Todesstrafe in den USA

Hinrichtung mit Stickstoff: ein Experiment am Menschen?

Stuttgart - 25.01.2024, 07:00 Uhr

Zahlreiche US-Bundesstaaten halten nach wie vor an der Todesstrafe fest, hier der Hinrichtungsraum in Gefängnis von Huntsville, Texas. (picture alliance / Bernd Obermann)

Zahlreiche US-Bundesstaaten halten nach wie vor an der Todesstrafe fest, hier der Hinrichtungsraum in Gefängnis von Huntsville, Texas. (picture alliance / Bernd Obermann)


Das Thema Todesstrafe hat es mal wieder in die Schlagzeilen geschafft. Hintergrund ist die für heute angesetzte Hinrichtung im US-Bundesstaat Alabama mit Stickstoff, einer bislang unerprobten Methode. Wir haben uns angesehen, wie das eigentlich funktionieren soll. Warum dieses „Experiment“ heftig kritisiert wird und warum der in diesem Kontext verwendete Begriff „Stickstoffhypoxie“ Experten zufolge Nonsens ist.

Die Zahl der Länder, die die Todesstrafe vollständig abgeschafft haben, steigt Zahlen von Amnesty International zufolge seit Jahren. So hatten Ende 2022 weltweit insgesamt 112 Länder die Todesstrafe vollständig aufgegeben. Auf der Liste der Nationen, die weiter daran festhalten, finden sich Staaten wie China, Iran, Saudi-Arabien – und die USA. In den Vereinigten Staaten haben bislang lediglich 23 von 50 Bundesstaaten die Todesstrafe offiziell abgeschafft. In einigen Bundesstaaten ist sie zwar noch vorgesehen, wird aber nicht mehr vollstreckt.

Überblick über US-Bundesstaaten mit Todesstrafe

Zudem sind auch auf Bundesebene Hinrichtungen möglich. 2014 hatte der damalige US-Präsident Barack Obama zwar alle geplanten Hinrichtungen auf Bundesebene unbefristet aussetzen lassen. Man wollte die Methoden überprüfen lassen. Hintergrund war, dass es einige unschöne Zwischenfälle gegeben hatte. Weil sich zunehmend Pharmafirmen weigerten, die benötigten Arzneimittel zu liefern, wurde mit nicht-erprobten Mischungen experimentiert. 2019 war aber unter der Präsidentschaft von Donald Trump die Aussetzung wieder aufgehoben worden. Die Untersuchungen seien abgeschlossen und es solle wieder vollstreckt werden, hieß es. Erstmalig seit 2003 wurden wieder Exekutionen auf Bundesebene durchgeführt. Der aktuelle US-Präsident Joe Biden hat dann im Jahr 2021 Hinrichtungen auf Bundesebene vorerst wieder ausgesetzt. Er befürwortet die grundsätzliche Abschaffung. Derzeit finden also nur Exekutionen statt, die in die Verantwortung der einzelnen Staaten fallen.

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Die mit am häufigsten angewendete Methode ist die Injektion, auch bekannt als Giftspritze. Seit 1976 wurden von insgesamt 1582 Hinrichtungen 1402 auf diese Weise vollstreckt. In zahlreichen Staaten ist sie als ausschließliches oder zumindest als primäres Verfahren vorgesehen. Dabei kam in den meisten Staaten ein tödlicher „Cocktail“ aus drei Wirkstoffen zum Einsatz: ein Narkotikum, zum Beispiel Thiopental oder Propofol, ein Muskelrelaxans, wie Pancuronium, Vecuronium oder Tubocurarin, sowie Kaliumchlorid.

Was ist in den Giftspritzen?

Im ersten Schritt soll ein Narkotikum den Todeskandidaten bewusstlos machen. Die Dosis ist oft so hoch, dass sie bereits allein tödlich sein kann. Einzelne Staaten verabreichen auch nur diese Spritze. Zum Einsatz kommen hier meist Barbiturate, vor allem Thiopental. Wie alle Barbiturate wirkt es über eine Aktivierung der inhibitorisch wirkenden GABAA-Rezeptoren im zentralen Nervensystem. In niedriger Dosis verlängern die Barbitursäurederivate lediglich die Bindung des natürlichen Liganden, der γ-Aminobuttersäure (GABA), in höherer Dosierung aktivieren sie zusätzlich selbst den Chloridkanal. In der Folge wird die Erregbarkeit der jeweiligen Zelle herabgesetzt. Die Wirkung ist dosisabhängig, von sedierend über hypnotisch bis zu narkotisch.

