Im Kommen: Leitlinie zu Diagnostik und Behandlung transidenter Jugendlicher

Gratwanderung Pubertätsblockade

Stuttgart - 03.04.2024, 17:50 Uhr

Geschlechtsinkongruenz wird nicht als Krankheit betrachtet, sondern das damit verbundene subjektive Leiden, die Geschlechtsdysphorie. (Foto: rushay / AdobeStock)

Geschlechtsinkongruenz wird nicht als Krankheit betrachtet, sondern das damit verbundene subjektive Leiden, die Geschlechtsdysphorie. (Foto: rushay / AdobeStock)


In diesem Frühjahr soll eine S2k-Leitlinie zur Diagnostik und Behandlung von Geschlechtsinkongruenz und Geschlechtsdysphorie im Kindes- und Jugendalter erscheinen. Die bereits vorliegende Entwurfsfassung geht ausführlich auf die komplexen Voraussetzungen für medizinische Interventionen wie die Pubertätssuppression ein. 

Manche Menschen haben seit ihrer Kindheit das Gefühl, im „falschen“ Körper zu stecken. Als Trans-Menschen identifizieren sie sich nicht 
– oder nicht nur – mit ihrem „Geburtsgeschlecht“. Transgeschlechtlichkeit wurde traditionell als krankhaft betrachtet, ähnlich wie Homosexualität. Auch Trans-Jugendliche werden oft in der Schule gemobbt, im Gesundheitswesen diskriminiert und sind überdurchschnittlich suizidgefährdet. Zumindest in der medizinischen Fachwelt hat sich in den letzten zwei Jahrzehnten aber ein Paradigmenwechsel im Verständnis der nonkonformen Geschlechtsidentitäten vollzogen. 

Die aktuelle International Classification of Disease (ICD-11) spricht nicht mehr von „Störungen der Geschlechtsidentität“ im Sinne einer psychischen Erkrankung [1]. Sie führt stattdessen die Diagnose der „Geschlechtsinkongruenz“ (GI) ein, die per se nicht als krankheitswertig gilt, gleichwohl medizinische Behandlungen begründen kann, um einen damit einhergehenden Leidensdruck abzuwenden oder zu reduzieren, der als „Geschlechtsdysphorie“ (GD) bezeichnet wird [2].         

In diesem Frühjahr soll eine S2k-Leitlinie zur Diagnostik und Behandlung von GH und GD im Kindes- und Jugendalter erscheinen. 27 beteiligte Fachgesellschaften und zwei Organisationen Betroffener haben sieben Jahre lang die vorhandene Evidenz gesichtet und den weitestmöglichen Konsens erarbeitet. Ende März berichteten Autorinnen und Autoren auf einer Pressekonferenz des Science Media Center Germany über die Entwurfsfassung der Leitlinie [3].   

Transgeschlechtlichkeit ist kein neues Phänomen

In Publikumsmedien wird teils reißerisch zum Thema transidenter Jugendlicher berichtet. Tatsächlich ist die Zahl der medizinisch Behandelten gering. In Leistungs- und Diagnosedaten amerikanischer Versicherter beträgt der Anteil von transgeschlechtlichen Personen 0,02 % bis 0,08 %. Studien, die einen Transgender-Status durch Selbstauskünfte abfragten, berichten wesentlich höhere Anteile: zwischen 0,3 % und 0,5 % bei Erwachsenen und 1,2 % bis 2,7 % bei Jugendlichen. Einige Aufmerksamkeit erregte der Umstand, dass die Behandlungszahlen transidenter Menschen ansteigen, allerdings gilt dies nicht nur für Jugendliche: Laut Barmer Ersatzkasse stieg die Zahl neu begonnener hormoneller Behandlungen von unter 18-Jährigen mit Geschlechtsinkongruenz zwischen 2014 und 2019 auf das 3,2-Fache (von ca. 330 auf ca. 1060) und bei Erwachsenen bis 30 Jahre auf das 3,5-Fache (von ca. 510 auf ca. 1800). 

