An die eigene Nase fassen

Menschen mit Adipositas – auch im Gesundheitswesen wird stigmatisiert!

14.10.2024, 17:50 Uhr

Mitarbeitende im Gesundheitswesen tragen dazu bei, dass sich Patienten aufgrund ihres Übergewichts diskriminiert fühlen. Das muss sich laut der neuen Adipositas-Leitlinie ändern. (Foto: AntonioDiaz/AdobeStock)

Mitarbeitende im Gesundheitswesen tragen dazu bei, dass sich Patienten aufgrund ihres Übergewichts diskriminiert fühlen. Das muss sich laut der neuen Adipositas-Leitlinie ändern. (Foto: AntonioDiaz/AdobeStock)


Die Stigmatisierung von Menschen mit Adipositas hat negative Auswirkungen auf deren psychische und physische Gesundheit – und findet sogar im Gesundheitswesen statt. Diesen Zusammenhang stellen die Autoren der aktualisierten Leitlinie „Prävention und Therapie der Adipositas“ ins Zentrum eines neuen Leitlinienkapitels.

Als „soziale Abwertung und Herabwürdigung von Menschen auf Basis ihres Übergewichts“ wird die Stigmatisierung Adipöser definiert. „Dicke“ werden als willensschwach, undiszipliniert und unmotiviert dargestellt, Betroffenen die alleinige Verantwortung für ihr Übergewicht zugeschoben. Oft haben auch die Betroffenen selbst diese negativen Gefühle ihrem Körpergewicht gegenüber, man spricht dann von Selbststigmatisierung.

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Als Folge dieses gesellschaftlich breit etablierten Stigmas werden Menschen mit Übergewicht gehänselt, gemobbt, teilweise sogar konkret ausgegrenzt. Betroffene erleiden dadurch psychische und physische Schäden. Beispielsweise treten depressive Symptome, Ess- und Angststörungen, aber auch erhöhter Blutdruck, erhöhte Entzündungsparameter und eine beeinträchtigte Kontrolle des Glucosestoffwechsels auf. Auch für die Erkrankung kann erlebte Stigmatisierung negative Auswirkungen haben: Betroffene zeigen ein schlechteres Self-Monitoring des Essverhaltens, eine erhöhte Energieaufnahme, ein teilweise enthemmtes Essverhalten, allgemein eine Verschlechterung des Verhaltens zum Gewichtsmanagement.

Auch im Gesundheitswesen wird stigmatisiert

So weit eigentlich nichts Neues, denkt man vielleicht, „der Laie versteht Adipositas eben nicht als Krankheit“? Hier rüttelt das neue Kapitel der S3-Leitlinie auf: Auch im Gesundheitswesen gibt es „deutliche Evidenz“ für gewichtsbezogene Stigmatisierung, stellen die Autoren klar. Ärzte, Psychologen, Ernährungs- und Bewegungstherapeuten sowie Pflegepersonal werden exemplarisch als Berufsgruppen genannt. Patienten mit Adipositas werden von Behandlern mit der negativen Konnotation der Diagnose Adipositas konfrontiert. Sie erhalten unreflektierte Ratschläge zur Gewichtsreduktion, Gesundheitsprobleme werden ohne eingehende Untersuchung auf die Adipositas zurückgeführt, die Adipositas nicht angemessen oder falsch therapiert.

Vermeiden von Kontakten zu Ärzten und Therapeuten

Die Folgen sind fatal: Betroffene entwickeln Misstrauen gegenüber Behandlern, vermeiden Termine bei Therapeuten, nehmen beispielsweise präventivmedizinische Untersuchungen zur Krebsvorsorge nicht mehr war.

Adipositas ist im Gesundheitssystem (noch) nicht in vollem Umfang als Krankheit anerkannt, so die Leitlinienautoren. Die eingeschränkte Kostenübernahme durch die Krankenkassen für die Therapie und eine unzureichende Thematisierung in der Ausbildung der Gesundheitsberufe sind die Folgen.

Neuer Fokus in der Ausbildung

In der Leitlinie werden mehrere Empfehlungen ausgesprochen, um den Umgang von Gesundheitsberuflern mit Betroffenen zu verändern: Die Ausbildungscurricula sollen angepasst werden, so dass nicht nur Ätiologie, Mechanismen, Prävention und Behandlung der Adipositas gelehrt werden, sondern auch die klinischen Folgen gewichtsbezogener Stigmatisierung. Zukünftigen Angehörigen der Gesundheitsberufe sollen „praktische Fertigkeiten für einen nicht-stigmatisierenden Umgang mit Menschen mit Adipositas“ vermittelt werden. Ziel ist, dass die medizinische Versorgung frei von gewichtsbezogener Stigmatisierung wird. Die gesundheitlichen Auswirkungen von Stigmatisierungserlebnissen soll auch den Betroffenen in der Therapie und der Präventionsarbeit bewusst gemacht werden.

Eine weitere Forderung der Leitlinienautoren: Einrichtungen des Gesundheitswesens sollen eine adäquate Ausstattung für die Behandlung adipöser Patienten bereithalten, beispielsweise Schwerlaststühle oder auch für überdurchschnittlich hohe Körpergewichte geeignete Körperwaagen, um niemanden aufgrund seines Körpergewichts von einer Behandlung ausschließen zu müssen. 

Das Wording verändern

Schließlich fordert die Leitlinie auch eine nicht-stigmatisierende Darstellung der Adipositas in den Medien und in Public Health-Kampagnen. So verstärke die Darstellung, eine Gewichtsreduktion wäre durch Diät und körperliche Aktivität quasi in Eigenregie einfach machbar, die Stigmatisierung Betroffener. Auch eine neutrale bildliche Darstellung sowie eine nicht-stigmatisierende Sprache wird gefordert. „People first“ ist hier ein Grundsatz, also Betroffene als „Menschen mit Adipositas“ zu bezeichnen, anstelle von „adipöse Menschen“ oder „Adipöse“.

Literatur: 

Prävention und Therapie der Adipositas. S3-Leitlinie der Deutschen Adipositas-Gesellschaft (DAG) e. V.; AWMF-Reg.Nr. 050-001, Stand 5. Oktober 2024


Dr. Sabine Werner, Apothekerin und Redakteurin
readktion@daz.online


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