Seit aus Europa kein Thiopental mehr für Hinrichtungen geliefert werden darf, griffen US-Behörden in den letzten Jahren zunächst vermehrt auf das verwandte Pentobarbital zurück. Propofol ist eine mögliche Alternative zu den Barbituraten.

Die zweite Komponente der letalen Injektion ist ein Muskelrelaxans. Die Substanzen lähmen neben den Skelettmuskeln auch die Atemmuskulatur. Ist der Verurteilte bei Bewusstsein, erstickt er qualvoll. Zum Einsatz kommen hier nicht-depolarisierende Muskelrelaxanzien wie Pancuronium, Vecuronium und Tubocurarin sowie Suxamethonium, das zu den depolarisierenden Substanzen zählt. Erstere sind kompetitive Antagonisten, das heißt, sie konkurrieren mit dem natürlichen Liganden Acetylcholin um die nicotinischen Acetylcholinrezeptoren der postsynaptischen Membran und verhindern so deren Aktivierung. In der Folge kommt es zur Muskelerschlaffung. Sie haben selber keine intrinsische Wirkung.

Suxamethonium hingegen wirkt als Agonist an den Acetylcholinrezeptoren der motorischen Endplatte. Die Substanz ruft eine Dauerdepolarisation hervor, die ebenfalls zur Muskellähmung führt. Im Gegensatz zu den nicht-depolarisierenden Muskelrelaxanzien kann die Wirkung von Suxamethonium nicht durch Cholinesterase-Inhibitoren wie Neostigmin aufgehoben werden.

Bestandteil Nummer drei ist Kaliumchlorid. Hohe Dosen führen zum Herzstillstand, da extrazelluläre Kaliumspiegel ab 10 mmol/l das Membranpotential umkehren. Es ist dann stark positiv. Die Zelle kann nach einem Aktionspotenzial nicht mehr repolarisieren.

Allerdings gibt es schon seit Jahren Schwierigkeiten, die benötigten Arzneimittel zu beschaffen. Pharmafirmen weigern sich, Präparate für diesen Zweck zur Verfügung zu stellen. Zudem tobt ein juristischer Streit, inwiefern die Zulassungsbehörden involviert sein müssen. Das bewegt die ausführenden Behörden zu Experimenten. Zum einen werden unerprobte Wirkstoffe bzw. Wirkstoffkombinationen eingesetzt. So experimentieren die US-Behörden teils mit Giftcocktails, zum Beispiel aus dem Benzodiazepin Midazolam und dem Opioid Hydromorphon. Oder es werden „compounded“ Substanzen verwendet, die extra für diesen Zweck von bestimmten Apotheken, den „Compounding Pharmacies“ hergestellt werden. Hier gab es aber mangels stattlicher Regulierung immer wieder ernsthafte Qualitätsbedenken. Laut einem Bericht der Berliner Morgenpost von vor einigen Jahren ist dies aber ein lohnendes Geschäft: So soll ein Hersteller in Kalifornien dem zuständigen Justizministerium 200 Gramm einer bestimmten Substanz für 500.000 Dollar angeboten haben. Auch auf Stoffe unlizenzierter Hersteller aus Indien soll zurückgegriffen werden, schrieb die Berliner Morgenpost weiter. Regelmäßig würden Lieferungen zuletzt durch die Drogenfahndung und die FDA abgefangen.

Und nun kommt Stickstoff...

Aufgrund der Beschaffungsschwierigkeiten bei den Komponenten für die Todesspritze haben einige Staaten „alte“ Exekutionsmethoden, wie den elektrischen Stuhl, wieder als Alternative zugelassen. Andere hingegen setzen auf neue Verfahren, so zum Beispiel der Staat Alabama. Hier soll am heutigen Donnerstag ein Delinquent mit Stickstoff exekutiert werden, einer Methode, die zwar in zwei weiteren US-Staaten zugelassen ist, aber – vermutlich sogar weltweit – noch nie angewandt wurde.

