Ein Fall für die Medikationsanalyse

Welche Arzneimittel erhöhen das Sturzrisiko?

Stuttgart - 18.03.2024, 17:51 Uhr

Achtung, Sturzgefahr! Medikamente können das Risiko, zu stürzen, auf unterschiedliche Weise erhöhen. (Foto: Sir_Oliver/AdobeStock)

Achtung, Sturzgefahr! Medikamente können das Risiko, zu stürzen, auf unterschiedliche Weise erhöhen. (Foto: Sir_Oliver/AdobeStock)


Wer im Alter stürzt, findet sich mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit kurz darauf im Pflegeheim wieder. Denn Stürze können neben den unmittelbaren gesundheitlichen Folgen, beispielsweise in Form von Frakturen, auch dadurch bedingte, erheb­liche Auswirkungen auf die Unabhängigkeit der Lebensführung haben. Sie sollten daher tunlichst vermieden werden, wobei vielfältige Maßnahmen bei der Sturzprophylaxe von Bedeutung sind. Ein besonderes Augenmerk gilt bestimmten Arzneistoffen, die das Sturzrisiko er­höhen. Um potenzielle medikamentöse Stolperfallen zu identifizieren, ist die pharmazeutische Expertise gefragt. Idealerweise schließt sich ein Deprescribing der sturzfördernden Arzneimittel an.

Seit mehreren Jahren hält sich die epidemiologische Erkenntnis, dass schätzungsweise jeder Dritte der über 65-Jährigen mindestens einmal pro Jahr stürzt [1, 2]. Ebenso ist bekannt, dass die Sturzinzidenz mit zunehmendem Alter weiter steigt. Bei den Senioren über 80 kommt schon jeder Zweite jährlich zu Fall. Die genannten Sturzraten beziehen sich dabei wohlgemerkt auf Personen, die im häuslichen Umfeld, also weitestgehend selbstständig, leben. Drama­tischer sieht die Situation bei Pflegeheimbewohnern aus. Hier soll mehr als jeder Zweite mindestens einmal jährlich einen Sturz erleiden, mit deutlicher Tendenz zu mehreren Sturzereignissen pro Person und Jahr [3]. Schätzungen zufolge verzeichnet man jedes Jahr in Deutschland insgesamt fünf bis sechs Millionen Stürze bei älteren Personen [4]. Frauen stürzen dabei häufiger als Männer gleichen Alters [4] und erfahren eher sturzbedingte Verletzungen [5]. Insbesondere Personen mit Pflegebedarf haben ein hohes Frakturrisiko [6].

POP-Fall und AMTS-Spezial

Begleitend zu den POP-Fällen greifen wir immer einen aus Sicht der Arzneimitteltherapiesicherheit interessanten Aspekt heraus, der vertiefend im „AMTS-Spezial“ dargestellt wird. Im aktuellen POP-Fall „Eine Patientin mit ständiger Müdigkeit nach Klinikaufenthalt” in der DAZ 2024, Nr. 10, S. 51, haben Ihnen Peggy Pölzing, Susanne Erzkamp, Dolf Hage, Dorothee Dartsch und Olaf Rose eine 70-jährige Patientin vorgestellt, die nach einem überstandenen Status epilepticus und nachfolgendem Krankenhausaufenthalt über ständige Müdigkeit und mangelnde Belastbarkeit klagt. Zusätzlich berichtet sie von Gangunsicherheit und zahlreichen Stürzen. Eine Analyse der Medikation ergab, dass die Patientin insgesamt sieben Wirkstoffe einnahm, die zu einem erhöhten Sturzrisiko beitragen können. Unser AMTS-Spezial behandelt daher Sturzneigung als Nebenwirkung von Arzneimitteln.

Sturzfolgen oft schwerwiegend

Etwa jeder zehnte Sturz führt bei Senioren zu Knochen­brüchen und sonstigen schwerwiegenden Verletzungen [7]. Damit gehen Krankenhaus- und zum Teil Reha-Aufenthalte, funktions- und mobilitätseinschränkende Behinderungen und Pflegebedürftigkeit bis hin zur Aufnahme in ein Pflegeheim einher. In einer Untersuchung aus Deutschland konnte gezeigt werden, dass 15% aller weiblichen und 11,8% aller männlichen Hüftfrakturpatienten innerhalb von sechs Monaten nach Entlassung aus dem Krankenhaus in ein Pflegeheim aufgenommen wurden [8]. Je älter die Patienten bei dem Ereignis waren, umso wahrscheinlicher wurde die Institutionalisierung. Schlimmstenfalls kann ein Sturzgeschehen auch zum Tode führen. Erwähnenswert ist, dass Stürze der Hauptgrund für verletzungsbedingte Sterblichkeit und Hospitalisierung bei älteren Menschen sind [9].

