Toxikologie

Neubewertung: Talkum ist wahrscheinlich krebserregend

02.10.2024, 16:45 Uhr

Körperpuder, Rezeptursubstanz oder Lebensmittelzusatz: Mit Talkum kommt jeder in Kontakt. Die Substanz ist wegen ihrer möglichen Gesundheitsrisiken jedoch zunehmend in der Kritik. (Foto: ipuwadol/AdobeStock)

Körperpuder, Rezeptursubstanz oder Lebensmittelzusatz: Mit Talkum kommt jeder in Kontakt. Die Substanz ist wegen ihrer möglichen Gesundheitsrisiken jedoch zunehmend in der Kritik. (Foto: ipuwadol/AdobeStock)


Die Internationale Agentur für Krebsforschung (IARC) hat in der jüngsten Ausgabe ihrer Monographien das krebserregende Potenzial von Talkum neu bewertet und von 2B („möglicherweise karzinogen“) hochgestuft auf 2A („wahrscheinlich karzinogen“). Was führte zu dieser Neubewertung?

Talkum ist die pulverisierte Form des Minerals Talk, chemisch ein Magnesiumsilikat-Hydrat (Mg3[(OH)2|Si4O10]). Es findet breite Anwendung als weiches, wasserabweisendes Gleitmittel in der Papier- und Kunststoffindustrie. In der Elektronikindustrie wird es als Bestandteil von Isoliermaterialien genutzt. Turner pudern damit ihre Hände, um bei Schweißbildung ein Abrutschen von den Geräten zu verhindern. Unter der Nummer E 553 b ist Talkum auch als Lebensmittelzusatzstoff zugelassen. In einigen pulvrigen Kosmetika und Pharmaka verhindert Talkum das Verklumpen des Produktes, auch in der Apothekenrezeptur wird es eingesetzt. 

Zu guter Letzt verwenden Chirurgen Talkum, um bei einer Pleurodese (Operation zur Verhinderung eines wiederholten Pneumothorax oder Pleuraergusses) Lungen- und Brustfell miteinander zu verkleben. Die meisten Menschen dürften also schon einmal mit Talkum in Kontakt gekommen sein. Ein Grund zur Sorge?

Körperpuder waren zuerst im Verdacht

In der 93. Ausgabe der IARC-Monographien aus dem Jahre 2010 wurde der perineale Gebrauch von Talkum-basierten Körperpudern als „möglicherweise karzinogen“ (2B) für den Menschen bewertet. Asbest-freies Talkum erhielt Stufe 3, nicht klassifizierbar hinsichtlich seiner Karzinogenität für den Menschen [2]. In den Vereinigten Staaten kam es in den folgenden Jahren zu einigen spektakulären Gerichtsurteilen. So verurteilte eine Jury in Los Angeles im Jahr 2017 den Pharmakonzern Johnson & Johnson zur Zahlung einer Strafe von mehr als 400 Millionen Dollar an eine Frau, die nach lebenslanger Anwendung von Talkum-haltigem Körperpuder im Genitalbereich an Eierstockkrebs erkrankt war [3]. Der Konzern hat das Talkum-haltige Produkt inzwischen vom Markt genommen [4].

Kanzerogenität unabhängig von Asbest-Kontamination

Ein Problem beim Abbau des Minerals ist, dass Talk in der Natur manchmal mit Asbest assoziiert vorkommt. In der Vergangenheit kam es daher immer wieder zu Asbest-Kontaminationen in Talkum-haltigen Produkten. Könnte hier ein Zusammenhang zwischen Kontaminationen und Krebsrisiko bestehen? Die IARC führt an, dass begrenzte Hinweise für Krebs in Menschen, ausreichende Hinweise für Krebs in Tieren und starke mechanistische Hinweise in humanen Primärzellen zur Neubewertung des Krebsrisikos geführt hätten. Zwei Studien mit Talkum-exponierten Arbeiterinnen der Papierindustrie zeigten zwar ein erhöhtes Risiko für Eierstockkrebs. Eine Asbest-Kontamination konnte hier aber nicht sicher ausgeschlossen werden. Arbeiter in Talkminen, die als gesichert Asbest-frei galten, hatten kein erhöhtes Lungen- oder Bauchkrebsrisiko. Ratten dagegen, die lebenslang inhalativ Asbest-freiem Talkum ausgesetzt waren, entwickelten verschiedene gut- und bösartige Tumore sowie einige ungewöhnliche Krebsarten [5]. Mechanistische Studien zeigten in vivo und in vitro, dass Talkum einige Charakteristika eines Karzinogens aufweist. So induziert es chronische Entzündungsreaktionen und verändert Signalwege von Zellproliferation und Zelltod. Auch Asbest verursacht in der Lunge chronische Entzündungsreaktionen.

