 ging die Nachricht durch die Medien, dass der sogenannte Düsseldorfer Patient „von HIV geheilt“ wurde. (Foto: photalo / AdobeStock)


Berlin, London, New York, Kalifornien, Düsseldorf und Genf – sechs Orte, an denen es gelang, die Infektion von sechs Patienten mit dem HI-Virus zu beenden. Sie gelten als virusfrei, den Weg dahin ebnete die hochriskante Therapie einer Stammzelltransplantation. Zum heutigen Welt-AIDS-Tag erzählen wir ihren Weg bis zum Leben ohne Virus.

Im Februar 2023 ging die Nachricht durch die Medien, dass der sogenannte Düsseldorfer Patient, von „HIV geheilt worden ist“. Bei dem Mann, der heute Mitte fünfzig ist, hatte man 2008 eine Infektion mit dem HI-Virus festgestellt; im Jahr 2011 bekam er die Diagnose einer akuten myeloischen Leukämie (AML). Er erhielt zunächst eine Chemotherapie, im Jahr 2013 erlitt er einen Rückfall. Die lebensbedrohliche Situation war der Grund für die Entscheidung, ihn mit einer hochriskanten Stammzelltransplantation zu behandeln, die in circa 15 % der Fälle letal ist. Diese Therapie war der Schlüssel, um auch gegen das HI-Virus vorzugehen. „Ziel der Transplantation war von Beginn an, sowohl die Leukämie als auch das HI-Virus in den Griff zu bekommen“, sagte Prof. Dr. Guido Kobbe in einer Pressemit­teilung des Universitätsklinikums Düsseldorf. Der Arzt führte die Transplantation durch und veröffentlichte mit seinem Kollegen, dem Infektiologen Dr. Björn Jensen, die Publikation zum Fall in Nature Medicine [1, 2].

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Wie ein Lottogewinn: HLA-Match und CCR5Δ32-Mutation

Voraussetzung für eine Transplantation von Stammzellen ist, dass die humanen Leukozytenantigene (HLA) des Spenders denen des Empfängers ähneln, sonst werden sie abgestoßen. Die Wahrscheinlichkeit einen passenden Spender zu finden, hängt auch davon ab, wie häufig der HLA-Typ des Empfängers in einer bestimmten Region vorkommt und wie viele Spender sich registrieren lassen. Im Fall des Düsseldorfer Patienten fand man fünf mögliche Spender mit einem HL-Antigen-Match. Der eigentliche „Lottogewinn“ war es aber, einen Spender gefunden zu haben, der zusätzlich zum HLA-Match eine homozygote Mutation des CCR5Δ32-Gens aufwies, wie Dr. Björn Jensen im Springer Medizin Podcast erklärt [3]. CCR5Δ32 ist ein Corezeptor, den HI-Viren Typ 1 nutzen, um an CD4+-T-Zellen anzudocken und sie anschließend zu infizieren. Durch die CCR5Δ32-Mutation auf beiden Allelen kann sich der Corezeptor nicht mehr an der Zelloberfläche verankern und verbleibt im Zytoplasma der T-Zellen, Viren können nicht mehr in die Zellen eindringen. Träger haben deshalb eine natürliche Resistenz gegen das HI-Virus Typ 1, mit dem die meisten HIV-Patienten infiziert sind. Die homozygote Mutation CCR5Δ32 ist in Nord- und Mitteldeutschland vergleichsweise häufig verbreitet, kommt aber trotzdem nur in jedem 100. vor.

Dreifacher Angriff zur Elimination von HIV

Drei Angriffspunkte sind entscheidend, um die HI-Viren bei einem in­fizierten Patienten durch Knochenmarktransplantation zu eliminieren: Bevor einem Patienten Stammzellen transplantiert werden können, müssen die Patienten-eigenen hämatopoetischen Stammzellen im Knochenmark zerstört werden. Die Chemotherapie zur Konditionierung beseitigt dabei nicht nur das „alte“ Immunsystem, sondern auch die Reservoire der HI­-Viren. Zweitens greifen zusätzlich die transplantierten Stammzellen des „neuen“ Immunsystems das „alte“ an, und zielen so auf die Elimination von Virus-Reservoiren ab. Drittens kommt die homozygote CCR5Δ32-Mutation ins Spiel: Sie verhindert eine neue Infektion, wenn nach der Stammzelltransplantation kleine Reservoire erhalten bleiben [1, 2, 3].

