Auch ohne Entzug der Akutmedikation

Migräne-Antikörpertherapie bei Schmerzmittel-Übergebrauch hilfreich

13.08.2024, 07:00 Uhr

Bei auffälligem Analgetika- oder Triptan­konsum sollten die Patienten in der Apotheke über den Kopfschmerz durch Medikamenten-Übergebrauch aufgeklärt werden. (Foto: jsAuT_MigrXne / AdobeStock)

Bei auffälligem Analgetika- oder Triptan­konsum sollten die Patienten in der Apotheke über den Kopfschmerz durch Medikamenten-Übergebrauch aufgeklärt werden. (Foto: jsAuT_MigrXne / AdobeStock)


Einige Patienten mit Migräne entwickeln einen Kopfschmerz durch den Übergebrauch von Schmerz- und Migränemitteln. In der Vergangenheit wurde zunächst ein Entzug der Akutmedikation durchgeführt, ehe die medikamentöse Migräneprophylaxe startete. Inzwischen wird dieses Konzept zunehmend infrage gestellt. Am Universitäts­klinikum Essen wurde in einer retrospektiven Studie untersucht, inwiefern CGRP-Antikörper eine effektive und anhaltende Migräneprophylaxe ermöglichen, wenn vorher kein Entzug der Akutmedikation stattfindet.

Weltweit liegt die Prävalenz eines Kopfschmerzes durch den Übergebrauch von Schmerz- und Migränemitteln (Medication overuse headache, MOH) bei 0,7 bis 1% und verursacht hohe Kosten für die Gesellschaft. Personen, die an mehr als zehn Tagen pro Monat Migräne oder Spannungskopfschmerzen haben, entwickeln besonders häufig einen Kopfschmerz durch den Übergebrauch von Schmerzmitteln. Weitere Risikofaktoren sind:

  • weibliches Geschlecht
  • niedriger sozialer Status
  • Stress
  • körperliche Inaktivität
  • Rauchen
  • Übergewicht
  • abhängiges Verhalten
  • andere chronische Schmerzerkrankungen
  • psychiatrische Erkrankungen wie Depressionen oder Angster­krankungen

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Wenn akute Kopfschmerzen häufig auftreten und jeweils mit Schmerz- oder Migränemitteln behandelt werden, können sich aus episodischen schließlich chronische Kopfschmerzen entwickeln. MOH sind Kopfschmerzen, die an mindestens 15 Tagen pro Monat auftreten und mit der Einnahme von Triptanen, Mutterkornalkaloiden oder Kombinationsanalgetika an mindestens zehn Tagen oder mit der Einnahme von nichtsteroidalen Analgetika (NSAR) oder Paracetamol an mindestens 15 Tagen pro Monat behandelt werden.

Kopfschmerzpatienten, die in spezialisierten Kopfschmerzzentren in Deutschland behandelt werden, haben in 40 bis 50% der Fälle einen Kopfschmerz als Folge des Übergebrauchs von Schmerz- und Migränemitteln. Wenn vor dem chronischen Kopfschmerz kein episodischer Kopfschmerz bestand, muss durch geeignete bildgebende oder laborchemische Verfahren eine sekundäre Ursache (z. B. idiopathische intrakranielle Hypertension) ausgeschlossen werden.

Patienten, bei denen die häufige Einnahme von Schmerz- oder Migränemitteln auf die Entwicklung eines MOH schließen lässt, sollten in Apotheken eine Aufklärung dieser speziellen Art der Kopfschmerzen erhalten und an einen Kopfschmerzspezialisten verwiesen werden. Bereits die Beratung und Schulung der Patienten führten in Studien bei 64 bis 92% der Fälle zum Erfolg.

Reduziertes Schmerzempfinden

Bei Patienten mit MOH sinkt durch die häufige Einnahme von Schmerz- und Migränemitteln die Schmerzempfindungsschwelle im Nervensystem. Man vermutet, dass es durch den häufigen Einsatz von Schmerz- und Migränemitteln zu einer Kompensation kommt, indem die Rezeptordichte für schmerzvermittelnde Neurotransmitter erhöht wird. In der Folge sinkt die Schwelle, und die Patienten greifen häufiger zu Schmerz- und Migränemitteln. Beim Absetzen kommt es daher zu starken Kopfschmerzen. Bei Patienten, die ohne Opioide behandelt wurden und keine Komorbiditäten wie Depressionen aufweisen, kann ein Entzug ambulant durch Absetzen der Wirkstoffe erfolgen.

