Kein kleiner Unterschied

Bei Diagnose und Therapie geschlechtsspezifisch denken

10.01.2024, 16:45 Uhr

Männer und Frauen unterscheiden sich nicht nur in Bezug auf die primären und sekundären Geschlechtsmerkmale und im Körperbau. (Foto: Nicola K/peopleimages.com/AdobeStock)

Männer und Frauen unterscheiden sich nicht nur in Bezug auf die primären und sekundären Geschlechtsmerkmale und im Körperbau. (Foto: Nicola K/peopleimages.com/AdobeStock)


Nahezu alle Gewebe und Organe unterliegen einer geschlechtsspezifischen Entwicklung, die durch unterschiedliche Gen­expressionsmuster geprägt ist. Die daraus resultierenden Unterschiede können für medizinische Belange von entscheidender Bedeutung sein.

Die Gendermedizin beschäftigt sich mit den medizinisch bedeutsamen Unterschieden der Geschlechter. Wobei es nicht nur um spezifische Erkrankungen der primären und sekundären Sexualmerkmale geht, sondern vielmehr um die Medizin im Allgemeinen, die spezifische Unterschiede der beiden Geschlechter erkennt und Erkrankungen entsprechend behandelt. Immer mehr Kliniken bieten eine geschlechter­angepasste Versorgung ihrer Patienten an, um den medizinisch relevanten Unterschieden zwischen Mann und Frau gerecht zu werden. Vorrangig geht es dabei um das biologische Geschlecht, denn biologische Geschlechtsunterschiede wirken sich durch genetische und hormonelle Einflüsse oft auf die Pathophysiologie, die klinische Manifestation von Krankheiten und deren Ansprechen auf die Behandlung aus. Zunehmend werden soziale Aspekte der Rollenbilder beziehungsweise das soziale Geschlecht (Gender) ebenfalls berücksichtigt (s. Kasten „Soziales vs. biologisches Geschlecht“). Mittlerweile spricht man auch von Sex- und Gendermedizin, da Gesundheit und Krankheit einerseits durch biologische Geschlechtsfaktoren (Gene und Sexualhormone) beeinflusst werden, soziokulturelle Geschlechtsfaktoren aber durchaus auch von Bedeutung sein können. Zum einen verhalten sich Männer und Frauen meist geschlechtsspezifisch, zum anderen beeinflusst aber auch die Umwelt die biologischen Verhältnisse der beiden Geschlechter, da diese durch Lebensstil und Epigenetik verändert werden können (s. Tab. 1, s. Abb. 1). Nicht nur im Lebensstil, zum Beispiel im Hinblick auf Rauchen, wahrgenommenen Stress und in Ernährungsgewohnheiten, sondern auch bezüglich Krankheitswahrnehmung und individueller Inanspruchnahme der Gesundheitsversorgung durch die Patienten unterscheiden sich Männer und Frauen.

Sex und Gender stehen also in Wechselwirkung, wobei die erste Prägung und ein äußerst relevanter hormoneller Einfluss auf das biologische Geschlecht und die weitere individuelle Entwicklung bereits vor der Geburt ihren Anfang nehmen.

Soziales vs. biologisches Geschlecht

  • Das biologische Geschlecht (Sex) ist durch die biologischen Merkmale zur Fortpflanzung definiert. Es unterliegt einer Binarität mit zwei Gametentypen (weiblich: große Geschlechtszellen, männlich: kleine Geschlechtszellen) mit den dazugehörigen primären Geschlechtsmerkmalen. Das biologische Geschlecht eines Menschen ist nicht immer eindeutig erkennbar (Intersexualität).
  • Das soziale Geschlecht (Gender) ist die gesellschaftlich geprägte Geschlechterrolle. Es definiert, was in der Gesellschaft bezüglich Erscheinungsbild, Verhalten und sozialer Interaktionen als „typisch Frau“ bzw. „typisch Mann“ gilt. Als drittes Geschlecht ist im Gesetz „divers“ verankert, dahinter verbirgt sich eine große Vielfalt an möglichen Varianten.