Hohe Folgekosten für das Gesundheitssystem

Stürze und ihre Folgen haben auch eine immens hohe sozioökonomische Relevanz und stellen ein echtes gesellschaft­liches Problem dar. Beispielsweise ermittelte man für das Jahr 2015 sturzassoziierte Gesamtkosten in Höhe von 49,5 Milliarden Dollar für das US-amerikanische Gesundheitswesen und betrachtete dabei nur die nicht-tödlichen Vorfälle [10]. Experten schätzen die bundesweit durch Stürze entstehenden Kosten auf mehr als drei Milliarden Euro pro Jahr, wobei die Prognose aufgrund der demografischen Alterung der Gesellschaft steigend ist [6].

Ein Teufelskreis beginnt

Nicht zuletzt kann ein Sturzereignis, auch wenn es vordergründig folgenlos blieb, den Betroffenen beschämen, nachhaltig verunsichern und seine Lebensqualität schmälern. So entwickelten in prospektiven Studien 21 bis 39% der Personen, die vor ihrem Sturz keine Bedenken hatten zu fallen, eine Sturzangst (engl. fear of falling, FOF) [11]. Schnell beginnt dann ein Teufelskreis aus (über)vorsichtigem Verhalten, Meidung von sozialen und körperlichen Aktivitäten, die in einer Einschränkung des Bewegungsradius und einem Verlust an Muskelkraft und Balance münden, weshalb die Fallneigung weiter steigt und konsekutive Stürze resultieren können [11].

Risikofaktor Arzneimittel

Die Ursache eines Sturzereignisses ist oft multifaktoriell bedingt. Im vorliegenden Beitrag soll ausschließlich auf den Einfluss von Medikamenten, die zu einer erhöhten Sturzgefahr führen (engl. fall-risk-increasing drugs, FRIDs), ein­gegangen werden. Hierbei handelt es sich um einen der wichtigsten modifizierbaren Risikofaktoren im Kontext „Sturz“. Eine aktuelle Übersichtsarbeit zur Prävalenz der FRIDs-Einnahme bei verletzungsbedingten Stürzen älterer Personen ergab, dass diese 65 bis 93% betrug [12]. Die Bundesinitiative Sturzprävention (BIS) betont daher folgerichtig in ihren Empfehlungen aus dem Jahr 2020 die große Bedeutung einer regelmäßigen Überprüfung der eingenommenen Medikamente durch den Haus- oder Facharzt [13]. Eine resultierende Anpassung der Medikation soll bei sturzgefährdeten oder bereits gestürzten Personen als ein Baustein von vielen zur Reduktion von (weiteren) Stürzen und ihren Folgen beitragen. Auch in den 2022 publizierten globalen Leitlinien zu Sturzprävention und -management (World guidelines for falls prevention and management for older adults, WFG) ist die Medikamentenüberprüfung ein zentrales Präventions- und Interventionsthema [14].

Sturzfördernde Arzneimittelgruppen

Viele Wissenschaftler und Institutionen haben sich mit der Erstellung von Listen und Instrumenten zur Identifikation sturzfördernder Arzneimittel beschäftigt. Auch berücksichtigen alle gängigen Veröffentlichungen zu potenziell altersinadäquater Medikation (PIM), z. B. die PRISCUS 2.0-Liste (von lat. priscus: alt, [15]), die FORTA-Liste (Fit for the Aged, [16, 17]), die Beers-Listen [18] sowie die STOPP-Kriterien [19], den Aspekt der Sturzgefahr. Aus nationalen und internationalen Veröffentlichungen wurden die in den Tabellen 1 und 2 aufgelisteten Wirkstoffgruppen mit ihren wesentlichen Nebenwirkungen in Bezug auf eine Sturz­gefährdung zusammengetragen. Als besonders problematisch gelten kardiovaskulär wirkende Stoffe, die zu Blutdruckabfall, orthostatischer Dysregulation und Synkopen führen können (z. B. Alphablocker, Nitrate) [22], sowie Wirkstoffe mit Einfluss auf das zentrale Nervensystem, die beispielsweise durch Vigilanzbeeinträchtigung, eingeschränktes Reaktionsvermögen, Sedierung, Schwindel oder Sehstörungen die Fallneigung erhöhen, zum Teil dosisabhängig (z. B. Anticholinergika, Antidepressiva, Anti­psychotika, Sedativa und Opioide) [23]. So wurden in einer Metaanalyse aus dem Jahr 2018 folgende Assoziationen mit einem erhöhten Sturzrisiko ermittelt (unter Angabe der Odds Ratio, OR, sowie des Konfidenzintervalls, KI):