Ein besonders kritischer Aspekt des Asbests ist seine faserige Struktur. Fasern mit einem Verhältnis von Länge zu Durchmesser von größer als 3 : 1, einer Länge von über 5 µm und einem Durchmesser von unter 3 µm sind besonders gefährlich, da sie tief in die Lunge eindringen und hier nicht wieder abgebaut werden, sondern im Gewebe verbleiben [6]. Makrophagen arbeiten sich erfolglos an ihnen ab. Talkum kann in verschiedenen Formen vorliegen, unter anderem lamellar und faserig.

Inhalation führt zu längerem Verbleib als orale Aufnahme

In Tierversuchen wurde das aufgenommene Pulver nach einiger Zeit eliminiert. Über vier Wochen inhaliertes Talkum wurde vom Organismus nach vier bis zwölf Monaten entfernt. Oral aufgenommenes Talkum hingegen wurde bereits nach kurzer Zeit nahezu vollständig wieder ausgeschieden. Während einer Pleurodese in den Körper verbrachtes Talkum scheint jedoch über einen längeren Zeitraum im Körper zu bleiben. Zudem wurde in einigen menschlichen Biopsien nachgewiesen, dass Talkum vom Perineum bis in die Ovarien gelangen kann [6].

Zweithöchste Risikostufe

Mit Stufe 2A gilt für Talkum die zweithöchste Risikoklassifizierung der IARC, gleichauf mit Noxen wie Schichtarbeit, Acrylamid und rotem Fleisch. Asbest und Asbest-haltige Mischungen gelten mit Stufe 1 als sicher karzinogen für den Menschen.

Art der Exposition entscheidend

Der Krebsinformationsdienst des Deutschen Krebsforschungszentrums verweist darauf, dass zur Bewertung des individuellen Risikos die Begleit­umstände der Exposition entscheidend sind [8]. Dabei spielt unter anderem eine Rolle, mit welchem Organ und wie häufig ein Mensch mit einer Substanz in Kontakt kam. Im Falle von Talkum scheint das Risiko für Menschen erhöht, die die Substanz über Jahre eingeatmet oder im Genitalbereich angewendet haben. Grund zur Sorge besteht bei mit Asbest kontaminiertem Talkum. Gelegentlicher Kontakt mit Talkum in pharmazeutischer Qualität und definierter Partikelgröße in Kosmetika oder Medikamenten dürfte aber weiterhin unproblematisch sein. Produzenten könnten sich trotzdem aufgrund der negativen Aufmerksamkeit, die die Neubewertung in der Presse erzeugt, veranlasst sehen, Talkum in ihren Produkten zu ersetzen.

Literatur

[1] Internationale Agentur für Krebsforschung. Talc and Acrylonitrile. Monograph Vol. 136, 2024

[2] Internationale Agentur für Krebsforschung. Carbon Black, Titanium Dioxide, and Talc: Monograph Vol. 93, 2010

[3] Rabin RC. $417 Million Awarded in Suit Tying Johnson’s Baby Powder to Cancer. The New York Times, 22. August 2017

[4] Moll D. Johnson & Johnson ersetzt Talkum durch Maisstärke in Babypuder. DAZ.online, 8. September 2022

[5] NTP Toxicology and Carcinogenesis Studies of Talc (CAS No. 14807-96-6) (Non-Asbestiform) in F344/N Rats and B6C3F1 Mice (Inhalation Studies). Natl Toxicol Program Tech Rep Ser 1993;421:1–287

[6] Gerhard R, Eschenhagen T, Westendorf J. Toxikologie. 4. Auflage 2019, Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft Stuttgart

[7] Stayner LT et al. Carcinogenicity of talc and acrylonitrile. Lancet Oncol 2024;25(8):962-963, doi: 10.1016/S1470-2045(24)00384-X

[8] Talkum: krebserregend? Neubewertung der Weltgesundheitsorganisation. Krebsinformationsdienst des Deutschen Krebsforschungszentrums. Stand 10. Juli 2024, www.krebsinformationsdienst.de/aktuelles/detail/talkum-krebserregend

[9] Highlights from September RAC and SEAC meetings. European Chemicals Agency, 26. September 2024, echa.europa.eu/de/-/highlights-from-september-2024-rac-and-seac-meetings


Ulrich Schreiber, MSc Toxikologie, DAZ-Autor
redaktion@daz.online


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