Schon allein durch die Genetik, also die verschiedenen Gonosomen, gibt es Unterschiede zwischen Mann und Frau. Die geschlechtsspezifische Genetik führt zu ubiquitären Unterschieden in der molekularen Zusammensetzung aller männlichen beziehungsweise aller weiblichen Zellen. Frauen sind durch die beiden XX-Chromosomen Männern gegenüber oft im Vorteil. Die Anzahl von mehr als 1000 Genen auf dem X-Chromosom im Vergleich zu weniger als 100 Genen auf dem Y-Chromosom ist schon augenfällig. Männer leiden deshalb häufiger an Erbkrankheiten, die über das X-Chromosom vererbt werden, wie zum Beispiel Hämophilie. Frauen können Gendefekte über ihr zweites X-Chromosom oft ausgleichen. Andererseits sind familiäre Veranlagungen, zum Beispiel bei chronisch-entzündlichen Darmerkrankungen, mitunter auch auf dem X-Chromosom zu finden. Dies erklärt dann eine stärkere Disposition betroffener Frauen für diese Erkrankungen.

Tab. 1: Biologische und soziale Faktoren des Geschlechts, die Einfluss auf die Medizin haben (nach [12])
biologische Faktoren (Sex)
soziokulturelle Faktoren (Gender)
geschlechtsdefinierende Faktoren
  • X-Chromosom: ca. 1500 Gene, die unter anderem die Funktion von Herz, Gehirn und Immunsystem beeinflussen
  • Y-Chromosom: < 100 Gene; unter anderem Gene, die für die Fortpflanzung mitverantwortlich sind
  • Geschlechterrollen
  • Geschlechterbeziehungen
  • Geschlechtsidentität
  • soziokulturelle Geschlechtsattribute (von außen oder selbst zugewiesen)
weitere Faktoren mit Einfluss auf das Geschlecht
  • epigenetische Veränderungen
  • autosomale Gene
  • Sexualhormone
  • Lebensstil (Ernährung, körperliche Aktivität)
  • Umwelt (Giftstoffe)
  • soziales Umfeld
gegenseitige Beeinflussung
  • biologische Faktoren führen zu typischen geschlechtsspezifischen Verhaltensweisen
  • bestimmte Verhaltensweisen führen zu epigenetischen Veränderungen, die das biologische Geschlecht betreffen können
Abb. 1: Risiko und Verlauf einer koronaren Herz­erkrankung werden durch Faktoren des biologischen Geschlechts (Sex) und des gesellschaftlichen Geschlechts (Gender) beeinflusst (nach [11]).
 

SRY-Gen: verantwortlich für viele Unterschiede

Den wohl größten Einfluss auf die Unterschiede zwischen Männern und Frauen hat das auf dem Y-Chromosom liegende SRY-Gen (Sex determining region of Y-Gen). Es steuert bei Männern die Entwicklung der Hoden und damit die Sezernierung von Testosteron, das eine dauerhafte Vermänn­lichung des Fortpflanzungstraktes bewirkt. Testosteron führt aber auch zu neuronalen Verknüpfungen im Gehirn, die das männliche Verhalten beeinflussen. Beim Menschen erfolgt der erste Schub der Testosteron-Ausschüttung am Ende des ersten Trimesters der Schwangerschaft. Da er die zelluläre Genexpression und die Gewebestruktur in den Organen des Mannes über epigenetische Mechanismen verändert, ist bereits dieser erste Testosteron-Schub aus den fetalen Hoden entscheidend für die Geschlechtsunterschiede in der Physiologie und Anfälligkeit für Krankheiten, die sich oft erst im Erwachsenenalter manifestieren. Besonders in der Pubertät führen geschlechtsspezifische Einflüsse der Sexualhormone bei Mädchen und Jungen zu ausgeprägten und sehr unterschiedlichen körperlichen Verände­rungen. Und auch nach der Pubertät werden Zellen mit Androgen- oder Östrogen-Rezeptoren bei Frauen und Männern weiterhin durch die Sexualhormone geschlechtsspezifisch beeinflusst.

Die Kombination aller genetischen und hormonellen Ursachen führt zu zwei unterschiedlichen biologischen Systemen bei Männern und Frauen. Sie können sich unterscheiden sowohl bezüglich

  • der Prädisposition für Krankheiten und
  • der Manifestation von Krankheiten als auch
  • des Ansprechens auf deren Behandlung.

Daher ist das biologische Geschlecht mit seiner komplexen genetischen, epigenetischen und hormonellen Regulation ein sehr wichtiger Einflussfaktor auf die Physiologie und auf Häufigkeit und Verlauf von Krankheiten. Die Sexual­hormone haben unterschiedlichen Einfluss auf den Stoffwechsel und viele weitere physiologische Funk­tionen, vor allem aber auf das Immunsystem. Frauen sind insgesamt dreimal so häufig von Autoimmunerkrankungen wie multiple Sklerose oder Psoriasis betroffen wie Männer. Viele endokrine Störungen treten bei Frauen häufiger auf, denn diesen kann auch eine Autoimmun­pathogenese zugrunde liegen. So liegt die Prävalenz für Hashimoto-Thyreoiditis bei Frauen im Vergleich zu Männern bei etwa 6 : 1.

