Welt-MS-Tag 2024

Die fünf wichtigsten Entwicklungen bei MS

Ulm - 30.05.2024, 07:00 Uhr

Manche MS-Betroffene sind auf einen Gehstock, Rollator oder einen Rollstuhl angewiesen. (Symbolfoto: fizkes / AdobeStock)

Manche MS-Betroffene sind auf einen Gehstock, Rollator oder einen Rollstuhl angewiesen. (Symbolfoto: fizkes / AdobeStock)


Was ist bei Multipler Sklerose im vergangenen Jahr passiert? Die Deutsche Gesellschaft für Neurologie informiert zum Welt-MS-Tag am 30. Mai über die fünf wichtigsten „Steps“.

Ätiologie und Pathogenese, erfolgreiche MS-Arzneimittel und Therapieinnovationen: Anlässlich des Welt-MS-Tags am 30. Mai hat Professor Dr. Sven Meuth, MS-Experte und Leiter der Klinik für Neurologie am Universitätsklinikum Düsseldorf, fünf wichtige Erkenntnisse des vergangenen Jahres zusammengefasst.

Langzeitbehandlung mit B-Zell-Antikörper Ocrelizumab

Ocrelizumab (Ocrevus®) war im Jahr 2018 der erste B-Zell-depletierende Antikörper, den die EMA zur Behandlung von Menschen mit Multipler Sklerose zugelassen hat. Mittlerweile gibt es zwei weitere: Ofatumumab in Kesimpta® und Ublituximab in Briumvi®. Allerdings ist Ocrelizumab bislang der einzige B-Zell-Antikörper, den Neurologen – neben schubförmiger MS – auch bei primär progredienter MS einsetzen dürfen. Die beiden anderen Antikörper haben lediglich eine Zulassung bei schubförmiger MS. 

Nun gibt es Zehn-Jahres-Daten zu Ocrelizumab: „Die vielleicht wichtigste Erkenntnis war, dass eine früher begonnene Therapie mit Ocrelizumab zu besseren Langzeitergebnissen führt (Schubratenreduktion und weniger Behinderungen), d. h. eine initiale Therapie, oft auf Patientenwunsch, mit ‚weniger starken‘ Medikamenten ist nur bedingt sinnvoll“, sagt Meuth. Er bezieht sich dabei auf eine Studie, bei der Patienten mit schubförmiger MS von Ocrelizumab weniger profitierten, wenn sie zuvor Fingolimod erhalten hatten (verglichen mit therapienaiven Patienten oder Patienten mit anderen MS-Arzneimitteln, „Neurology Neuroimmunology & Neuroinflammation“: „Effect of Previous Disease-Modifying Therapy on Treatment Effectiveness for Patients Treated With Ocrelizumab“). 

Auch hätten Neun-Jahres-Daten zu Ocrelizumab gezeigt, dass 48,2 Prozent der Patienten mit Erstlinientherapie Ocrelizumab keine Krankheitsaktivität zeigten (NEDA: No Evidence of Disease Activity), verglichen mit lediglich 25,7 Prozent der Patienten, die zuvor Interferon angewendet hatten („Long-Term Treatment With First-Line Ocrelizumab in Patients With Early RMS: 9-Year Follow-Up Data From the OPERA Trial“, vorgestellt beim 75. Jahreskongress der American Academy of Neurology im April 2023 in Boston). Zudem habe eine frühzeitige Ocrelizumab-Gabe motorische Funktionen gesichert, die sonst später nicht wiedergewonnen wurden („Delayed Signs of Early Disability Progression After 8.5 Years of Ocrelizumab Treatment in Patients With Relapsing Multiple Sclerosis“, vorgestellt beim 75. Jahreskongress der American Academy of Neurology im April 2023 in Boston). 

Alle diese Daten beziehen sich lediglich auf Patienten mit schubförmiger MS. Die schwelende ZNS-Entzündung bei an primär progredienter MS Erkrankten kann der Antikörper hingegen – trotz Zulassung – nur unzureichend adressieren, da er nicht ins ZNS penetriert.