Experten führen dies einerseits auf die Verbesserung fachgerechter Versorgungsangebote zurück, andererseits auf eine zunehmende gesellschaftliche Offenheit für transgeschlechtliche Lebenswege. „Die Kinder und Jugendlichen mit Geschlechtsinkongruenz sind ja da, sie waren schon immer da, aber es gab früher keine Anlaufstellen. Jetzt gibt es sie, und auch im Klientel in der kinder- und jugendpsychiatrischen und  -psychologischen Versorgung sind sie anzutreffen“, sagte Dr. Dagmar Pauli, Chefärztin und medizinische Leiterin der Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie, Psychiatrische Universitätsklinik Zürich.

Pubertätsblocker nur für kleine Gruppe 

„In der Gruppe der Transmenschen ist es eine ganz kleine Untergruppe, die wir überhaupt mit Pubertätsblockern behandeln [...]. Das sind die, die diese Geschlechtsinkongruenz schon früh geäußert haben, und zwar konstant über mehrere Jahre und auch intensiv, wo teilweise schon eine soziale Transition im Grundschulalter erfolgt ist […]. Es ist also nicht so, dass wir etwas bahnen, was nicht sowieso schon angelegt gewesen wäre.“ sagte Sabine Maur, psychologische Psychotherapeutin, Vize-Präsidentin der Bundespsychotherapeutenkammer [3].

Identitätsentwicklung verläuft sehr unterschiedlich 

Übergeordnetes Ziel der Leitlinie ist es nach ihren Worten, den Zugang von Kindern und Jugendlichen mit Geschlechtsinkongruenz und/oder Geschlechtsdysphorie zu einer fachgerechten Information und Behandlung auf der Basis wissenschaftlich und ethisch anerkannter Standards zu verbessern und ihnen dadurch eine bestmögliche gesundheitliche Entwicklung zu ermöglichen. Die medizinische Versorgung transgeschlechtlicher Menschen sei eine interdisziplinäre Herausforderung. Die Expertise erfahrener Fachpersonen ist essenziell, denn die Fallzahlen sind gering, und kontrollierte klinische Studien können aus ethischen und praktischen (keine Verblindung möglich) Gründen nicht durchgeführt werden. Kernfragen wie die Abwägung zwischen Wohltun durch eine indizierte Maßnahme und den möglichen Risiken wurden kontrovers diskutiert. Die Entwurfsfassung ist in diesem Punkt sehr ausführlich und enthält viele konsentierte Empfehlungen, im Gegensatz zu bestehenden internationalen Leitlinien, die viel kürzer ausfielen und weniger in die Tiefe gingen, sagte Pauli. Kompliziert ist die Abwägung per se dadurch, dass es innerhalb des bekannten Spektrums von Entwicklungsverläufen sowohl sehr eindeutige Verläufe einer früh erkennbaren, dauerhaft persistierenden ­Geschlechtsinkongruenz (Persistenz) gibt, als auch Verläufe, in denen die Geschlechtsidentität im Jugendalter über einen längeren Zeitraum fluide bleibt und es zur Desistenz (Auflösen) des geschlechtsinkongruenten Empfindens kommt.                       
 

Gretchenfrage: Wann ist eine „Pubertätsblockade“ indiziert? 

