Einnahme mit kalorienreichem Abendessen

Pregabalin: Gastroretention als Retardierungsprinzip

18.06.2024, 17:50 Uhr

Morgens, mittags, abends: Bis zu dreimal täglich muss unretardiertes Pregabalin eingenommen werden. Bei der neuen Retardtablette reicht eine Einnahme pro Tag. (Foto: okrasiuk/AdobeStock)

Morgens, mittags, abends: Bis zu dreimal täglich muss unretardiertes Pregabalin eingenommen werden. Bei der neuen Retardtablette reicht eine Einnahme pro Tag. (Foto: okrasiuk/AdobeStock)


Unter neuropathischen Schmerzen leiden 7 % der Allgemeinbevölkerung und 14 % der Menschen mit Diabetes. Normale Analgetika wirken bei den Nervenläsionen nicht, ein Mittel der ersten Wahl ist der Calciumkanal-Modulator Pregabalin. Bislang schlucken die Patienten die Hartkapseln zwei- oder dreimal täglich. Eine in Deutschland neue Retardformulierung ermöglicht nun die einmal tägliche Gabe. Dass dies nicht in jedem Fall eine Vereinfachung der Therapie bedeutet, hängt mit den Besonderheiten der Tablette und der Resorption von Pregabalin zusammen.

Seit 2004 ist Pregabalin von der Europäischen Kommission zugelassen zur Therapie peripherer und zentraler neuropathischer Schmerzen und als Add-on bei fokalen Anfällen. Heute ist Pregabalin mit 135 Millionen de­finierten Tagesdosen in Deutschland das am häufigsten verordnete Antiepileptikum. Zugleich ist es eins der Erst­linienmedikamente bei neuropathischen Schmerzen, und seit 2006 ist der zentrale Calciumkanal-Modulator auch zur Therapie generalisierter Angststörungen zugelassen. Seit 20 Jahren nehmen Millionen Betroffene zwei- bis dreimal täglich Pregabalin als Hartkapseln oder Lösung ein, meist Patienten mit chronischen Krankheitszuständen wie einer diabetischen Polyneuropathie. Bekanntlich leidet bei einer Polymedikation rasch die Therapietreue – so dass sich aus Patientensicht durchaus die Frage stellt, warum es bislang in Europa keine retardierte Formulierung gab. Aus Sicht der Original- und Generikahersteller (z. B. Pfizer, Lyrica®) habe sich diese Frage angesichts des Verkaufs­erfolgs der Standarddarreichung nicht gestellt, meint ein Pionier des Forschungsgebietes neuropathischer Schmerz, Prof. Dr. Ralf Baron aus Kiel, auf einem von Aristo Pharma GmbH unterstützten Pressegespräch. Auch habe die Firma Pfizer 2012 eine retardierte Form von Pregabalin als Antiepileptikum getestet, aber erfolglos [1].

Vorteil: nur einmal täglich

Seit einigen Jahren sind nun in den USA Lyrica® CR extended-release-­Tabletten zur Behandlung neuropathischer Schmerzen zugelassen. Diese bieten den Vorteil der einmal täglichen Einnahme, müssen aber strikt nach einem kalorienreichen Essen eingenommen werden, weil sonst die Absorption um bis zu 50 % sinkt – im Gegensatz zu den herkömmlichen, schnell freisetzenden Tabletten, die mit oder ohne Nahrung eingenommen werden können. Dieser Einschränkung unterliegen auch die in Deutschland jetzt eingeführten Pregabalin Aristo® retard-Tabletten.

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Hohe Hürden für die Resorption

Die Abhängigkeit der Wirksamkeit von der Nahrungsaufnahme wird auf den schmalen Absorptionsbereich für Pregabalin im oberen Dünndarm zurückgeführt, wo die Substanz über L-Aminosäuretransporter absorbiert wird. Bei der Darmpassage muss dort die gesamte Dosis der Retardformulierung in ausreichender Menge aufgenommen werden. Auf der Suche nach einer Darreichungsform, die lange im Magen verweilt und schon dort den Wirkstoff langsam freisetzt, damit er im oberen Dünndarm in hoher Konzentration vorliegt, wurde mit verschiedenen Retardierungsmethoden experimentiert. Südkoreanische Forscher haben für diese Konstellation eine gastroretentive Arzneiform mit magensaftresistenten, aber quellfähigen Eigenschaften entwickelt [2]. Dabei sorgt ein basisches Butylmeth­acrylat-Copolymer für eine langsame Freisetzung des Wirkstoffs aus der Matrix. Hypromellose und Hydroxy­propyl­cellulose lassen die Tablette rasch quellen und im Magensaft obenauf schwimmen. Die an sich schon großvolumigen Tabletten sollen wenige Minuten nach der Einnahme größer werden als die Pylorusringöffnung und bis zu zwölf Stunden im Magen verbleiben, bis sie zerfallen sind. In Versuchsreihen der Forscher gab es dennoch stets Testpersonen mit zu kurzer Magenretentionszeit der Tablette. Man fand, dass nur eine zusätzliche „Bremse“ der Magenentleerung in Form einer größeren Mahlzeit mit 800 bis 1000 kcal die Magenverweildauer der Tablette zuverlässig erhöhen kann. Schon bei Einnahme nach einer Morgenmahlzeit mit mittlerem Kalorien­gehalt (600 bis 750 kcal) sank das Gesamtausmaß der Absorption um rund 25 %. Um das Schlucken der voluminösen gastroretentiven Tabletten zu erleichtern, haben sie eine ovale Form und sind im Falle von Pregabalin Aristo® retard in allen drei Dosisstärken (82,5 mg, 165 mg und 330 mg) 19 mm lang, 12 mm breit und 7 bis 8 mm dick.