BTKI sollen schwelende ZNS-Entzündung unterdrücken

Zu einer neuen Substanzklasse – den BTKI (Bruton-Tyrosinkinas-Inhibitoren) – laufen derzeit Phase-3-Studien, kein BTKI ist bei MS aktuell zugelassen. Als „kleine Moleküle“ (small molecules) schaffen sie, was Antikörpern nicht gelingt – sie gelangen ins ZNS und sollen dort B-Zellen, denen eine wesentliche Rolle in der Pathogenese bei MS zugeschrieben wird, hemmen und „weitere Immunzellen modifizieren, wie die Mikroglia im Gehirn“, erklärt die DGN. Sanofi untersucht derzeit Tolebrutinib, Roches Kandidat heißt Fenebrutinib

Am weitesten war Merck mit Evobrutinib. Allerdings verfehlte Evobrutinib in zwei Phase-3-Studien (evolutionRMS 1 und evolutionRMS 2) den primären Endpunkt, da der BTKI die jährliche Schubrate nicht besser reduzierte als Teriflunomid (Aubagio®). Daraus werde abgeleitet, erklärt die DGN, dass „positive Therapieeffekte mit klassischen Studiendesigns vermutlich gar nicht mehr gezeigt werden können“. Der Grund sei, dass die Schubraten heute durch die Therapiefortschritte des vergangenen Jahrzehnts schon zu gering seien, um eine weitere signifikante Reduktion zu zeigen. „Für die Zukunft ist daher zu überdenken, ob die Schubrate tatsächlich einen geeigneten primären Endpunkt darstellt, wenn das eigentliche Therapieziel die Reduktion langfristiger Behinderung ist“, erklärt Meuth. Bereits im Jahr 2019 wurde vorgeschlagen, unter anderem von Professor Wolf-Dieter Ludwig von der Arzneimittelkommission der Deutschen Ärzteschaft, die Endpunkte bei klinischen Phase-3-MS-Studien zu überdenken und mehr auf patientenrelevante Aspekte einzugehen („EPMA Journal“: „Suggestions for improving the design of clinical trials in multiple sclerosis – results of a systematic analysis of completed phase III trials“).

CAR-T-Zellen bei MS

Neben BTKI sind CAR-T-Zellen derzeit ein Thema bei MS. Bekannt sind CAR-T-Zellen aus der erfolgreichen Therapie maligner Erkrankungen des Blut- und Lymphsystems. Zunehmend untersuchen Wissenschaftler auch, wie wirksam CAR-T-Zellen bei Autoimmunerkrankungen sind, zum Beispiel bei Myasthenia gravis
Im Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf (UKE) haben zwei MS-Patienten im Rahmen eines individuellen Heilversuchs nun ebenfalls eine CAR-T-Zelltherapie erhalten (CD19-CAR-T-Zellen). Das Sicherheitsprofil war akzeptabel und es zeigten sich laborchemisch Hinweise auf eine erfolgreiche Entzündungskontrolle. Das Problem sind der DGN zufolge die potenziellen Nebenwirkungen, denn das Immunsystem werde bei einer CAR-T-Zellbehandlung so massiv aktiviert, dass es zu einer gefährlichen generalisierten, systemischen Entzündungsreaktion kommen könne (Zytokin-Release-Syndrom) – diese trat bei einem der Hamburger Patienten auf. 

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„Nutzen und Risiken müssen gut abgewogen werden; eine CAR-T-Zell-Therapie bei MS ist nur in bestimmten Fällen geeignet“, betont Meuth. Klinische Studienprogramme zu CAR-T-Zelltherapien bei MS liefen jedoch bereits.

Risiko-Gene für MS

Ein Stück weiter ist die Forschung auch bei MS-Risiko-Genen: Nach Analyse prähistorischer menschlicher Knochenproben aus der ganzen Welt habe man, wie die DGN berichtet, MS-Risiko-Gene verglichen. Das MS-Risiko sei vor etwa 5.000 Jahren mit Völkerwanderungen aus der pontisch-kaspischen Steppe nach Europa gebracht worden, wobei die MS-Gene auf den Chromosomen in der Nähe zu immunologischen Genvarianten lägen. Diese hätten früher einen Vorteil bei der Immunabwehr gegen bestimmter Erreger geschaffen, heute führe eine Überaktivierung zur Erhöhung des MS-Risikos. „Hier sind in den nächsten Jahren weitere Erkenntnisse zu erwarten, die vor allem Fortschritte bei der Prävention bedeuten können“, sagt Professor Meuth.

Personalisierte MS-Medizin

Ein „Meilenstein auf dem Weg zur personalisierten MS-Therapie“ ist der DGN zufolge die Entdeckung von drei immunologischen Typen der frühen MS gewesen – z. B. unterschiedliche Anteile von CD4-Gedächtnis- oder CD8 T-Zellen –, die möglicherweise auch einen unterschiedlichen Krankheitsverlauf bedingen. „Da MS-Standard-Immuntherapien Immunsignaturen unterschiedlich modifizieren, könnte über den Endophänotyp möglicherweise der Krankheitsverlauf und das Therapieansprechen vorhergesagt werden“, erklärt Meuth.


Celine Bichay, Apothekerin, Redakteurin DAZ
redaktion@daz.online


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