Die Indikation und der Zeitpunkt der Gabe von Arzneimitteln, die in die geschlechtliche Entwicklung eingreifen, sind ein besonders heikler Aspekt, dem die neue Leitlinie fast ein Drittel ihrer 340 Seiten widmet. Dabei wurde auch versucht, die rechtliche Situation der drei deutschsprachigen Länder, für die die Leitlinie gültig sein wird – Deutschland, Österreich und Schweiz – separat darzustellen. Bei den medizinischen Interventionen sind zwei zu unterscheiden: Das vorübergehende Anhalten der pubertären Reifeentwicklung (Pubertätsblockade) und eine spätere Angleichung des körperlichen Erscheinungsbildes. Die Pubertätsblockade verhindert bei Jugendlichen mit diagnostizierter Geschlechtsinkongruenz bzw. Geschlechtsdysphorie, dass sich sekundäre Geschlechtsmerkmale entwickeln oder die Ausbildung fortschreitet (s. Kasten „Pubertätssuppression mit GnRH-­Analoga“). Der Leitlinienentwurf formuliert als Voraussetzung für die Pubertätsblockade „eine der Dringlichkeit und Komplexität der Einzelsituation angemessene kinder- und jugendpsychiatrische bzw. -psychotherapeutische diagnostische Einschätzung“, die „eine stabile oder persistierende Geschlechtsinkongruenz entsprechend den diagnostischen Kriterien ICD-11 mit gleichzeitig bestehendem geschlechtsdysphorischem Leidensdruck“ feststellt.          

Pubertätssuppression mit GnRH-Analoga

Bei der Indikation der vorzeitigen Pubertät (Pubertas praecox) hat man viele Jahrzehnte Erfahrung im Einsatz von Analoga des Gonadotropin-Releasing-Hormons (GnRH) zur Pubertätssuppression. Gonadoliberin-Analoga wie Leuprorelin können ebenso bei diagnostizierter Geschlechtsinkongruenz (GI) eingesetzt werden. Als Depotpräparate unterdrücken sie die Ausschüttung der Gonadotropine und ­damit auch die der Sexualhormone, die für Brust- und Hodenwachstum, Bartwuchs, Stimmbruch, geschlechtstypische Gesichtszüge und Körperbau etc. verantwortlich sind.  
Die Rationale bei Geschlechtsinkongruenz ist, eine irreversibel fortschreitende Maskulinisierung bzw. Feminisierung des Körpers vorübergehend anzuhalten, da diese der Hauptstressor des Leidensdruckes bei Jugendlichen mit diagnostizierter Geschlechtsinkongruenz bzw. Geschlechtsdysphorie sind. Der Begriff „Pubertätsblockade“ ist insofern irreführend, als durch die vorübergehende Behandlung mit GnRH-Analoga lediglich das Fortschreiten der Reifeentwicklung verhindert und sie auf den Stand zu Behandlungsbeginn „eingefroren“ wird. Eine zeitlich begrenzte „Pubertäts­blockade“ gilt hinsichtlich ihrer somatischen Effekte als vollständig reversibel. Bei Absetzen der Behandlung kann die genetisch angelegte pubertäre Reifung mit der kompletten Entwicklung der sekundären Geschlechtsmerkmale im bei Geburt zugewiesenen Geschlecht nachgeholt werden [2]. Vor einer Behandlung mit GnRH-Analoga zur Pubertätssuppression soll über mögliche Nebenwirkungen, wie Hitzewallungen und - bei mehrjähriger Behandlung – über die mögliche Störung der Knochenmineralisation aufgeklärt werden. Hinweise auf eine erhöhte Frakturrate oder auf eine nachteilige kognitive Entwicklung gibt es allerdings nicht [2, 3]. 

Nicht zu früh eingreifen... 

Die Indikationsstellung ist individualisiert und komplex, sie müsse auch die Einwilligungsfähigkeit der Jugendlichen unabhängig von starren Altersgrenzen berücksichtigen, wie sie früher empfohlen wurden, sagte Dr. med. Achim Wüsthof, Facharzt für Kinder- und Jugendmedizin und für Pädiatrische Endokrinologie und Diabetologie am Endokrinologikum Hamburg. „Wichtig ist, dass eine Pubertäts­blockade nicht präventiv stattfindet. Wir warten eigentlich immer, bis die Pubertät de facto begonnen hat.“ Nach der Pubertätsklassifikation (Tanner-Stadium 2) ist das der Fall, wenn beim Jungen das Hodenwachstum und bei Mädchen die Brustentwicklung einsetzt. „Der Körper muss tatsächlich schon ein bisschen die Sexualhormone spüren, das ist eine ganz wichtige Erfahrung für diese Jugendlichen, gerade in der Auseinandersetzung mit der beginnenden Vermännlichung oder Verweiblichung“, erklärte der Pädiater. Man kenne Fälle, in denen durch die körpereigenen Sexualhormone die Geschlechtsidentität noch einmal „ins Wanken gekommen“ sei und eine Versöhnung mit dem Körper stattgefunden habe. Aufgrund solcher – seltener – Fälle agieren einige Länder inzwischen vorsichtig oder verwenden Pubertätsblocker nur noch im Rahmen klinischer Studien, wie derzeit Großbritannien. „Es gibt aber in Europa mit Ausnahme von Russland kein Land, wo Pubertätsblockade verboten ist, das wird oft falsch berichtet“, ergänzte Pauli.   

