Nocebo-Effekt spielt eine Rolle

Antidepressiva: Absetzphänomene seltener als gedacht

11.06.2024, 17:50 Uhr

Schwindel, Kopfschmerzen und Übelkeit können Symptome nach dem Absetzen einer Therapie mit Antidepressiva sein. Sie sind seltener als bisher angenommen. (Foto: Tunatura / AdobeStock)

Schwindel, Kopfschmerzen und Übelkeit können Symptome nach dem Absetzen einer Therapie mit Antidepressiva sein. Sie sind seltener als bisher angenommen. (Foto: Tunatura / AdobeStock)


Schwindel, Kopfschmerzen, Schlafstörungen und Konzentrationsschwierigkeiten sind unangenehme Begleiterscheinungen, die auftreten können, wenn eine Antidepressiva-Behandlung beendet wird. Die Symptome treten innerhalb weniger Tage nach Therapieende auf und klingen meist nach ein bis zwei Wochen wieder von alleine ab. Selten bestehen die Beschwerden über mehrere Monate fort oder sind als schwerwiegend einzustufen. Schon zu Beginn einer antidepressiven Therapie sollte über das potenzielle Risiko von Absetzphänomenen nach Therapieende aufgeklärt werden.

Bislang konnte nicht verlässlich eingeordnet werden, wie häufig diese Sym­ptome vorkommen, wie hoch der Anteil schwerwiegender Verläufe ist und ob bei bestimmten Wirkstoffen mit einem höheren Risiko als bei anderen zu rechnen ist. Diesen wissenschaftlich bislang nur unzureichend adressierten Fragestellungen widmeten sich Forschende um Dr. Jonathan Henssler von der Charité – Universitätsmedizin Berlin und Prof. Dr. Christopher Baethge von der Uniklinik Köln. Ihre methodisch aufwendig konzipierte Meta­analyse wurde im Lancet Psychiatry publiziert [1].

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Insgesamt flossen Daten aus 79 Studien in die Analyse ein, die allerdings methodisch und inhaltlich sehr heterogen waren. Von den 21.002 Personen (72 % weiblich, Durchschnittsalter 45 Jahre) erhielten 16.532 ein Antidepressivum, 4.470 wurden mit Placebo behandelt. Durch den Einschluss von placebokontrollierten Studien konnte ausgewertet werden, wie häufig bereits nach Anwendung eines vermeintlichen Antidepressivums über Absetzphänomene berichtet wurde. Dieses Paradoxon kann einerseits dadurch erklärt werden, dass auch unspezifische Beschwerden wie Kopfschmerzen oder Benommenheit zu den Absetzsymptomen nach antidepressiver Therapie zählen. Treten diese geläufigen, meist milden Symptome zufällig im Rahmen des Absetzprozesses auf und wird aktiv nach ihnen gefragt, könnten Fehlinterpretationen die Folge sein. Andererseits kann eine Absetzsymptomatik unter Scheinmedikation auch darauf hindeuten, dass Patienten einer negativen Erwartungshaltung (Nocebo-Effekt) unterliegen. Unabhängig davon, auf welche Ursache die Angabe von Absetzsymptomen unter Placebo zurückzuführen ist, betraten die Studienautoren hier wissenschaftliches Neuland, um die tatsächliche Inzidenz von Absetzphänomenen besser einschätzen zu können.

Charakteristika und Prävention von Absetzsymptomen

Zu den vorübergehenden, unerwünschten Effekten nach dem Absetzen von Antidepressiva zählen moderate Beschwerden, wie beispielsweise Schwindel, aber auch beunruhigende, stromschlagartige Missempfindungen im Gehirn (brain zapps) oder klinisch relevante Symptome wie Suizidgedanken. Noch vor wenigen Jahren wurde die Symptomatik, für die sich mittlerweile der Begriff Antidepressiva-Absetzsyndrom (antidepressant discontinuation syndrome, ADS) etabliert hat, nicht ernst genommen oder negiert. Vermutlich ist die Symptomatik Ausdruck einer sich neu ordnenden Neurotransmitterkonstellation im Gehirn, von der Anwender aller Antidepressiva-Klassen betroffen sind. Man geht davon aus, dass ein abruptes Absetzen das Auftreten eines ADS wahrscheinlicher macht. Gemäß internationalen und nationalen Empfehlungen sollen Antidepressiva daher stets ausschleichend abgesetzt werden. Die Nationale Versorgungsleitlinie Unipolare Depression empfiehlt beispielsweise eine Dosisreduktion über mindestens acht bis zwölf Wochen [2]. Zeigen sich während dieses Zeitraums Absetzsymptome, so ist der letzte Dosis-Reduktionsschritt wieder rückgängig zu machen und langsamer und wenn möglich mit kleineren Dosierungsschritten auszuschleichen [2].  