Männer sind hingegen infektanfälliger und leiden auch stärker unter auftretenden Infekten. Nach einer Infektion mit COVID-19 erlitten Männer z. B. häufiger einen schweren Verlauf und verstarben auch häufiger als Frauen. Ver­antwortlich für eine stärkere Immunreaktion ist vor allem Östrogen, das die Vermehrung von Immunzellen unterstützt, während Testosteron deren Wachstum bremst. Auch in anderen Organsystemen finden sich spezifische Unterschiede in der Prävalenz und Ausprägung bestimmter Erkrankungen (s. Abb. 2 zu den häufigsten Todesursachen).

Die weibliche Harnröhre ist kürzer, weshalb Frauen häufiger an Harnwegsinfektionen leiden. Bei Männern kommt es dagegen durch eine benigne Prostatahyperplasie im Alter vermehrt zu Miktionsproblemen. Jungen leiden in ihrer Kindheit häufiger unter Asthma als Mädchen. Das ändert sich nach der Pubertät, da sich durch das stärkere Lungenwachstum der Durchmesser der Atem­wege im Verhältnis zum Lungenvolumen vergrößert. Deutlich erhöht ist bei Frauen das Osteoporoserisiko: Mehr als 70% der osteoporotischen Frakturen treten bei Frauen auf. Im Vorstadium des Typ-2-Diabetes findet man bei Frauen häufiger eine gestörte Glucose-Toleranz, also eine postprandiale Insulin-Resistenz. Bei Männern ist eher der Nüchtern-Blutzucker-Wert erhöht.

Abb. 2:Prozentuale Verteilung der häufigsten Todesursachen. Während Männer häufiger an Herz-Kreislauf-Erkrankungen versterben, haben Frauen öfter Schlaganfälle und Alzheimer-Demenz (2017, Daten aus den USA; nach [12]).
 

Östrogene schützen das Herz

Herzerkrankungen entwickeln sich bei Frauen zehn Jahre später als bei Männern, weil Frauen bis zum Klimakterium durch Östrogen geschützt sind. Danach sterben Frauen jedoch häufiger an einem Infarkt als Männer. Die Symptomatik beim Myokardinfarkt ist bei Männern „typischer“ mit den klassischen Schmerzen in der linken Brust, die in den Arm ausstrahlen. Da Frauen eher unter Rückenschmerzen, Übelkeit und Erschöpfung leiden, wird der Infarkt bei ihnen oft zu spät erkannt. Frauen mit einem Herzinfarkt kommen im Schnitt erst zwei Stunden später als Männer in die Notaufnahme. Auch Herzrhythmusstörungen und ein dadurch erhöhtes Schlaganfallrisiko betreffen mehr Frauen als Männer. Bei der Diagnose und Therapie von frauentypischen Erkrankungen wie Depressionen, Osteo­porose oder Brustkrebs, die auch bei Männern auftreten können, sind wiederum Männer benachteiligt.

Männer erkranken häufiger an Krebs, und ihre Überlebensrate ist kürzer. Ernährungsgewohnheiten oder Risikoverhalten wie Rauchen und Alkoholkonsum spielen hier eine wichtige Rolle, erklären aber nicht alles. Auch ohne diese Risikofaktoren und im Kindesalter haben Männer ein höheres Erkrankungsrisiko und geringere Überlebensraten. Ursachen könnten die X-kodierten Tumorsuppressoren in weiblichen Zellen und die Y-kodierten Onko­gene in männlichen Zellen sein. Auch Chromatin-Umbau-Effekte in männlichen Zellen durch Testosteron vor der Geburt können Einfluss auf mehrere Faktoren für maligne Erkrankungen haben. Dazu gehören Stoffwechsel, Wachstumsregulation, Angiogenese und Immunität, die alle zur Krebsprädisposition beitragen.

