Antihistaminika der ersten Generation

H1-Antihistaminika erhöhen Risiko für Krampfanfälle bei Kindern

13.09.2024, 17:59 Uhr

Antihistaminika der ersten Generation können bei Kindern das Risiko für epileptische Anfälle erhöhen.(Foto: Gatot/AdobeStock)

Antihistaminika der ersten Generation können bei Kindern das Risiko für epileptische Anfälle erhöhen.
(Foto: Gatot/AdobeStock)


Antihistaminika der ersten Generation werden in der Pädiatrie schon länger kritisch bewertet. Dass die Substanzen Krampfanfälle auslösen können, unterstreicht eine neue Studie aus Südkorea. Aus den Versicherungsdaten der südkoreanischen Krankenversicherung leiten die Autoren ein um 22% erhöhtes Anfallsrisiko ab, insbesondere bei Kindern zwischen sechs Monaten und zwei Jahren. 

H1-Antihistaminika der ersten Generation gehören immer noch zu den häufig eingesetzten Arzneistoffen, besonders bei Kindern. Zum Beispiel fragen Eltern bei einem Magen-Darm-Infekt ihrer Kinder häufig in der Apotheke nach Antihistaminika der ersten Generation wie Dimenhydrinat (z. B. Vomex A® Sirup), um das Erbrechen zu lindern. Hier muss das pharmazeutische Personal sorgfältig beraten. Zwar ist der Sirup ab 6 kg Körpergewicht zugelassen, aber nicht nur ist die Wirksamkeit bei Kleinkindern umstritten, dimenhydrinat- und diphenhydramin-haltige Präparate sind bei Kindern unter 3 Jahren Fallberichten zufolge mit schweren Nebenwirkungen wie Krampfanfällen verbunden, insbesondere nach Überdosierungen.
 

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Das stellte 2017 das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte in einem Stufenplanverfahren fest, das zusätzliche Warnhinweise für die Produktinformationen vorschrieb [1]: Die Präparate sollen bei Unter-3-Jährigen nicht zur Therapie banaler Gastroenteritiden und fieberhafte Infekte eingesetzt werden. Auch insgesamt werden die Antihistaminika der ersten Generation bei Kindern mittlerweile kritisch betrachtet [2]. Die Entwicklung der jungen Gehirne ist noch nicht abgeschlossen, sie sind deshalb anfälliger für medikamentöse Eingriffe. H1-Antihistaminika der ersten Generation passieren mühelos die Bluthirnschranke und können die Hirnströme beeinflussen.  

Anfallsrisiko in südkoreanischer Studie untersucht

Ein kürzlich publizierte südkoreanische selbstkontrollierte Fall-Crossover-Studie ging dem Anfallsrisiko bei Kindern nach. Das Forschungsteam griff dafür auf die Abrechnungsdaten der südkoreanischen Krankenversicherung zurück [3]. In den Jahren zwischen 2002 und 2005 kamen in Südkorea 1,9 Millionen Kinder auf die Welt, 11729 von ihnen (> 6 Monate) wurden für die Studie ausgewählt: Sie wurden aufgrund eines epileptischen Anfalls in die Notaufnahme eingeliefert und erhielten in der Zeit vor dem Anfall Verordnungen über Antihistaminika der ersten Generation. Darunter fielen unter anderem in Deutschland nicht gebräuchliche Substanzen wie Mequitazin oder Oxatomid, sowie solche, die hierzulande apothekenpflichtig (Dimenhydrinat, z. B. Vomex®, ab 6 kg Körpergewicht) oder rezeptpflichtig sind (Hydroxyzin, z. B. Atarax® ab 6 Jahren; Promethazin, z. B. Atosil®, ab 2 Jahren). 

Jedes Kind fungierte als seine eigene Kontrolle, denn Antihistaminika werden in der Regel kurzfristig (laut Studie 13 bis 18 Tage) eingesetzt, eventuelle Krampfanfälle treten als akute Folge ein und nicht zeitverzögert. Die Wissenschaftler gruppierten die Verordnungen von Antihistaminika vor dem Anfallsereignis deshalb in einen Untersuchungszeitraum (15 Tage vor dem Anfall) und zwei Kontroll-Perioden ein (31 bis 45 Tage vor dem Anfall; 61 bis 75 Tage vor dem Anfall).  
 

Risiko um 22% durch H1-Antihistaminika erhöht

Knapp der Hälfte (46,5%) der Kinder wurde während der Untersuchungsperiode Antihistaminika der ersten Generation verordnet, in den beiden Kontrollperioden waren es je 39,0% und 40,2%. Eine Verschreibung von Antihistaminika der ersten Generation war mit einer um 22% erhöhten Wahrscheinlichkeit für Krampfanfälle verbunden (adjustierte Odds Ratio AOR = 1,22; 95%-Konfidenzintervall [KI] = 1,13 bis 1,31). Erstverordnungen waren mit einem ähnlichen Ausgang verbunden (AOR = 1,25; 95%-KI = 1,14 bis 1,35).  