Wenn die alleinige Schulung der Patienten nicht ausreichend, um den Übergebrauch zu beenden, kann zusätzlich eine medikamentöse Migräneprophylaxe initiiert werden. Eigentlich gelten laut der S1-Leitlinie „Kopfschmerz bei MOH“ Betablocker, Flunarizin und Amitriptylin bei hochfrequenter und chronischer Migräne als Mittel der ersten Wahl. Allerdings gibt es nicht ausreichend valide Studien, ob zuvor ein Entzug der Akutmedikation durchgeführt werden muss.

Daher sollten zur Migräneprophylaxe bei Patienten mit MOH insbesondere Topiramat, Onabotulinumtoxin A oder die monoklonalen Antikörper Eptinezumab (Vyepti®), Erenumab (Aimovig®), Fremanezumab (Ajovy®) oder Galcanezumab (Emgality®) eingesetzt werden.

In einer retrospektiven Studie am Universitätsklinikum Essen wurde bei 291 Patienten mit Migräne untersucht, inwiefern die CGRP-Antikörper eine anhaltende Migräneprophylaxe ermöglichen, wenn vorher kein Entzug der Akutmedikation stattfindet. Die Patienten wurden in folgende vier Gruppen unterteilt:

  • episodische Migräne mit Medikamenten-Übergebrauch (EM-MO; n = 35)
  • episodische Migräne ohne Medikamenten-Übergebrauch (EM-noMO; n = 77)
  • chronische Migräne mit MOH (CM-MOH; n = 109)
  • chronische Migräne ohne MOH (CM-noMOH; n = 70)

Bei allen Patienten wurde eine Migräneprophylaxe mit einem der drei CGRP-Antikörper Erenumab, Fremanezumab oder Galcanezumab initiiert, ohne vorher einen Entzug der Akutmedikation durchzuführen.

In allen vier Gruppen konnte die monatliche Anzahl der Kopfschmerztage, der Migränetage und der Tage mit Akutmedikation signifikant reduziert werden. Die mittlere Beobachtungszeit betrug hierbei 8,4 Monate. Von der Gruppe mit chronischer Migräne und MOH erfüllten 60,6% (66 von 109) nicht mehr die Kriterien für Medikamenten-Übergebrauch oder MOH. Bei den Patienten mit episodischer Migräne konnte bei 88,6% (31 von 35) kein Medikamenten-Übergebrauch mehr während der CGRP-Antikörpertherapie festgestellt werden. Insgesamt kam es bei 15,4% der CM-MOH-Gruppe zu einem Rückfall, sodass diese Patienten am Ende des Beobachtungszeitraums wiederum der CM-MOH-Gruppe zugeordnet werden mussten. Hierbei zeigte sich kein signifikanter Unterschied zwischen den verschiedenen CGRP-Antikörpern.

Zusammenfassend kann festgestellt werden, dass zahlreiche Patienten mit MOH bereits durch Aufklärung und Schulung effektiv den Medikamenten-Übergebrauch beenden können. Bei episodischer und bei chronischer Migräne kann jedoch auch eine Migräneprophylaxe mit CGRP-Antikörpern initiiert werden, ohne vorher den Medikamenten-Übergebrauch der Schmerz- und Migränemittel zu beenden. Dies erfolgt dann in vielen Fällen begleitend zur Therapie mit CGRP-Antikörpern. Apotheken können hier einen wichtigen Beitrag leisten, um die Lebensqualität der Migränepatienten zu verbessern. Zunächst gilt es, bei auffälligem Analgetika- oder Triptan­konsum die Patienten über den Kopfschmerz durch Medikamenten-Übergebrauch aufzuklären. Weiterhin können diese an Kopfschmerzspezialisten verwiesen werden, um beispielsweise mit CGRP-Antikörpern eine effektive Migräneprophylaxe zu initiieren.

Literatur

Scheffler A, Basten J, Menzel L et al. Persistent effectiveness of CGRP antibody therapy in migraine and comorbid medication overuse or medication overuse headache – a retrospective real-world analysis. J Headache Pain 2024;(25):109

Diener HC, Kropp P et al. Kopfschmerz bei Übergebrauch von Schmerz- oder Migränemitteln (Medication Overuse Headache = MOH), S1-Leitlinie, 2022, in: Deutsche Gesellschaft für Neurologie (Hrsg.), Leitlinien für Diagnostik und Therapie in der Neurologie, www.dgn.de/leitlinien, Abruf am 5. August 2024


Dr. Karin Schmiedel, Apothekerin, DAZ-Autorin
redaktion@daz.online


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