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Kopfschmerz tritt häufiger bei Frauen auf

Neurologische und psychische Erkrankungen zeigen bei Frauen und Männern unterschiedliche Symptomatik. Da Schmerz östrogenabhängig ist, haben Frauen ein stärkeres Schmerzempfinden als Männer. Auch leiden Frauen häufiger unter Kopfschmerz und Migräne. Bei der Parkinson-Erkrankung gibt es in der Ausprägung der Symptome und im Verlauf deutliche Unterschiede zwischen den beiden Geschlechtern. Obwohl bei Frauen der klinisch-manifestierte Parkinson häufiger auftritt, ist der Verlauf anders, die Progredienz erfolgt bei Frauen langsamer. Östrogen erhöht zum einen die Dopamin-Mengen in der Substantia nigra, zum anderen wirkt es durch seine entzündungshemmende Wirkung präventiv. Frauen leiden bei einer Parkinson-Erkrankung häufiger an Depressionen und Angstzuständen, während Männer häufiger von motorischen Beeinträchtigungen wie Tremor betroffen sind. Durch eine erhöhte Neurodegeneration sind diese auch stärker in ihrer Ausprägung.

Zwei Drittel der Alzheimer-Patienten sind Frauen, wobei natürlich aufgrund der höheren Lebenserwartung auch der Risikofaktor des höheren Alters zu berücksichtigen ist. Das Apolipoprotein E-ε4 (ApoE-ε4) ist der stärkste bekannte genetische Risikofaktor für einen späten Ausbruch der Alzheimer-Krankheit und steht im Zusammenhang mit einer erhöhten Ablagerung von β-Amyloid, einem pathologischen Merkmal der Alzheimer-Krankheit. Es gibt keine Unterschiede in der Häufigkeit des ApoE-ε4-Genotyps zwischen Mann und Frau, allerdings ist das Erkrankungsrisiko für Frauen als Trägerinnen dieses Genmerkmals viermal höher. Auch Unterschiede im Glucose-Stoffwechsel haben Einfluss auf die Erkrankungshäufigkeiten und geschlechtsspezifischen Unterschiede bei der Alzheimer-Krankheit.

Gender Data Gap: Männer besser untersucht

Frauen und Männer unterscheiden sich nicht nur hinsichtlich Prävalenz und Ausprägung von Erkrankungen. Auch die Wirkung von Arzneimitteln kann bei Mann und Frau verschieden sein. Was ist daher bei der medikamentösen Therapie von Mann und Frau zu beachten?

Die Entwicklung neuer Arzneimittel erfolgt in der Regel an männlichen Mäusen und in Phase I der klinischen Prüfung an männlichen Probanden. Die Gründe hierfür liegen vor allem im weiblichen Zyklus und den unterschiedlichen hormonellen Phasen im Leben einer Frau beziehungsweise weiblicher Säugetiere, die die Ergebnisse beeinflussen können. Außerdem könnten bei einer nicht bekannten Schwangerschaft die zu testenden Arzneistoffe das ungeborene Kind schädigen. Die dadurch vorhandene Datenlücke nennt man „medizinischer Gender Data Gap“. Dabei sind für eine Pharmakotherapie die Unterschiede bezüglich Muskelmasse, Fettverteilung und generell der Verteilungsräume sowie die Größenunterschiede der Organe, vor allem der Nieren und der Leber, medizinisch sehr relevant. Deshalb werden dringend mehr Studien benötigt, in denen die Unterschiede der beiden Geschlechter berücksichtigt werden. Zunehmend werden für klinische Studien geschlechtsspezifische Daten eingefordert. Seit 2004 müssen in Deutschland für die Zulassung von neuen Arzneimitteln mögliche Unterschiede zwischen Mann und Frau in klinischen Studien untersucht werden. Auch bei der Erfassung medizinischer Daten nach der Zulassung der Arzneimittel wird heute vermehrt auf die geschlechtsspezifische Erfassung geachtet. Acht von zehn verschreibungspflichtigen Medikamenten, die zwischen 1997 und 2000 vom Markt genommen wurden, stellten für Frauen größere Gesundheitsrisiken als für Männer dar. Geschlechtsspezifische Einflussfaktoren können prinzipiell alle pharmakologischen Abläufe betreffen, wie in Tabelle 2 dargestellt ist.