  • Antipsychotika 1,54 (95%-KI: 1,28 – 1,85),
  • Antidepressiva 1,57 (95%-Kl: 1,43 – 1,74) und
  • Benzodiazepine 1,42 (95%-KI: 1,22 – 1,65), wobei langwirksame Benzodiazepine eine deutlich höhere OR aufwiesen als kurzwirksame Benzodiazepine (1,81 versus 1,27) [23].

Bei den Überlegungen sind auch Wechselwirkungen oder Organinsuffizienzen, die zu erhöhten Plasmaspiegeln oder einer Wirkstoffkumulation führen können, sowie Synergismen hinsichtlich der Sturzrisikoerhöhung (z. B. über die anticholinerge Last), zu berücksichtigen. Ebenso sollte darauf geachtet werden, ob womöglich die Blutdruck- und/oder Blutzuckereinstellung zu streng erfolgt, da Hypotonien und Hypoglykämien Stürze begünstigen können.

Tab. 1: Sturzfördernde Arzneimittel gegen Erkrankungen des zentralen Nervensystems. Den Wirkstoffgruppen zugeordnet sind Nebenwirkungen (UAW), über die das Sturzrisiko erhöht werden kann (Wirkstoff-Auswahl, adaptiert nach [15, 20, 21]). EPS: extrapyramidales Syndrom

Wirkstoffesturzbegünstigende UAWHinweise zum Sturzrisiko
Antidepressiva
  • tricyclische Antidepressiva (Amitriptylin, Clomipramin, Doxepin, Imipramin, Trimipramin)
  • selektive Serotonin-Reuptake-Inhibitoren (SSRI)
  • Serotonin-Noradrenalin-Reuptake-Inhibitoren (SNRI)
  • Monoaminoxidase-Hemmer
  • anticholinerge Effekte
  • Delir
  • EPS
  • Gleichgewichtsstörungen
  • Herzrhythmusstörungen
  • Hyponatriämie
  • orthostatische Hypotonie
  • Sedierung
  • Sehstörungen
  • Heraufsetzen der
  • Reaktionszeit
  • tricyclische Antidepressiva > andere Antidepressiva
  • Risiko abhängig von sedierenden und anticholinergen Eigenschaften der Antidepressiva und der Auslösung orthostatischer Hypotonie
Antiepileptika
  • Carbamazepin
  • Clonazepam
  • Gabapentin
  • Phenobarbital
  • Phenytoin
  • Pregabalin
  • Topiramat
  • Diplopie (Doppelsehen)
  • EPS
  • Gleichgewichtsstörungen, Schwindel
  • Hyponatriämie
  • kognitive Beeinträchtigung, Verwirrtheit
  • Sedierung, Somnolenz
  • Unruhe
  • Antiepileptika der älteren Generation > Antiepileptika neuerer Generation
  • Risiko abhängig von sedierenden Eigenschaften der Antiepileptika
Antipsychotika
  • Amisulprid
  • Clozapin
  • Fluphenazin
  • Haloperidol
  • Levomepromazin
  • Olanzapin
  • Perazin
  • Perphenazin
  • Risperidon
  • Thioridazin
  • anticholinerge Effekte (z. B. verschwommenes Sehen)
  • Delir, Verwirrtheit
  • EPS
  • Herzrhythmusstörungen
  • Hyponatriämie
  • orthostatische Hypotonie
  • Schwindel
  • Sedierung, Somnolenz
Risiko abhängig von sedierenden und anticholinergen Eigenschaften der Anti­psychotika und ihrer Wirkung auf Alpha-Adrenozeptoren
Anxiolytika / Hypnotika
  • Benzodiazepine
  • Z-Substanzen
  • Delir
  • EPS
  • Gleichgewichtsstörungen, Schwindel
  • Muskelschwäche, Ataxie
  • orthostatische Hypotonie
  • Sedierung
  • Sehstörungen
  • langwirksame Benzodiazepine > kurzwirksame
  • dosisabhängige Zusammenhänge­beachten
  • Risiko besonders zu Therapiebeginn und bei Dosisänderung erhöht