Selbstbestimmung und Fürsorgepflicht

„Das Recht auf Selbstbestimmung über den eigenen Körper beginnt nicht erst mit dem Alter von 18 Jahren, das haben auch Kinder und Jugendliche, wenn sie urteilsfähig sind […]. Aber auch wenn sie jünger und noch nicht vollumfänglich selbstbestimmungsfähig sind, ist ihr Wille, sind ihre Wünsche nicht einfach unerheblich […]. Die große Frage ist: Wie wägt man gegeneinander ab? Einmal den Selbstbestimmungswunsch des Kindes oder Jugendlichen auf der einen Seite und die Fürsorgepflicht der beteiligten Erwachsenen auf der anderen Seite?“ sagte Prof. Dr. Claudia Wiesemann, Direktorin des Instituts für Ethik und Geschichte der Medizin, Universitätsmedizin Göttingen [3].

...und auch nicht zu spät eingreifen

Nicht zu früh in die Entwicklung einzugreifen, ist die eine Leitplanke; andererseits kann der geeignete Zeitpunkt auch verpasst werden: Bei einer Brustentwicklung bei Transjungen – also biologischen Mädchen –, kann ein Pubertätsblocker lediglich eine geringe Volumenreduktion erreichen, andererseits Hitzewallungen durch den Estradiol-Entzug verursachen. „In der Vergangenheit wurden zum Beispiel bei Transjungen, die schon weiter in der Pubertät waren, durchaus Pubertätsblocker eingesetzt. Das haben wir in den letzten Jahren größtenteils verlassen und setzen jetzt hauptsächlich Gelbkörperhormone ein, um zum Beispiel zu verhindern, dass es zur Menstruation kommt,“ sagte Wüsthof. Auch bei den Transmädchen – den biologischen Jungen – würden bei den Älteren durchaus eher Antiandrogene und nicht Pubertätsblocker verwendet. Ziel sei letztlich zu verhindern, dass diese Menschen mit einer lebenslangen Stigmatisierung konfrontiert werden, zum Beispiel wenn Transmädchen am Stimmbruch erkennbar bleiben oder Transjungen an der Brustentwicklung, und beide Geschlechter am Körperbau. 

Die unter Federführung der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie (DGKJP) erstellte Leitlinie soll die 1999 erstmals erstellte und 2013 aktualisierte S1-Leitlinie ablösen. Die Entwurfsfassung befindet sich derzeit in der Kommentierungsphase durch die beteiligten Fach­gesellschaften. 

                  
Literatur  
[1] International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems (ICD-11), Conditions related to sexual health. Klassifikation der World Health  Organization (WHO), https://icd.who.int/browse/2024-01/mms/en#577470983 ;
[2] S2k-Leitlinie Geschlechtsinkongruenz und Geschlechtsdysphorie im Kindes- und Jugendalter – Diagnostik und Behandlung, Entwurfsfassung, Stand 22. März 2024, AWMF-Register-Nr. 028 - 014 
[3] AWMF Leitlinie Geschlechtsdysphorie bei Kindern und Jugendlichen. Presse­veranstaltung des Science Media Center Germany am 22. März 2024 
 


Ralf Schlenger, Apotheker. Autor DAZ.online
redaktion@daz.online


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