Bei der Dosierung von Arzneimitteln müssen pharmakokinetische Unterschiede der Geschlechter wie Gewicht, Verteilungsräume und Metabolismus miteinbezogen werden. Die Sexualhormone selbst, aber auch die unterschiedliche Aktivität der Leberenzyme führen bei Frauen oft zu einer geringeren Clearance und entsprechend höherer Bioverfügbarkeit. So wurde für Zolpidem die Dosierungsempfehlung für Frauen halbiert, nachdem festgestellt wurde, dass bei 15% der Frauen acht Stunden nach der Einnahme noch eine deutliche Beeinträchtigung der Fahrtauglichkeit vorlag. Im Vergleich dazu trat diese nur bei 3% der Männer auf.

Östrogen kann jedoch auch die Wirkung bestimmter Arzneistoffe verringern. Dies wurde zum Beispiel für den Wirkstoff Lamotrigin festgestellt. Erhöhte Östrogen-Werte, die beispielsweise durch orale Kontrazeptiva oder eine Schwangerschaft entstehen, führten zu einer um 50% verringerten Wirkung des Antiepileptikums und dadurch zu um 77% vermehrten epileptischen Anfällen.

Auch der Transportweg durch den Darm ist bei Frauen anders als bei Männern. Die Darmpassage ist bei Frauen deutlich verlängert, für Tabletten dauert sie etwa doppelt so lange. Bei einigen Arzneimitteln, zum Beispiel Minoxidil, werden generell unterschiedliche Dosierungen für Männer und Frauen angegeben. Andere Wirkstoffe wie z. B. Beta­blocker werden zumindest zu Therapiebeginn bei Frauen idealerweise nur halb so hoch dosiert wie bei Männern.

Auch pharmakodynamische Unterschiede gibt es. Eine Herzinfarktprophylaxe mit 100 mg Acetylsalicylsäure (ASS) ist beispielsweise nur bei Männern effizient, Frauen profitieren hingegen hinsichtlich einer Schlaganfallprophylaxe mehr von der Thrombozytenaggregationshemmung durch ASS. Es gibt auch einen Geschlechtsunterschied bei der Wirkung von Antidiabetika. Männer zeigen bei Sulfonylharnstoffen und Glitazonen in Abhängigkeit vom Körpergewicht eine stärkere Senkung des Blutzuckerspiegels als Frauen mit vergleichbarem Körperbau.

Tab. 2: Geschlechtsspezifische Unterschiede bei der Wirkung von Arzneimitteln
pharmakologischer Ablauf der Arzneimittelwirkung
Faktoren, die sich zwischen Mann und Frau unterscheiden können
Pharmakokinetik
Resorption
Magenenzyme, enterohepatischer Kreislauf, Transportproteine, Verweildauer im Magen-Darm-Trakt
Distribution
Körpergewicht, Körperfettverteilung, Herzleistung, Gewebedurchblutung, Gesamt­körperwasser, Intrazellularraum, Extrazellularraum, Intravasalraum
Biotransformation
metabolische Leberkapazität, Variabilität der Cytochrom-P450-Enzyme, Proteinbindung
Exkretion
funktionelle Nierenkapazität, Nierendurchblutung, glomeruläre Filtrationsrate, tubuläre Sekretion und Rückresorption
Pharmakodynamik
Membranrezeptorsensitivität, Interaktionen mit Hormonen und Enzymen, Zielorgan­reaktion, Nebenwirkungen

Mehr Nebenwirkungen bei Frauen

Frauen müssen insgesamt etwa doppelt so häufig mit unerwünschten Arzneimittelwirkungen rechnen. Aber auch die Art der Nebenwirkung kann geschlechtsabhängig sein. Bei einer Therapie mit Antidepressiva treten z. B. überwiegend bei Männern sexuelle Störungen auf, bei Frauen sind andere Nebenwirkungen häufiger. Neben organisch begründbaren Unterschieden machen sich besonders bei den unerwünschten Wirkungen auch Faktoren wie gesellschaftliche Erwartungen und der deutlich höhere Konsum von Arzneimitteln durch Frauen als Einflussfaktoren bemerkbar und sollten in der Therapie berücksichtigt werden.

Das biologische Geschlecht (Sex) und die gesellschaftliche Rollenwahrnehmung (Gender) sind bei vielen Erkrankungen für Diagnose und Therapie von entscheidender Bedeutung. Insbesondere bei einer Pharmakotherapie sollten geschlechtsspezifische Unterschiede Berücksichtigung finden. Auch wenn es für eine kleine Gruppe nicht möglich ist, das Geschlecht eindeutig zuzuordnen, ist eine Unterscheidung der beiden biologischen Geschlechter und eine entsprechende Zuordnung der Patienten für die Medizin sehr bedeutsam. Denn Mann und Frau sind grundsätzlich verschieden. Es sind im Prinzip zwei unterschiedliche biologische Systeme mit einer frühzeitigen geschlechtsspezifischen Entwicklung, die die molekulare Zusammensetzung aller Zellen lebenslang bestimmt.