2008: Der Berliner Patient war der erste, der als von HIV „geheilt“ erklärt wurde.
(Foto:  Michalis Palis / AdbeStock)

Berlin ging Düsseldorf voraus

Der beschriebene Fall des Düsseldorfer Patienten war der fünfte, bei dem es gelang, keine intakten HI-­Viren nach Stammzelltransplantation mehr nachzuweisen. Als erster Patient ging Timothy Ray Brown „als von HIV geheilt“ 2008 in die Medizingeschichte ein. Der US-Amerikaner studierte 1995 in Berlin, als man die Infektion bei ihm feststellte. 2006 diagnos­tizierte man bei ihm eine Leukämie. In der Folge erhielt er eine Stammzelltransplantation eines Spenders mit der CCR5Δ32-Genmutation. Nach Absetzen der antiretroviralen Therapie kehrte das HI-Virus nicht mehr in Browns Körper zurück, die Geschichte sorgte für eine Sensation und weltweite Schlagzeilen. 2020 verstarb Brown, weil er erneut an einer Leukämie erkrankt war [4].

2019: Der Londoner Patient Adam Castillejo war der zweite, der nach Behandlung frei von HI-Viren war. (Foto: Kalinin / AdobeStock)

Patienten aus London, New York und Kalifornien

2019 gelang die Heilung von HIV und Leukämie zum zweiten Mal beim sogenannten Londoner Patienten. Adam Castillejo wuchs in Caracas (Venezuela) auf und lebt seit 2002 in London, mit 23 Jahren (2003) bekam er eine HIV-Diagnose und 2011 stellte man bei ihm ein malignes Lymphom im 4. Stadium fest. Zunächst begann er eine Chemotherapie, 2015 sagten seine Ärzte zu ihm, dass er Weihnachten nicht erleben würde. Doch sie täuschten sich, ein Freund Castillejos fand einen erfahrenen Arzt, der bei ihm eine Stammzelltransplantation mit der CCR5Δ32-Genmutation durchführte und ihm dadurch nicht nur noch einige Weihnachtsfeste, sondern auch ein HIV-freies Leben ermöglichte. Denn seit Castillejo im Oktober 2017 seine antiretrovirale Therapie absetzte, kam die Infektion nicht zurück [5].

Februar 2022: Es wurde bekannt, dass die New Yorker Patientin virusfrei und in Remission ist.
(Foto:  f11photo / AdobeStock)

Der Fall der ersten HI-virusfreien Frau wurde im Februar 2022 publik, aus­gehend von einem Klinikum in New York. Die Geschichte der Patientin beginnt 2013 mit einer HIV-Diagnose, und setzt sich 2017 fort, als bei ihr eine akute myeloische Leukämie festgestellt wurde. Auch sie sollte eine Stammzelltransplantation erhalten, um sowohl die Leukämie als auch die HIV-Infektion zu besiegen. Allerdings wurde kein passender Spender gefunden, der sowohl bezüglich der humanen Leukozyten-Antigene passte und zudem eine CCR5Δ32-Genmutation trug. Deshalb entschied man sich, die Patientin mit einer kombinierten Transplantation aus Stammzellen und Nabelschnurblutzellen zu behandeln (s. Kasten „New Yorker Patientin ohne passenden Spender“). Diese Besonderheit im Fall der New Yorker Patientin brachte weitere wichtige Erkenntnisse für die Forschung mit sich und zeigte, dass ein Erfolg auch ohne passenden Spender möglich ist, denn nach absetzen der antiviralen Therapie blieb die Patientin virusfrei. Man sprach bei ihr aber von einer Remission, weil sie im Vergleich zu den Patienten aus Berlin und London erst über einen kurzen Zeitraum frei von HI-Viren ist [6].