Absetzsymptome

Die typischen Absetzsymptome nach Beendigung einer antidepressiven Therapie kann man sich mit der Eselsbrücke FINISH gut merken: 

  • Flu-like symptoms (grippeähnliche Symptome, Kopf- und Gliederschmerzen, Schwitzen)
  • Insomnia (Schlafstörungen, intensive [Alb-]Träume)
  • Nausea (Übelkeit, Erbrechen)
  • Imbalance (Gleichgewichtsstörungen, Schwindel, Benommenheit)
  • Sensory disturbances (stromschlagähnliche Empfindungen, Dysästhesien)
  • Hyperarousal (Ängstlichkeit, Agitation, Reizbarkeit)

Jeder Dritte zeigt Symptome

Während eine frühere, methodisch zu kritisierende Arbeit zu dem Ergebnis kam, dass circa jeder Zweite nach dem Absetzen von Antidepressiva mit unerwünschten Wirkungen konfrontiert ist [3], soll laut der aktuellen Metaanalyse nur etwa ein Drittel der Antidepressiva-Patienten betroffen sein (Ereignisrate 0,31; 95%-Konfidenzintervall [KI]: 0,27 bis 0,35). Gewertet wurde das Auftreten von mindestens einem Absetzsymptom. Da aber auch einer von sechs Placebo-Anwendern über entsprechende Symptome berichtete (Ereignisrate 0,17; 95%-KI: 0,14 bis 0,21), nahmen die Studienautoren an, dass das tatsächliche Ausmaß eines ADS, welches nicht auf zufällig auftretende Beschwerden oder eine negative Erwartungshaltung des Patienten zurückzuführen ist, noch niedriger ausfallen muss. Nach Herausrechnen diesbezüglicher Effekte schätzen die Forschenden die Inzidenz von „echten“ Absetzsymptomen bei antidepressiver Therapie auf etwa 15 %, entsprechend einem von sechs bis sieben Patienten. Als weiteres Ergebnis konnte ermittelt werden, dass schwere Verlaufsformen eines ADS bei etwa einem von 30 Antidepressiva-Anwendern vorkommen, nach Abzug der Ereignisraten unter Placebo scheint nur circa einer von 35 Patienten davon betroffen zu sein.

Faktoren, welche die Inzidenz beeinflussen

In Subgruppenanalysen wurde untersucht, ob bestimmte Faktoren Auswirkungen auf die ADS-Inzidenz haben. So konnten Unterschiede zwischen den einzelnen Therapeutika ermittelt werden. Die Ergebnisse müssen mit Vorsicht interpretiert werden, da hier keine echten Vergleichsstudien und teilweise nur Daten aus zwei Studien herangezogen wurden. Bei Imipramin, Desvenlafaxin/Venlafaxin und Escitalopram war die Inzidenz von Absetzsymptomen am höchsten (Ereignisraten 0,44 vs. 0,4 vs. 0,39). Fluoxetin und Sertralin wiesen die niedrigsten Raten auf, mit Ereignisraten von 0,15 und 0,18. Einen höheren Schweregrad der Symptome zeigten Imipramin, Paroxetin und Desvenlafaxin/Venlafaxin. Bedauerlicherweise lagen zu den häufig eingesetzten Wirkstoffen Mirtazapin, Bupropion und Amitriptylin keine zu analysierenden Studien vor. Inzidenzunterschiede ergaben sich auch, wenn strukturierte Instrumente zur Erfassung von Absetzsymptomen verwendet wurden. Fragten Behandler aktiv nach konkreten Absetzbeschwerden, zum Beispiel mithilfe der 40 Symptome umfassenden DESS-Check­liste (Discontinuation Emergent Signs and Symptoms Scale), wurden diese wesentlich häufiger von den Patienten angegeben (Ereignisrate 0,3), als wenn Symptome nicht strukturiert abgefragt wurden (Ereignisrate 0,13). Ferner scheint interessant, dass sich die Ereignisraten von Absetzsymptomen in Studien, die ein Ausschleichen der Medikation praktizierten (n = 20), im Vergleich zu Studien mit abruptem Absetzen (n = 28) kaum unterschieden (0,3 vs. 0,29). Hier muss jedoch einschränkend erwähnt werden, dass die in einigen Studien angewandten Reduktionsschritte über einen sehr kurzen Zeitraum erfolgten, wodurch sich eventuell die vergleichbaren Ereignisraten zum abrupten Absetzen erklären lassen. Schlussfolgerungen, dass zukünftig auf Ausschleichstrategien verzichtet werden kann, sind anhand dieser Daten nicht zulässig.  

Wichtige Einordnung

Die neuen Studienerkenntnisse dürften Behandlern eine große Hilfe bei der Einordnung der Relevanz des zuvor vermutlich überschätzten Problems sein und auch verunsicherte Patienten zuversichtlich stimmen. Während manche vielleicht aus Angst vor Absetzsymptomen zurückhaltend bei der Aufnahme einer erforderlichen Behandlung waren, hielten andere, bereits in Therapie befindliche Patienten, möglicherweise unnötig lange an dieser fest, um Absetzsymptome zu umgehen. Da bestimmte Antidepressiva laut dieser Untersuchung höhere ADS-Inzidenzen aufweisen, sollten Behandler vor Verordnung der entsprechenden Therapeutika besonders sorgfältig über das potenzielle Risiko aufklären und die Patienten im Absetzprozess begleiten und engmaschig überwachen.

Literatur 
[1] Henssler J, Schmidt Y, Schmidt U et al. Incidence of Antidepressant Discontinuation Symptoms – A Systematic Review and Meta-Analysis. Lancet Psychiatry 5. Juni 2024, doi: 10.1016/S2215-0366(24)00133-0 
[2] Nationale VersorgungsLeitlinie Unipolare Depression, Version 3.2, 2022. Bundesärztekammer (BÄK), Kassenärztliche Bundesvereinigung (KBV), Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF), AWMF-Register-Nr. nvl-005 
[3] Davies J, Read J. A systematic review into the incidence, severity and duration of antidepressant withdrawal effects: are guidelines evidence-based? Addict Behav 2019;97:111‒212


Apothekerin Dr. Verena Stahl
redaktion@daz.online


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