Unterschiede, die sich durch das biologische Geschlecht begründen lassen, müssen mehr erforscht werden. Wenn den Ursachen geschlechtsspezifischer Unterschiede hinsichtlich Pathophysiologie und Pharmakotherapie auf den Grund gegangen wird, können sie Einzug in die Therapie halten und zu deren Optimierung führen. Davon würden besonders Frauen profitieren. Insbesondere in der Pharmakotherapie sind Frauen durch den medizinischen Gender Data Gap bislang deutlich benachteiligt. Die Sex- und Gendermedizin ist hier als junger Zweig der medizinischen Wissenschaften noch ausbaufähig und gewinnt zunehmend an Bedeutung. Zum einen ist es wichtig, das biologische Geschlecht vom sozialen Geschlecht abzugrenzen, zum anderen müssen auch gesellschaftliche Geschlechterrollen und entsprechende Verhaltensweisen in der medizinischen Forschung und der Therapie Berücksichtigung finden, da sie bezüglich Physiologie, Pathophysiologie und Pharmakotherapie in Wechselwirkung stehen. |

 

Literatur

[1] Informationen der München Klinik gGmbH. Der große Unterschied. Frauen zeigen manchmal andere Symptome als Männer und brauchen nicht selten eine andere Therapie. www.muenchen-klinik.de/gendermedizin-frau/ (letzter Aufruf: 10. November 2023)

[2] Kaczmarczyk G. Das Geschlecht macht den Unterschied. Eine Einführung in die Gender-Medizin 2014, www.aerztinnenbund.de/downloads/3/FR.Gendermedizin.pdf

[3] Seeland, U. Kommentar zu „Schlaganfall: Fehl- und Totgeburten als Risikofaktoren?“ Dtsch Med Wochenschr 2022;147

[4] Dance A. Gendermedizin: Übeltäter Immunsystem. Spektrum.de, www.spektrum.de/magazin/gendermedizin-uebeltaeter-immunsystem/2083152

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[8] Schreiner C. Frauen werden bis heute oft überdosiert. Saarbrücker Zeitung 19. Februar 2023, www.saarbruecker-zeitung.de/saarland/hochschule/universitaetsklinikum-homburg-will-zentrum-fuer-gendermedizin-gruenden_aid-84849285

[9] Tertilt M. Gendermedizin: Warum Männer und Frauen unterschiedlich behandelt werden müssen. Planet Wissen, Stand 6. Dezember 2021, www.planet-wissen.de/gesellschaft/medizin/gendermedizin-100.html

[10] Greuter T et al. Gender Differences in Inflammatory Bowel Disease. Digestion 2020;101 Suppl 1:98-104, doi: 10.1159/000504701. Epub 29. Januar 2020

[11] Regitz-Zagrosek V, Gebhard C. Gender medicine: effects of sex and gender on cardiovascular disease manifestation and outcomes. Nat Rev Cardiol 2023;20(4):236-247, doi: 10.1038/s41569-022-00797-4, Epub 31. Oktober 2022

[12] Mauvais-Jarvis F et al. Sex and gender: modifiers of health, disease, and medicine. Lancet. 2020;396(10250):565-582, doi: 10.1016/S0140-6736(20)31561-0, Erratum in: Lancet 2020;396(10252):668

[13] Bartz D et al. Clinical Advances in Sex- and Gender-Informed Medicine to Improve the Health of All: A Review. JAMA Intern Med 2020;180(4):574-583, doi: 10.1001/jamainternmed.2019.7194

[14] Crispino P et al. Gender Differences and Quality of Life in Parkinson‘s Disease. Int J Environ Res Public Health 2020;18(1):198, doi: 10.3390/ijerph18010198

[15] Rushovich T et al. Adverse Drug Events by Sex After Adjusting for Baseline Rates of Drug Use. JAMA Netw Open 2023;6(8):e2329074. doi:10.1001/jamanetworkopen.2023.29074

[16] Lee KMN et al. Gender Hypothesis of sex disparities in adverse drug events. Soc Sci Med 2023;339:116385, doi: 10.1016/j.socscimed.2023.116385, Epub 8. November 2023


Dr. Antje Jelinek
redaktion@daz.online


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