Atomoxetin und Methylphenidat in der Warteschleife

Engpass bei ADHS-Medikamenten – was tun?

12.08.2024, 12:45 Uhr

In der Herstellung von Atomoxetin-Hartkapseln sind Qualitätsmängel aufgetreten. Die Folge ist ein Versorgungsengpass. (Foto: DAZ / Alex Schelbert) 

In der Herstellung von Atomoxetin-Hartkapseln sind Qualitätsmängel aufgetreten. Die Folge ist ein Versorgungsengpass. (Foto: DAZ / Alex Schelbert) 


Wieder ein besorgniserregender Lieferengpass, dieses Mal trifft es das ADHS-Therapeutikum Atomoxetin. Dass ein Problem mit Atomoxetin-haltigen Hartkapseln und Filmtabletten besteht, zeichnete sich bereits in den letzten Wochen und Monaten ab. Aufgrund starker Schwankungen im Wirkstoffgehalt, der durchschnittlichen Masse (Kapsel) und der Gleichförmigkeit der Masse mussten zuletzt zahlreiche Präparate chargen- und stärkenübergreifend zurückgerufen werden [1].

Ausgangspunkt des Dilemmas ist eine Produktionsstätte in Griechenland, die nun stillsteht, bis die Ursache des Qualitätsmangels gefunden wird. Aktuell befindet sich eine neue Herstellungslinie im Aufbau. 

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Besonders bitter ist aber, dass dieser Ausfall nur schwer zu kompensieren sein wird. Denn der Anteil dieses Herstellers am Marktvolumen ist mit 80% immens. Daher wird es nach Einschätzung des BfArM (Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte) „wenige“ Monate dauern, bis die Versorgungsknappheit voraussichtlich behoben sein wird [2]. Die pharmazeutischen Unternehmer geben derzeit in ihren Lieferengpassmeldungen Daten zwischen dem 31. August und dem 31. Dezember 2024 zur Wiederverfügbarkeit an [3], Verlängerung nicht ausgeschlossen.

An den Arzt wenden

Was sollen aber nun Erziehungsberechtigte von Kindern und Jugendlichen mit ADHS sowie betroffene erwachsene Patienten tun, die in dieser Übergangszeit nicht mit ihrem bewährten Arzneimittel behandelt werden können? In einer gemeinsamen Stellungnahme der zuständigen Fachgesellschaften DGPPN und DGKJP (Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde e.V. und Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie e.V.) wird lediglich empfohlen, mit den behandelnden Ärzten Kontakt aufzunehmen, um medikamentöse Alternativen zu erörtern [4]. Bei ADHS sind dies 

  • Methylphenidat (z.B. Ritalin®), 
  • Lisdexamfetamin (z.B. Elvanse®) und 
  • Dexamfetamin (z.B. Attentin®) sowie der zentral wirksame Adrenorezeptor-Agonist 
  • Guanfacin (Intuniv®). 

Die beiden letztgenannten Wirkstoffe sind allerdings nicht für Erwachsene zugelassen.

Auch bei Methylphenidat bestehen Lieferengpässe

Auch für Mehtylphenidat finden sich in der Lieferengpassliste des BfArM (Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte, Stand 12.08.2024) zahlreiche Einträge: Für Präparate mit dem Handelsnamen Kinecteen wird das Ende des Engpasses etwa auf den 15. Oktober geschätzt. Ein Grund wird nicht angegeben. Für das Handelspräparat Methysym werden Produktionsprobleme gennannt, das Ende des Lieferengpasses auf Januar 2025 prognostiziert. Bei Concerta 18 mg und 36 mg Retardtabletten besteht aufgrund einer erhöhten Nachfrage bis Ende des Jahres ein Engpass. Und auch bei Methylphenidat von TAD gibt es bis Ende September Lieferschwierigkeiten. (dm)

Der selektive Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmer Atomoxetin unterscheidet sich in wesentlichen Punkten (z.B. hinsichtlich Wirkmechanismus, Wirkdauer und Nebenwirkungsspektrum) von den genannten Psychostimulanzien und dem Nicht-Stimulans Guanfacin. Womöglich kommt nach ärztlicher Beurteilung einer weiterhin bestehenden Behandlungsnotwendigkeit ein Wechsel für manch einen Patienten nicht in Frage, da Vorbehalte oder Kontraindikationen gegenüber Methylphenidat oder den Amphetamin-Derivaten bestehen. 

