Forschungsprojekt und Ausstellung

Die Rolle der Gesundheitsämter im NS-Staat

Berlin - 30.07.2024, 10:45 Uhr

Auch bei der Eheberatung durch die Gesundheitsämter im NS-Staat stand die Rassenideologie im Vordergrund. (Foto: DAZ) 

Auch bei der Eheberatung durch die Gesundheitsämter im NS-Staat stand die Rassenideologie im Vordergrund. (Foto: DAZ) 


Die Gesundheitsförderung erklärten die Nationalsozialisten zu einem zentralen politischen Ziel. Dahinter steckten rassenideologische Überlegungen – aber auch die Arbeits- und Kriegstüchtigkeit sollten so gefördert werden. Akteure des Gesundheitswesens waren auch an Zwangssterilisationen und Morden beteiligt. Darüber informiert die Ausstellung „Volk, Gesundheit, Staat“ in Potsdam. 

Die Ausstellung „Volk, Gesundheit, Staat“ im brandenburgischen Gesundheitsministerium beleuchtet die Rolle der Gesundheitsämter und einzelner Akteure des Gesundheitswesens unter der Herrschaft des Nationalsozialismus. Deren wissenschaftliche Grundlage ist das Forschungsprojekt „Der öffentliche Gesundheitsdienst in der Zeit des Nationalsozialismus. Die Beispiele Thüringen und Württemberg“. Dieses wurde vom Bundesverband der Ärztinnen und Ärzte des öffentlichen Gesundheitsdienstes ins Leben gerufen.

Zur Eröffnung der Ausstellung am 3. Juli waren Brandenburgs Gesundheitsministerin Ursula Nonnenmacher (Grüne), Staatssekretär Thomas Götz und Sabine Schleiermacher von der Charité, Leiterin des Forschungsprojektes, sowie die Vorsitzende des Bundesverbandes der Ärztinnen und Ärzte des öffentlichen Gesundheitsdienstes, Kristina Böhm, in Potsdam zu Gast. Böhm betonte den Wert des Forschungsprojektes, gerade auch mit Blick auf die Gegenwart: „Die Ausstellung ist ein Meilenstein in der Aufarbeitung der Verantwortungen im Öffentlichen Gesundheitsdienst während des Nationalsozialismus. Sie erinnert und mahnt uns gleichermaßen, hier genau hinzuschauen, uns nicht wieder instrumentalisieren zu lassen und in jeder Hinsicht dem Gebot des Hippokratischen Eides zu folgen.“

Rassenideologie und Gesundheitsfürsorge

Amtsärzte und andere Akteure des Gesundheitswesens waren zentral an Maßnahmen der „Erb- und Rassenhygiene“ beteiligt. Dabei ging es um die Aussonderung, Zwangssterilisation und Ermordung von Menschen, die als „minderwertig“ betrachtet wurden.

Wie auch in allen anderen Gesellschaftsbereichen wurden im Gesundheitswesen Jüdinnen und Juden aus ihren Berufen gedrängt, ebenso wie politische Gegner der Nazis. Allerdings waren die, laut den Autor*innen der zugrundeliegenden Studie, nicht allzu zahlreich in der Ärzteschaft vertreten: „Der Großteil der Amtsärzte blieb nach 1933 im Amt. Die meisten waren, soweit bekannt, politisch konservativ oder deutschnational eingestellt.“ Demnach hatten Ärzt*innen unter allen Berufsgruppen die stärkste Affinität zur NSDAP – in Baden-Württemberg gehörten 64 Prozent von ihnen der Partei an, in Thüringen sogar 73 Prozent.

Zwangssterilisationen von „Erbkranken“

Mit dem „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ legten die Nationalsozialisten die Grundlage für Zwangssterilisationen beispielsweise bei kognitiven Einschränkungen, manisch-depressiven Erkrankungen, Epilepsie, Taubheit, Blindheit oder Alkoholismus. Alle Angehörigen des Gesundheitssystems vom Arzt bis zur Hebamme wurden verpflichtet, Verdachtsfälle sogenannter „Erbkrankheiten“ an die Gesundheitsämter zu melden, was diese auch taten – in einigen Fällen sind sogar Selbstanzeigen oder Anzeigen von Familienangehörigen belegt. Frauen, die zur Sterilisation verurteilt wurden, konnten bis zum 6. Schwangerschaftsmonat zum Abbruch gezwungen werden. Die genauen Opferzahlen sind bisher nicht ermittelt, Schätzungen gehen von 300.000 bis 400.000 Menschen aus. Davon starben etwa 5.000 an den Folgen des Eingriffs – die Mehrheit davon waren Frauen.

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Nach den Erkenntnissen der zugrundeliegenden Studie gab es regionale Unterschiede hinsichtlich dieser Denunziationspraktiken. In Württemberg waren die Anzeigen, gemessen an der Bevölkerungszahl, deutlich seltener als in Thüringen. Laut den Autor*innen spielte das Verbot der Zwangssterilisation im Katholizismus eine wichtige Rolle. In Württemberg habe die Regierung weniger Druck zur Verfolgung vermeintlicher „Erbkranker“ ausgeübt, da man sich um mögliche Proteste in der Bevölkerung sorgte, heißt es.