Begrenzten die Autoren den Untersuchungsintervall auf nur 10 oder 5 Tage vor dem Anfall, verstärkte das den Zusammenhang (10 Tage: AOR = 1,25; 95%-KI = 1,15 bis 1,36; 5 Tage: AOR = 1,36; 95%-KI = 1,23 bis 1,51). Sensitivitätsanalysen, bei denen die Wissenschaftler für Begleiterkrankungen kontrollierten oder Kombinationspräparate ausschlossen, kamen zu demselben Ergebnis. 

Krampfanfälle durch Antihistaminika - Kleinkinder gefährdet

Das erhöhte Risiko betraf vor allem die jüngsten Kinder zwischen sechs Monaten und zwei Jahren (AOR = 1,49; 95%-KI = 1,31 bis 1,70). Zwischen zwei und sechs Jahren war das Risiko nur noch leicht erhöht (AOR = 1,11; 95%-KI = 1,00 bis 1,24), darüber existierte kein Zusammenhang mehr (AOR = 1,10; 95%-KI = 0,94 bis 1,28). 

Gerade die ersten Lebensjahre seien den Autoren nach entscheidend für die Hirnentwicklung und die Kinder besonders anfällig für Krampfanfälle: Die Blut-Hirn-Schranke bildet sich in dem Alter noch aus, der Metabolismus ist noch nicht vollständig ausgereift und eine noch nicht abgeschlossene Myelinisierung der Nervenfasern erhöht die Anfallsneigung. Es sei den Forschern zufolge anzunehmen, dass die Antihistaminika die neuronale Exzitabilität auf verschiedenen Wegen erhöhten: durch Leeren der hypothalamischen Histaminspeicher, durch einen beeinträchtigten Stoffwechsel der Botenstoffe Glutamin und Gammahydroxybuttersäure (GABA) oder eine direkte Inhibition von Ionenkanälen, 
z. B. Kaliumkanälen. 

Sorgsame Abwägung

Die Studie sei die erste überhaupt, die einen solchen Zusammenhang bei Kindern feststellt, erklären die Autoren. Was bedeuten die Ergebnisse für die Praxis? Dafür lud das Journal JAMA Network Open Frank Max Charles Besag vom East London National Health Service Foundation Trust für einen begleitenden Kommentar ein [4]. Ihm zufolge müssen noch viele offene Fragen geklärt werden, um die Folgen für die Verordnungspraxis zu beurteilen. Klar sei aber schon jetzt, dass Antihistaminika der ersten Generation bei sehr jungen Patienten und trivialen Indikationen besser gemieden werden sollten. Sollten solche Substanzen verordnet werden, rät er dazu, die Eltern über die Ergebnisse dieser Studie aufzuklären, ohne vergessen hinzuzufügen, dass es noch zu früh sei, eindeutige Schlüsse zu ziehen. Gleichzeitig seien den Eltern Hinweise mit auf den Weg zu geben, was sie im Fall eines epileptischen Anfalls unternehmen sollten (siehe Kasten „Verhalten bei Krampfanfall“).

Verhalten bei Krampfanfall

Wie sich Eltern bei Krampfanfällen von Kindern verhalten sollten [5]: 

  • Gegenstände, die eine Verletzungsgefahr darstellen, außer Reichweite bringen 
     
  • Kopf mit Kissen oder Kleidungsstücken unterlegen 
     
  • Brille abnehmen 
     
  • Beengende Kleidungsstücke lösen 
     
  • Stabile Seitenlage nach Anfall

Literatur 
[1] Dimenhydrinat und Diphenhydramin: Überdosierung oraler und rektaler Darreichungsformen bei Kindern bis 3 Jahre (22.12.2017). Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte, www.bfarm.de/SharedDocs/Risikoinformationen/Pharmakovigilanz/DE/RV_STP/a-f/antihistaminika.html ;
[2] Moritz K et al. Problematische Antihistaminika. DAZ 2020;37:38 
[3] Kim JH et al. First-Generation Antihistamines and Seizures in Young Children. JAMA Netw Open 2024;7:e2429654 
[4] Besag FMC. First-Generation Antihistamines and Seizures in Young Children. JAMA Netw Open 2024;7:e2430295 
[5] https://www.kinderaerzte-im-netz.de/krankheiten/epilepsie/hilfe-beim-anfall/ (abgerufen am 09. September 2024) 


Dr. Tony Daubitz, Apotheker
redaktion@daz.online


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