Dabei soll über eine Gesichtsmaske Stickstoff zugeführt werden. Das öffentlich bekannt gewordene Protokoll ist sehr vage, vieles ist Medienberichten zufolge geschwärzt. Tödlich ist nicht der Stickstoff an sich – schließlich ist das Gas Hauptbestandteil der Atemluft – sondern der Sauerstoffmangel. So kommt es immer wieder zu mitunter tödlichen Unfällen, weil Stickstoff, zum Beispiel aus Stickstofftanks, den Sauerstoff in der Atemluft verdrängt. Fällt der O2-Gehalt unter 11 Prozent, wird es gefährlich. Anders als hohe CO2-Konzentrationen lösen hohe Stickstoff-Konzentrationen kein Erstickungsgefühl und keinen Atemreflex aus, das heißt, sie bleiben unbemerkt. Sie führen schnell zu Bewusstlosigkeit und schließlich zum Tod. Befürworter der Methode führen dies als Pro-Argumente heran.

Methode in der Tiermedizin veraltet

Die Kritik an der Hinrichtung mittels Stickstoffs ist groß. Zum einen ist die Methode bei Menschen nicht erprobt. Früher wurde sie in der Veterinärmedizin eingesetzt. US-Tierärzte raten aber heutzutage ab. In ihren Richtlinien von 2020 wird die Anwendung von Stickstoff bei Tieren mit Ausnahme von Geflügel als „inakzeptabel“ bezeichnet, weil das Ersticken Panik, Schmerzen und hohen Stress auslöst, bevor der Tod eintritt. In einem Gutachten des Bayerisches Landesamtes für Gesundheit und Lebensmittelsicherheit aus dem Jahr 2006 zum Töten von Tieren im Zoofachhandel und zum Umgang mit Futtertieren in der Terraristik findet sich das Einatmen von Stickstoff unter dem Punkt „Unzulässige sowie veraltete Tötungsmethoden für alle Tierarten“, weil dabei extreme Angstzustände und Krämpfe auftreten.

Bei der „Entwicklung“ der Hinrichtungsmethode waren Enthüllungen des Rechercheportals Marshall Project zufolge auch keine Mediziner beteiligt. Demnach soll das Protokoll basierend auf der Idee eines republikanischen Politikers und ehemaligen Highway Troopers, der auf der Suche nach einem alternativen Verfahren war, von einem Generalstaatsanwalt und zwei weiteren medizinischen Laien geschrieben worden sein. Zwar wurden medizinische Experten um Mitarbeit gebeten, die hätten aber abgelehnt. Das 14-seitige Papier soll bei den Gesetzgebern, dann durchgewinkt worden sein.

„Stickstoff-Hypoxie“: Experten zufolge ein erfundener Begriff

In dem Papier wird der Begriff der „Nitrogen hypoxia“, also Stickstoff-Hypoxie, verwendet. Dieser Begriff ist aber Experten zufolge erfunden. So erklärt Joel Zivot, Professor für Anästhesiologie und Fachmann für tödliche Injektionen, gegenüber dem Guardian: „Hypoxie bedeutet Sauerstoffmangel, das wurde einfach mit dem Begriff Stickstoff kombiniert und das Ganze so genannt. Medizinisch gesehen gibt es so etwas wie Stickstoffhypoxie gar nicht.“

Zudem könnte bei dem Verfahren auch einiges schiefgehen. So schrieb der US-amerikanische Rechts- und Politikwissenschaftler Bernard E. Harcourt, Professor der Columbia University in einem Gastbeitrag in der „New York Times“, dass unter anderem Sauerstoff in die Maske eindringen könnte. Dann würde die Person qualvoll nach Luft ringen und mit schweren zerebralen Schäden überleben, gibt er zu Bedenken. Zudem bestehe auch für das Personal die Gefahr, zu hohen Stickstoffkonzentrationen ausgesetzt zu sein.

Menschenrechtsexperten sprechen von Folter

Menschenrechtsexperten warnen gar, dass es sich um Folter handele. Dafür, dass die Inhalation von reinem Stickstoff keine schwerwiegenden Leiden verursacht, fehlten nach UN-Angaben wissenschaftliche Beweise. „Hier wird an einem Menschen ein Experiment durchgeführt“, mahnt Amnesty International in einer Mitteilung.

Der Kandidat, der mittels Stickstoff-Inhalation hingerichtet werden soll, hat bereits einen missglückten Versuch hinter sich. Dem Gefängnispersonal gelang es damals nicht, den Zugang zu legen. Nach mehreren Stunden, in denen er angeschnallt auf einem Exekutionstisch lag, wurde er wieder in seine Zelle gesperrt.


Julia Borsch, Apothekerin, Chefredakteurin DAZ
jborsch@daz.online


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