Einnahme strikt nach dem Abendessen

Bei Einnahme des retardierten Pregabalin nach einem Abendessen mit 800 bis 1000 Kilokalorien (50 % Fett, 20 % Eiweiß, 30 % Kohlenhydrate) wird laut Fachinformation die mediane Spitzen-Plasmakonzentration (cmax) nach acht Stunden erreicht, gegenüber einer Stunde bei der schnell freisetzenden (IR) Pregabalin-Tablette. Der Steady State stellt sich bei wiederholter Anwendung nach 72 bis 96 Stunden ein. Im Dosisbereich von 82,5 bis 660 mg/Tag hat retardiertes Pregabalin eine lineare Pharmakokinetik mit dosisproportionalem Anstieg der cmax und der Fläche unter der Plasmakonzentrations-Zeit-Kurve (AUC). Vorausgesetzt, die Retardtabletten werden vorschriftsmäßig nach einem kalorien­reichen Essen geschluckt, ist die AUC ähnlich der entsprechenden Dosis IR-Pregabalin, bei einer niedrigeren Spitzenkonzentration. Wird retardiertes Pregabalin aber nüchtern eingenommen, ist die AUC 30 bis 50 % geringer als nach einer Mahlzeit [3] – der Hinweis auf die Einnahme zum Abendessen ist also ein Muss bei der Abgabe des Medikamentes in der Apotheke. Interessanterweise beinhalten die Retardtabletten eine 10 % höhere Dosis Pregabalin als die entsprechende IR-Variante, was als Zugeständnis an die Abhängigkeit der Absorption von der Nahrungsaufnahme gewertet wird [2].

Umstellung planen

Wechseln Patienten von schnell freisetzendem (IR) Pregabalin auf die Retardformulierung, so sollen sie am Tag der Umstellung die morgendliche Dosis der konventionellen Pregabalin-Kapseln wie zuvor einnehmen und die Einnahme von retardiertem Pregabalin nach dem Abendessen beginnen. In der Fachinformation findet sich für die Umstellung eine Tabelle mit äquivalenten Tagesdosen. Während bei unretardierten Hartkapseln acht Dosis­stärken zur Verfügung stehen (25 mg, 50 mg, 75 mg, 100 mg, 150 mg, 200 mg, 225 mg bzw. 300 mg), sind es bei der Retardform lediglich drei (82,5 mg, 165 mg; 330 mg), so dass, je nach bisher verordneter Tagesdosis, mehrere Retardtabletten notwendig sind. Beispielsweise werden 225 mg IR-Pregabalin, dosiert zwei- oder dreimal täglich, ersetzt durch 247,5 mg Retard-Pregabalin in Form von drei 82,5 mg-Retardtabletten, dosiert einmal nach dem Abendessen. Ob dies dem Patienten tatsächlich einen Vorteil gegenüber dem bisherigen Modus bietet, dürfte von seiner sonstigen Tablettenlast abhängen, und auch davon, ob er lieber zwei oder drei kleine Tabletten über den Tag verteilt schluckt oder drei der recht großen Retard­tabletten auf einmal strikt nach dem Abendessen.

Dem unretardierten Präparat nicht unterlegen

Die Wirksamkeit von Pregabalin retard konnte in Studien bei diabetischer Polyneuropathie (DPN), post­herpetischer Neuralgie (PHN) und nach Rückenmarksverletzung gezeigt werden [3]. In einer randomisierten, doppelblinden, aktiv kontrollierten Phase-III-Studie in Südkorea erhielten Patienten mit DPN oder PHN einmal täglich SR-Pregabalin (sustained-­release, langsam freisetzend) oder zweimal täglich IR-Pregabalin (150 bis 600 mg/Tag). In der zwölfwöchigen Studie war die SR-Pregabalin-Formulierung dem zweimal täglich einzunehmenden IR-Pregabalin bei der Linderung peripherer neuropathischer Schmerzen nicht unterlegen und wurde gut vertragen. Die Häufigkeit von Nebenwirkungen, die zu einem Therapieabbruch führten, war in beiden Therapiearmen niedrig (2,7 % SR-Tablette, 1,1 % IR-Kapsel). Positiv bewerten die Autoren die Möglichkeit einer reduzierten Dosierungshäufigkeit [4]. Laut Baron gibt es Hinweise darauf, dass die Anwendung der Retardtabletten im Vergleich zu schnell freisetzenden Darreichungsformen mit weniger Nebenwirkungen verbunden ist. Dies könne mit dem Ausbleiben von Spitzen im Plasmaspiegel zusammenhängen, auch befinde sich dieser insgesamt länger im therapeutischen Bereich. Insgesamt sei von einer gleichmäßigeren Wirkung auszugehen.