Da Atomoxetin bei ADHS als Mittel der zweiten oder dritten Wahl gilt, ist zudem davon auszugehen, dass bereits Erfahrungen mit den Psychostimulanzien vorliegen und diese sich als ineffektiv erwiesen haben oder nicht vertragen wurden. So können z.B. bei ADHS-Patienten mit bekannter komorbider Angstsymptomatik Stimulanzien zu einer Verstärkung der Ängste beitragen und deswegen Atomoxetin angezeigt sein [5].  

Im Falle eines Wechsels ist eine überlappende Umstellung mit Ausschleichen des einen und Auftitrieren des anderen Wirkstoffs empfehlenswert. Gemäß Fachinformation scheint aber auch ein abruptes Absetzen von Atomoxetin möglich zu sein, da in klinischen Studien keine ausgeprägten Entzugssymptome beschrieben wurden [6].

Einzelimporte eine Option?

Ein Beibehalten der Therapie aufgrund medizinischer Notwendigkeit könnte über Atomoxetin-Einzelimporte gelöst werden, Genehmigung der Krankenkasse vorausgesetzt. Jedoch ist zu bezweifeln, dass ausländische Präparate weiterhin verfügbar sein werden. 

Aufruf der AMK

Bis dato liegen noch keine Meldungen zu unerwünschten Ereignissen vor, die in Verbindung mit den aktuellen Vorkommnissen stehen. Die Arzneimittelkommission der Deutschen Apotheker (AMK) ruft aber die Apothekerschaft gezielt dazu auf, „betroffene Patienten angemessen zu informieren und Verdachtsfälle von Arzneimittelrisiken im Zusammenhang mit dem Qualitätsmangel bzw. dem bestehenden Lieferengpass von Atomoxetin sowie beim Einsatz entsprechender therapeutischer Alternativen unter www.arzneimittelkommission.de zu melden“ [1].

Problematische Zentralisierung

An diesem Beispiel lässt sich gut illustrieren, dass das vor exakt einem Jahr in Kraft getretene „Gesetz zur Bekämpfung von Lieferengpässen bei patentfreien Arzneimitteln und zur Verbesserung der Versorgung mit Kinderarzneimitteln“ (Arzneimittel-Lieferengpassbekämpfungs- und Versorgungsverbesserungsgesetz, ALBVVG) an dieser Stelle nicht greift. Abermals zeigt sich, dass die Arzneimittel-Lieferkette an vielen Stellen verwundbar ist, wie hier durch die Zentralisierung auf einen Hersteller, unabhängig vom Produktionsort in Europa oder Asien.

Literatur

[1] BfArM: Lieferengpass bei Atomoxetin-haltigen Arzneimitteln aufgrund von Qualitätsmängeln: Empfehlungen der Fachgesellschaften veröffentlicht. AMK-Nachricht vom 8. August 2024, www.abda.de/fuer-apotheker/arzneimittelkommission/amk-nachrichten/detail/33-24-information-der-institutionen-und-behoerden-bfarm-lieferengpass-bei-atomoxetin-haltigen-arzneimitteln-aufgrund-von-qualitaetsmaengeln-empfehlungen-der-fachgesellschaften-veroeffentlicht/

[2] Lieferengpass bei atomoxetinhaltigen Arzneimitteln. Informationen des Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) vom 6. August 2024, www.bfarm.de/DE/Arzneimittel/Arzneimittelinformationen/Lieferengpaesse/atomoxetin.html

[3] Veröffentlichte Lieferengpassmeldungen bei Humanarzneimitteln, www.pharmnet-bund.de, Abruf am 9. August 2024

[4] Versorgungsengpass bei Atomoxetin.  Stellungnahme der Fachgesellschaften DGPPN, DGKJP und AWMF vom 2. August 2024, www.dgppn.de/aktuelles/news/versorgungsengpass-bei-atomoxetin.html

[5] ADHS bei Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen. S3-Leitlinie der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde e.V., der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie e.V. und der Deutschen Gesellschaft für Sozialpädiatrie und Jugendmedizin e.V., AWMF-Registernummer 028-045, zur Zeit in Überarbeitung

[6] Wernicke JF et al. Changes in symptoms and adverse events after discontinuation of atomoxetine in children and adults with attention deficit/hyperactivity disorder: a prospective, placebo-controlled assessment. J Clin Psychopharmacol 2004;24(1):30-35, doi: 10.1097/01.jcp.0000104907.75206.c2


Apothekerin Dr. Verena Stahl
redaktion@daz.online


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