New Yorker Patientin ohne passenden Spender

Bei der New Yorker Patientin konnte kein Spender gefunden werden, der sowohl ein passendes HLA-Match als auch die homozygote CCR5Δ32-Mutation trug. Ein Grund war auch, dass die Eltern der Patientin von verschiedener ethnischer Herkunft waren. Die Wahrscheinlichkeit einen Spender zu finden ist dann geringer, weil diese gemischte ethnische Herkunft seltener in der Bevölkerung vorkommt. Sie erhielt deshalb eine Stammzelltransplantation mit einer homozygoten CCR5Δ32-Mutation von einer Spende mit schlechtem HLA-Match aus Nabelschnurblutstammzellen. Zusätzlich bekam sie Spenderzellen eines erwachsenen Verwandten ohne die Mutation, dafür aber mit einem guten HLA-Match. Die Idee: Nabelschnurblutstammzellen sind anpassungsfähig und können sich an die Spenderzellen des Verwandten mit passendem HLA-Match angleichen [6].

Sommer 2022: Die Remission von HIV und Leukämie des Patienten in Kalifornien wurde verkündet. (Foto: Luciano Mortula-LGM / AdobeStock)

Neben New York gab es im Jahr 2022 noch einen weiteren Erfolg: Forscher aus Kalifornien erklärten einen Patienten in Remission von HIV. Der US-Amerikaner lebte 31 Jahre lang mit dem HI-Virus, 2019 diagnostizierte man bei ihm eine akute myeloische Leukämie. Auch er erhielt daraufhin eine Knochenmarktransplantation, mit Stammzellen mit der CCR5Δ32-Mutation. Im März 2021 setzte er seine antiretrovirale Therapie ab und blieb in der Folge virusfrei. Das Besondere an seinem Fall: Zum Zeitpunkt der Transplantation war der Patient in Kalifornien 63 Jahre alt und der bisher älteste Patient, der in Remission ging. Sein Erfolg gibt Hoffnung für ältere HIV-Patienten, die an Leukämie erkranken [7].

Sommer 2023: Das Genfer Universitätsklinikum teilte mit, dass ein weiterer Patient virusfrei ist.
(Foto: Salvatore Freni / AdobeStock)

Patient aus Genf ohne CCR5Δ32-Genmutation

Der sechste Patient, der dank einer Stammzelltherapie als virusfrei erklärt werden konnte, wurde am Uniklinikum in Genf behandelt. Auch er hatte aufgrund einer Leukämie eine Knochenmarkspende erhalten und war zuvor an HIV erkrankt. Die Spenderzellen, die man transplantierte, wiesen jedoch nicht die schützende CCR5Δ32-Genmutation auf. In einer Pressemitteilung berichtete das Universitätsklinikum Genf, dass das Virus trotz fehlender Genmutation 20 Monate nach Absetzen der antiretroviralen Therapie noch immer nicht nachgewiesen werden konnte. Bei den Tests, die im Nachgang durchgeführt wurden, konnten keine Viruspartikel, kein aktivierbares Virusreservoir und keine erhöhten Immunantworten gegen das Virus gefunden werden. Es ist laut den Forschern allerdings trotzdem noch nicht ausgeschlossen, dass die Infektion mit dem Virus fortbesteht, die Wissenschaftler sprechen daher aktuell auch bei dem Patienten aus Genf von einer Remission. Interessant ist der Fall vor allem deswegen, weil die Spenderzellen keine CCR5Δ32-Mutation aufwiesen. Zuvor zeigten Fälle der sogenannten Boston-Patienten, dass die homozygote CCR5Δ32-Mutation eine Schlüsselrolle für eine Remission spielt. Auch sie erhielten eine Stammzelltransplantation ohne die Mutation, erlitten aber 32 Wochen nach Absetzen der antiretroviralen Therapie einen Rebound, obwohl sie zuvor als virusfrei galten [8, 9].

HIV-Neudiagnosen laut Robert Koch-Institut

jr | Im Jahr 2022 wurden in Deutschland 3239 HIV-Neudiagnosen gezählt (2021: 2258). Für 92 % dieser Neudiagnosen lagen Angaben zum Herkunftsland vor: Der größte Anstieg an einer neu diagnostizierten HIV-Infektion wurde für Personen aus Osteuropa verzeichnet, davon 724 aus der Ukraine. Von den Personen mit dem Herkunftsland Deutschland waren 558 Personen (57 %) Männer, die Sex mit Männern haben und 74 Personen (29 %) der deutschen Infizierten konsumieren intravenös Drogen. Das heterosexuelle Transmissionsrisiko lag 2022 bei 11 % (112 deutsche, heterosexuelle Personen neu diagnostiziert). Insgesamt nimmt der Anteil von Neudiagnostizierten aus der Bundesrepublik leicht ab (2021: 60 % aus Deutschland, 2022: 57 %).