Tab. 2: Sturzfördernde Arzneimittel gegen weitere Erkrankungen. Den Wirkstoffgruppen zugeordnet sind Nebenwirkungen (UAW), über die das Sturzrisiko erhöht werden kann (Wirkstoff-Auswahl, adaptiert nach [15, 20, 21]).

Wirkstoffesturzbegünstigende UAWHinweise zum Sturzrisiko
Alpha-Adrenorezeptor-Blocker (als Antihypertensiva)
  • Doxazosin
  • Terazosin
  • Urapidil
  • Asthenie (Schwächegefühl)
  • Herzrhythmusstörungen
  • orthostatische Hypotonie
  • Schlafstörungen
  • Schwindel
  • verschwommenes Sehen
  • Synkopen
 
Alpha-Adrenorezeptor-Blocker (bei Prostatahyperplasie)
  • Alfuzosin
  • Doxazosin
  • Tamsulosin
  • Terazosin
  • orthostatische Hypotonie
  • Schwindel
  • Sehstörungen
  • Somnolenz
  • Synkopen
nicht-selektive Alpha-Blocker > selektive Alpha-Blocker
Anticholinergika
  • urologische Spasmolytika (nicht retardiertes Tolterodin, Oxybutynin, Propiverin, Solifenacin, etc.)
  • H1-Antihistaminika (Dimenhydrinat, Diphenhydramin, Doxylamin)
  • Scopolamin
  • Anti-Parkinsonmittel
  • Delir, Verwirrtheit
  • Konzentrationsstörungen, kognitive Beeinträchtigung
  • Schwindel
  • Sedierung
  • verschwommenes Sehen
  • Tachykardie
  • hohe > schwache anticholinerge Last
  • H1-Antihistaminika der 1. Generation > 2. Generation
  • Risiko abhängig von sedierenden und anticholinergen Eigenschaften der H1-Antihistaminika
Antihypertensiva (zentral wirkend)
  • Clonidin
  • Methyldopa
  • Moxonidin
  • Asthenie (Schwächegefühl)
  • Herzrhythmusstörungen
  • kognitive Beeinträchtigung
  • orthostatische Hypotonie, Synkopen
  • Schwindel
  • Schlafstörungen
  • Somnolenz, Sedierung
 
Diuretika
 
  • Elektrolytstörungen
  • orthostatische Hypotonie, Hypovolämie, Synkopen
  • Schwindel
  • Sedierung
  • Schleifendiuretika > andere Diuretika
  • Risiko durch überstürzte Toilettengänge
  • Einnahmezeitpunkt überprüfen
Opioide
 
  • Asthenie, muskuläre Probleme (z. B. Rigidität/Muskelstarre)
  • Delir, Verwirrtheit
  • orthostatische Hypotonie
  • Schwindel
  • Sedierung, Somnolenz
  • Sehstörungen
starke Opioide > schwache Opioide (wobei eine niedrige Dosis eines starken Opioids womöglich besser toleriert wird als eine hohe Dosis eines schwachen Opioids)
Vasodilatatoren (bei Herzerkrankungen)
  • ACE-Hemmer
  • AT1-Antagonisten
  • Calcium-Antagonisten (Diltiazem, Amlodipin, unretardiertes Nifedipin)
  • Dihydralazin
  • Minoxidil
  • Molsidomin
  • Nitrate
  • Herzrhythmusstörungen
  • Hypotonie, auch orthostatische, Synkopen
  • Schwindel
  • Somnolenz
 

 

Therapie zeitlich befristen, niedrig dosieren und regelmäßig hinterfragen

Schon vor der Verordnung eines potenziell sturzfördernden Arzneimittels sollte laut globaler Leitlinie das individuelle Sturzrisiko des älteren Patienten und seine Sturzhistorie ermittelt werden (Empfehlungsgrad 1B) [14]. Es gilt, anhand dieser Erkenntnisse die Risiken des Einsatzes gegenüber dem Nutzen streng abzuwägen sowie, sofern umsetzbar, auf eine zeitlich befristete Dauer der Verordnung und die niedrigste wirksame Dosierung zu achten. Wenn möglich, sollten sicherere (nicht-)medikamentöse Alternativen in Betracht gezogen werden.