Eheberatung

Ein weiteres wichtiges Themenfeld für die Gesundheitsämter war die Eheberatung. Dabei wurden Fortpflanzungsempfehlungen ausgesprochen, sowie spezielle Förderungen für Paare mit den bevorzugten „rassischen“ Kriterien festgelegt. Paare mit „wertvollem Erbgut“ bekamen ein Ehestandsdarlehen, Paare mit „schlechtem Erbgut“ wurden davon ausgeschlossen. Für die Eheschließung mussten das zuständige Gesundheitsamt eine „Ehetauglichkeitszeugnis“ ausstellen. Die Heirat zwischen vermeintlich „erbgesunden“ und „erbkranken“ Bürger*innen wurden verboten.

Epidemie-Bekämpfung

Mit dem Beginn des Zweiten Weltkrieges verschoben sich die Schwerpunkte in der Tätigkeit der Gesundheitsämter. Die Bekämpfung von Epidemien rückte stärker in den Vordergrund, insbesondere in Zusammenhang mit der Deportation und dem Einsatz von Zwangsarbeiter*innen in der deutschen Industrie – denen die Verbreitung von Seuchen in der Öffentlichkeit zugeschrieben wurde.

Vor allem der Tuberkulose (Tbc) hatte das NS-Gesundheitsregime den Kampf angesagt, allerdings beschränkte sich dieser in erster Linie auf die Diagnose: Mit der damals neuartigen Röntgen-Technologie wurde die Bevölkerung ab 1938 systematisch untersucht. Dadurch stieg beispielsweise in Stuttgart die Diagnose von Tbc-Erkrankten oder Gefährdeten um 47 Prozent. Allerdings mangelte es an geeigneten Heilverfahren, insbesondere während des Krieges verschlimmerte sich das Leiden von vielen Erkrankten. Nicht selten wurden sie als „sozial wertlos“ denunziert. In manchen Landesteilen wurden Tbc-Erkrankte in gefängnisartige Einrichtungen eingewiesen, wo viele durch gezielte Vernachlässigung verstarben.

„Euthanasie“-Morde 

Die Gesundheitsämter waren beauftragt, sämtliche erbbiologisch relevanten Daten der Bevölkerung zu sammeln: Dazu gehörten Daten der Standes- und Wohlfahrtsämter, der Polizeibehörden, von Schulen und Ärzten. Diese Daten spielten für die Erfassung von Zielen für die Euthanasie-Morde eine zentrale Rolle. Mit einem Geheimerlass des Reichs-Innenministeriums wurde kurz vor Kriegsbeginn im August 1939 der Mord an Kindern und Säuglingen mit Behinderungen angeordnet. Wieder wurden alle Akteure des Gesundheitswesens zum Anzeigen aufgerufen – Hebammen bekamen für jede Meldung eine „Prämie“ von drei Reichsmark.  
In einem Gutachter-Ausschuss bestehend aus drei Ärzten wurde dann über Leben und Tod der Kinder entschieden. Betroffene wurden in sogenannte „Kinderfachabteilungen“ überwiesen. Eine davon befand sich im Städtischen Krankenhaus von Stuttgart – dort wurden 50 Kinder mit Arzneimittel-Überdosen oder durch gezielte Unterversorgung getötet. Im ganzen Reich gab es 30 solcher Einrichtungen.  

Zwangsarbeit und Vernichtung

Die Gesundheitsbehörden waren mit dem Kriegsbeginn untrennbar in die massenweise Deportation, Versklavung und Vernichtung von Menschen mit einbezogen. Amtsärzte urteilten über die Arbeitsfähigkeit von Zwangsarbeiter*innen und entschieden somit, ob diese in die Vernichtungslager transportiert wurden. In Weimar wurde der Leiter des städtischen Gesundheitsamtes als Gutachter in die Bauplanung der Krematorien für das Konzentrationslager Buchenwald mit einbezogen.

Entnazifizierung nach Kriegsende?

Die Besatzungsmächte beließen die meisten Angehörigen des Gesundheitswesens in ihren Ämtern.

In Württemberg hatte der Arzt Eugen Stähle seit 1933 das Amt für Volksgesundheit geleitet – er war schon 1923 der NSDAP beigetreten. Die US-Amerikaner beließen ihn nach dem Krieg als Leiter der Gesundheitsbehörde zunächst im Amt – später wurde er verhaftet, nachdem seine Verwicklung in die Euthanasie-Morde bekannt geworden war.

Die erlassenen Gesetze des NS-Gesundheitsregimes blieben in der BRD zum Teil in Kraft. Das Gesetz zur Zwangssterilisation von vermeintlich „Erbkranken“ galt in den meisten westdeutschen Bundesländern bis 1974, wurde aber nicht angewendet. Auch das „Ehetauglichkeitsgesetz“ blieb weiter in Kraft: In Württemberg-Baden mussten noch bis 1950 „Eheunbedenklichkeitsbescheinigungen“ von Ärzt*innen eingeholt werden. Die NS-Gesundheitspolitik warf noch lange Schatten in die deutsche Nachkriegszeit.

Die Vorsitzende des Bundesverbandes der Ärztinnen und Ärzte des öffentlichen Gesundheitsdienstes Kristina Böhm machte deutlich, dass sie sich von der Ausstellung nicht nur historische Aufarbeitung erhofft, sondern auch eine politische Signalwirkung für Gegenwart und Zukunft: „Ich wünsche mir sehr, dass diese Ausstellung die entsprechende Aufmerksamkeit bekommt und vor den anstehenden Landtagswahlen ein Zeichen setzen kann.“

Die Ausstellung kann noch bis zum 1. September 2024 im Foyer des Landes-Gesundheitsministeriums in Potsdam besucht werden.


Michael Zantke, Redakteur, DAZ
redaktion@daz.online


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