2022 waren 2236 der Neudiagnostizierten Männer (Zunahme um 24 % gegenüber 2021) und 997 Frauen (Zunahme um 24 % gegenüber 2021). Das Geschlecht divers wurde 2021 und 2022 jeweils einmal angegeben.

Auch 2022 fanden peri- oder pränatale HI-Virusübertragungen statt: Bei 14 unter 14-Jährigen wurde der Erreger sicher oder wahrscheinlich von der Mutter auf das Kind übertragen (2021 bei acht Kindern).

Bei diesen epidemiologischen Zahlen gilt es zu beachten, dass es sich um Neudiagnosen und nicht um Neuinfizierte handelt. Die Dunkelziffer, also Menschen, die das Virus in sich tragen und es (noch) nicht wissen, ist nicht berücksichtigt [10].

Die sechs Fälle zeigen, dass es möglich ist, das HI-Virus aus Infizierten zu eliminieren. Der Weg dorthin ist aber hochriskant und wird nur eingeschlagen, wenn Patienten eine lebensbedrohliche hämatologische Erkrankung erleiden. Infizierte können heutzutage gut mit einer antiretroviralen Therapie behandelt werden und haben dann trotz HI-Virus ein langes Leben vor sich.

Literatur

[1] „Düsseldorf-Patient“: HIV-Heilung nach Stammzelltransplantation bestätigt. Pressemitteilung des Universitätsklinikums Düsseldorf vom 17. Februar 2023, www.uniklinik-duesseldorf.de/ueber-uns/pressemitteilungen/detail/duesseldorf-patient-hiv-heilung-nach-stammzelltransplantation-bestaetigt

 [2] Jensen B O, Kobbe G et al. In-depth virological and immunological characterization of HIV-1 cure after CCR5Δ32/Δ32 allogeneic hematopoietic stem cell transplantation. Nature medicine 2023;29: 583–587

 [3] Wie wurde der Düsseldorfer-Patient von HIV geheilt. Der Springer Medizin Podcast vom 5. Mai 2023

 [4] „Berliner Patient“: Von HIV geheilt, an Krebs gestorben. Artikel des deutschen Ärzteblatt vom 30. September 2020, www.aerzteblatt.de/nachrichten/116992/Berliner-Patient-Von-HIV-geheilt-an-Krebs-gestorben

 [5] Londoner Patient: Wahrscheinlich zweite HIV-Heilung. Artikel der Deutschen Aidshilfe vom 11. März 2020, www.aidshilfe.de/meldung/londoner-patient-hiv-heilung

 [6] Hsu J et al. HIV-1 remission and possible cure in a woman after haplo-cord blood transplant. Cell 2023;186(6): 1115-1126

 [7] Patient with HIV achieves remission following stem cell transplant at City of Hope. Pressemitteilung des City of Hope National Cancer Institute vom 27. Juli 2023, www.cityofhope.org/hiv-patient-achieves-remission-following-stem-cell-transplant-city-of-hope

 [8] Genfer Patient nach Knochenmarktransplantation in HIV-Remission. Pressemitteilung des Uniklinikums Genf vom 20. Juli 2023 (Originaltitel in französisch), www.hug.ch/medias/communique-presse/patient-genevois-remission-du-vih-suite-dune-greffe-moelle-osseuse

 [9] HIV-Heilung: Rückschlag im Fall der beiden Bostoner Patienten. Artikel der Deutschen Aidshilfe vom 9. Dezember 2023, www.aidshilfe.de/meldung/hiv-heilung-ruckschlag-fall-beiden-bostoner-patienten

[10] Gemeldete HIV-Erstdiagnosen 2021-2022. Epidemiologisches Bulletin Nr.35 in 2023, 31. August 2023, Robert Koch-Institut, https://www.rki.de/DE/Content/Infekt/EpidBull/Archiv/2023/Ausgaben/35_23.pdf?__blob=publicationFile


Julia Stützle, Apothekerin und Volontärin


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