Eine kritische Auseinandersetzung mit sturzbegünstigenden Arzneimitteln bei älteren Menschen ist aber nicht nur bei Neuverordnungen erforderlich. Da es sich dabei um einen wichtigen Bestandteil der Sturzprävention handelt, fordern die Autoren der Leitlinie, proaktive Medikationsanalysen mit dem Fokus auf FRIDs regelmäßig durch­zuführen. Bei der Bestandsaufnahme sollte die Medikation des Patienten konsequent und strukturiert auf das Vorhandensein von FRIDs, deren medizinische Notwendigkeit beziehungsweise Indikation und Dosierung überprüft werden (Empfehlungsgrad 1B) [14]. Ein Deprescribing der identifizierten sturzkritischen Wirkstoffe ist dabei anzustreben, besonders bei Pflegeheimbewohnern (Vorgehensweise siehe Abb.). Es wird empfohlen, die Überprüfung mindestens einmal jährlich, bei gebrechlichen Personen sogar halbjährlich durchzuführen und die Patienten­charakteristika (z. B. Gebrechlichkeit, Komorbiditäten, Lebenserwartung) sowie -präferenzen einzubeziehen. Die Autoren empfehlen, bei der Medikationsanalyse validierte Screeninginstrumente zu nutzen (Empfehlungs­-grad 1C) [14].

Deprescribing ja, Umsetzung fraglich

Als ein solches Beispiel wird STOPP-Fall (Screening Tool of Older Persons Prescriptions in older adults with high fall risk) genannt. Es wurde von einer Arbeitsgruppe der Europäischen Gesellschaft für Geriatrie (European Geriatric Medicine Society, EuGMS) entwickelt und umfasst vierzehn sturzbegünstigende Arzneistoffgruppen [20]. Nutzern eines darauf aufbauenden Online-Tools [24] werden hilfreiche Empfehlungen zum Deprescribing der jeweiligen Wirkstoffklassen genannt. Zum Beispiel, ob und wenn ja, wie ein ausschleichendes Absetzen erfolgen soll und welche Monitoringmaßnahmen empfehlenswert sind.

Deprescribing-Bestrebungen waren jedoch in der Vergangenheit häufig schwer in die Praxis umzusetzen, dies wurde auch bei sturzgefährdeten Patienten gezeigt [25]. In einer Befragung unter europäischen Geriatern zum Thema Deprescribing wurden die mangelnde Bereitschaft der Patienten, etwas zu ändern, die Angst der Mediziner vor negativen Konsequenzen für die Gesundheit ihrer Patienten, Zeitmangel und eine schlechte Kommunikation zwischen mehreren Verordnern als Hauptgründe für das Scheitern eines an sich als sinnvoll erachteten Konzeptes genannt [26]. Immerhin stimmten etwa 90% der antwortenden Ärzte der Aussage zu, dass in dieser Angelegenheit ein Paradigmenwechsel sowohl bei den Verordnern als auch bei den Patienten erforderlich sei und dass die möglichen Vorteile des Absetzens potenziell ungeeigneter Medikamente stärker in den Vordergrund gerückt werden sollten [26]. Sturzexperten raten daher, den Patienten bei den geplanten Interventionen (Medikationsüberprüfung und Deprescribing) eng einzubinden, um die Akzeptanz zu erhöhen [21].

Abb: Vorgehen beim Deprescribing von sturzfördernden Arzneimitteln (fall-risk-increasing drugs, FRIDs). Es gilt, die Indikation zu überprüfen, ein Absetzen, Alternativen oder eine Dosisreduktion in Erwägung zu ziehen und bei den Entscheidungen den Patienten mit einzubeziehen [29].