Keine Komedikation mit ZNS-dämpfenden Substanzen!

Dass Pregabalin dosisabhängig linear resorbiert wird, trifft auf die retardierte wie die unretardierte Darreichungsform zu und ist nicht nur von Vorteil. Verglichen mit der Vorgängersubstanz Gabapentin, die eine nichtlineare Resorptionskinetik aufweist, weist Pregabalin bei oraler Überdosierung eine höhere Toxizität auf. Die häufigsten Nebenwirkungen sind laut Fachinformation Benommenheit und Schläfrigkeit, vermehrte Nasopharyngitiden, gesteigerter Appetit, Kopfschmerzen, verschwommenes Sehen und Schwindel. In Kombination mit anderen ZNS-dämpfenden Substanzen (beispielsweise Alkohol, Benzodiazepine, Z-Substanzen, Clomethiazol, Propofol oder Chloraldurat) kann es zu einer schweren Atemdepression und auch zu malignen Herzrhythmusstörungen kommen.

Gefahr des Missbrauchs

In den Fachinformationen von Pregabalin, auch in jener der neuen Retardform, wird auch die Abhängigkeits­gefahr aufgegriffen; besonders bei Patienten mit Drogenmissbrauch in der Vorgeschichte sei Vorsicht geboten. Zunehmend wird Pregabalin auch als Freizeitdroge missbraucht. Das unstrittige Abhängigkeitspotenzial hängt mit der bei hohen Dosen zu beobachtenden Euphorie zusammen, die, wenn sie nach Therapiebeginn verfliegt, Betroffene zu einer Dosis­erhöhung verleitet. Manche geraten in eine Abhängigkeitsspirale, die im schlimmsten Fall mit dem Tod endet: Jüngst sorgte eine hohe Zahl Pregabalin-assoziierter Todesfälle im Vereinigten Königreich für Schlagzeilen [5]. Der weit überwiegenden Zahl der Fälle lag jedoch die gleichzeitige Anwendung von Opioiden und/oder ein nicht bestimmungsgemäßer Gebrauch zugrunde, sagte Professor Baron. Laut dem aktuellen Leitfaden „Schädlicher Gebrauch und Abhängigkeit von Medikamenten“ der Bundesärztekammer sollte Pregabalin bei einer vorbestehenden Substanzabhängigkeit grundsätzlich nicht verordnet werden. Komedikationen mit Opioiden sollten vor der Verordnung (beim Arzt) und bei der Abgabe (in der Apotheke) ab­gefragt und entsprechend vermieden werden [6]. Alternativen zu Pregabalin als Erstlinienmedikamente bei neuropathischen Schmerzen sind neben Gabapentin die Serotonin-­Noradrenalin-Reuptakehemmer Duloxetin und Venlafaxin sowie tricyclische Antidepressiva.

Literatur

[1] Pressegespräch „Vorhang auf für Pregabalin Aristo® retard – die einzige Pregabalin Retardtablette in Deutschland“. Aristo Pharma GmbH, Berlin, 15. April 2024

[2] Kim S et al. Preparation and evaluation of non-effervescent gastroretentive tablets containing pregabalin for once-daily administration and dose proportional pharmacokinetics. Int J Pharm 2018;550(1-2):160-169, doi: 10.1016/j.ijpharm.2018.08.038

[3] Fachinformation Pregabalin Aristo® retard, Stand Januar 2024

[4] Han KA et al. Efficacy and Safety of a New Sustained-release Pregabalin Formulation Compared With Immediate-release Pregabalin in Patients With Peripheral Neuropathic Pain: A Randomized Noninferiority Phase 3 Trial. Clin J Pain 2022;38(5):343-350, doi: 10.1097/AJP.0000000000001028

[5] Daubitz T. Ist Pregabalin wirklich gefährlich? DAZ 2024;11:30

[6] Schädlicher Gebrauch und Abhängigkeit von Medikamenten. Leitfaden der Bundesärztekammer in Zusammenarbeit mit der Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft. Stand 2022


Ralf Schlenger, Apotheker. Autor DAZ.online
redaktion@daz.online


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1 Kommentar

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von LVNPZFquCOhm am 19.06.2024 um 20:57 Uhr

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