Ressourcen für Apotheker

Hilfreich können neben der Nutzung von STOPP-Fall und weiterer Listen einige, aber nicht alle, Impulse der STEADI-Rx-Initiative (Stopping Elderly Accidents, Deaths and Injuries) des US-amerikanischen Centers for Disease Control and Prevention sein. Sie richtet sich gezielt an Offizin-Apotheker [27]. Über die Eingabe des Webcodes R8VJ6 auf DAZ.online gelangen Sie zu der Initiative. Gemeinsam mit der Universität von North Carolina wurde ein dreistufiger Algorithmus entwickelt, nach dem Apotheker im ersten Schritt ältere Patienten auf das Vorliegen eines Sturzrisikos untersuchen sollen, sich im zweiten Schritt eine Medikationsanalyse anschließt und im dritten Schritt das weitere Vorgehen zur Reduktion der identifizierten Risiken mit den behandelnden Ärzten koordiniert wird.

Die Zielgruppe der Intervention sind ältere Patienten mit Polypharmazie oder diejenigen mit einem Sturzereignis. Ihnen sollte zunächst vermittelt werden, weshalb es wichtig ist, sich um das Thema Sturzprophylaxe zu kümmern und dass Apotheker geeignete Ansprechpartner dafür sind. Für das initiale Sturzscreening in der Apotheke sollen die folgenden drei Fragen genutzt werden, die auch bei der Ansprache älterer Patienten hierzulande geeignet erscheinen:

  1. „Sind Sie im vergangenen Jahr gestürzt?“ (Falls ja: „Wie oft?“ und „Haben Sie sich dabei verletzt?“)
  2. „Fühlen Sie sich beim Stehen oder Gehen unsicher?“
  3. „Haben Sie Angst vor Stürzen?“

Bejaht der Patient eine der drei Fragen, wird ein erhöhtes Sturzrisiko angenommen und es empfiehlt sich die Durchführung einer Medikationsanalyse mit dem Fokus auf sturzfördernden Arzneistoffen. Ergänzend kann zur Abklärung von orthostatischen Dysregulationsstörungen gefragt werden, ob sich der Patient schon einmal nach einem Positionswechsel vom Liegen ins Sitzen oder vom Sitzen ins Stehen schwindelig oder benommen gefühlt hat.

Um die Verordner über die Ergebnisse der Medikationsanalyse in Kenntnis zu setzen und das weitere Vorgehen abzustimmen, haben die Initiatoren der STEADI-Rx-Initiative standardisierte Vordrucke entwickelt. Apotheker können so schriftlich darüber informieren, dass bei einem Patienten ein erhöhtes Sturzrisiko vorliegen könnte und dass bei der Medikationsanalyse konkrete Arzneistoffe identifiziert wurden, die diesbezüglich problematisch sind. Apotheker haben die Möglichkeit, auf dem Formular Vorschläge zur Risikoreduktion zu empfehlen, beispielsweise den Austausch von Wirkstoffen, eine Dosisreduktion oder ein (schrittweises) Absetzen. Ärzte werden gebeten, das Dokument an die Apotheke zurückzusenden und anzukreuzen, welche therapeutischen Schritte sie unternehmen werden. Zum Beispiel, ob sie den oder die Vorschläge annehmen, ablehnen oder mit dem Patienten diskutieren werden.

Eine erste Auswertung unter 65 teilnehmenden Apotheken der STEADI-Rx-Initiative in North Carolina lieferte jedoch ernüchternde Ergebnisse hinsichtlich der Akzeptanz des pharmazeutischen Konsils [28]: Bei 1373 durchgeführten Medikationsanalysen sturzgefährdeter Patienten wurde bei einem Viertel der Patienten (27%) mindestens eine medikamentenbezogene Empfehlung an den Verordner übermittelt. Insgesamt wurden 716 spezifische Hinweise zu sturz­fördernden Medikamenten durch die Apotheker gegeben. Doch nur etwa 15% der kontaktierten Verordner planten, eine Medikationsänderung auf Basis der pharmazeutischen Vorschläge durchzuführen, etwas mehr als die Hälfte stufte die Informationen aber als hilfreich ein.

 

Literatur

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 [2] Tinetti ME et al. Risk factors for falls among elderly persons living in the community. N Engl J Med 1988;319(26):1701-7, doi: 10.1056/NEJM198812293192604

 [3] Tinetti ME et al. Risk factors for falls among elderly persons living in the community. N Engl J Med 1988;319(26):1701-7, doi: 10.1056/NEJM198812293192604

 [4] Tinetti ME et al. Risk factors for falls among elderly persons living in the community. N Engl J Med 1988;319(26):1701-7, doi: 10.1056/NEJM198812293192604

 [5] Centers for Disease Control and Prevention (CDC). Self-reported falls and fall-related injuries among persons aged > or =65 years–United States, 2006. MMWR Morb Mortal Wkly Rep 2008;57(9):225–9

 [6] Liener UC et al. Weißbuch Alterstraumatologie. Stuttgart: W. Kohlhammer GmbH; 2018

 [7] Tinetti ME. Clinical practice. Preventing falls in elderly persons. N Engl J Med. 2003;348(1):42-9, doi: 10.1056/NEJMcp020719

 [8] Rapp et al. Risk of Nursing Home Admission After Femoral Fracture Compared With Stroke, Myocardial Infarction, and Pneumonia. J Am Med Dir Assoc 2015;16(8):715.e7-715.e12, doi: 10.1016/j.jamda.2015.05.013

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[12] Hart LA et al. Use of fall risk-increasing drugs around a fall-related injury in older adults: a systematic review. J Am Geriatr Soc. 2020;68(6):1334–43, doi: 10.1111/jgs.16369

[13] Gross M et al. Empfehlungspapier für das körperliche Training zur Sturzprävention als Einzelangebot bei älteren, zu Hause lebenden Menschen. physioscience 2020;16(04):176–183, doi: 10.1055/a-1275-7716

[14] Montero-Odasso M et al. World guidelines for falls prevention and management for older adults: a global initiative. Age and Ageing 2022;51:1–36, doi: 10.1093/ageing/afac205

[15] Mann NK et al. Potentially inadequate medications in the elderly: PRISCUS 2.0—first update of the PRISCUS list. Dtsch Arztebl Int 2023;120: 3–10, doi: 10.3238/arztebl.m2022.0377

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[17] Online-Suchfunktion für die FORTA-Liste: forta.umm.uni-heidelberg.de (Stand 26.Februar 2024)

[18] American Geriatrics Society Beers Criteria Update Expert Panel. American Geriatrics Society 2023 updated AGS Beers Criteria for potentially inappropriate medication use in older adults. J Am Geriatr Soc. 2023; 71(7): 2052-2081. doi:10.1111/jgs.18372

[19] O‘Mahony D et al. STOPP/START criteria for potentially inappropriate prescribing in older people: version 3. Eur Geriatr Med 2023;14(4):625-632. doi: 10.1007/s41999-023-00777-y

[20] Seppala LJ et al. STOPPFall (Screening Tool of Older Persons Prescriptions in older adults with high fall risk): a Delphi study by the EuGMS Task and Finish Group on Fall-Risk-Increasing Drugs. Age Ageing 2021;50(4):1189–1199, doi: 10.1093/ageing/afaa249

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[23] Seppala LJ et al. Fall-risk-increasing drugs: A systematic review and meta-analysis: II. Psychotropics. J Am Med Dir Assoc 2018; 19(4):371.e11-371.e17, doi: 10.1016/j.jamda.2017.12.098

[24] Online-Tool zur Anwendung des STOPP-Fall-Screeninginstruments: kik.amc.nl/falls/decision-tree/

[25] Seppala LJ et al. Medication reviews and deprescribing as a single intervention in falls prevention: a systematic review and meta-analysis. Age Ageing 2022;51(9):afac191, doi: 10.1093/ageing/afac191

[26] van Poelgeest EP et al. Deprescribing practices, habits and attitudes of geriatricians and geriatricians-in-training across Europe: a large web-based survey. Eur Geriatr Med 2022;13(6):1455–66, doi: 10.1007/s41999-022-00702-9

[27] Ferreri SP et al. STEADI-Rx Older Adult Fall Prevention Guide for Community Pharmacists. Atlanta, GA: National Center for Injury Prevention and Control, Centers for Disease Control and Prevention, 2020. www.cdc.gov/steadi/pdf/Steadi-Implementation-Plan-508.pdf

[28] Blalock SJ et al. Impact of STEADI-Rx: A Community Pharmacy-Based Fall Prevention Intervention. J Am Geriatr Soc 2020;68(8):1778–1786, doi: 10.1111/jgs.16459

[29] Seppala LJ et al. EuGMS Task and Finish group on Fall-Risk-Increasing Drugs (FRIDs): position on knowledge dis­semination, management, and future research. Drugs Aging 2019;36(4):299–307, doi: 10.1007/s40266-018-0622-7


Apothekerin Dr. Verena Stahl
redaktion@daz.online


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