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Agonisten am Glucagon-like-peptide (GLP)-1-Rezeptor entwickeln sich zum Allheilmittel des 21. Jahrhunderts: Ob Diabetes, Adipositas, Herz- oder Niereninsuffizienz, eine wöchentliche Injektion lindert die Krankheiten beträchtlich. Jetzt stellen Ärzte fest, dass ihre Patienten nicht nur abnehmen, sondern auch weniger Alkohol trinken oder rauchen. Was kann die Wirkstoffklasse in der Suchtmedizin leisten?
Über wenige Arzneimittel kann man im Apothekenalltag so ausführlich und lebhaft mit den Patienten diskutieren wie über die GLP-1-Agonisten. Während die tägliche Blutdrucktablette für manche Patienten so spannend wie das Glas Wasser scheint, mit dem sie eingenommen wird, wecken Semaglutid (Ozempic®) und Tirzepatid (Mounjaro®) tiefgreifendes Interesse: Ungeliebte Pfunde purzeln zusehends, und auch der lästige Heißhunger – einfach weg, berichtet manch einer strahlend. Dass nicht nur die Kühlschranktür geschlossen bleibt, sondern auch die Weinflasche oder die Zigarettenpackung, beobachten mittlerweile auch Ärzte bei ihren Patienten [1].
Völlig aus der Luft gegriffen scheint der Zusammenhang nicht, das belegen Tierversuche. Schon vor mehr als zehn Jahren stellten Forscher fest, dass Darmhormone wie Leptin, Ghrelin oder eben GLP-1 nicht nur das Essverhalten beeinflussen, sondern auch das Suchtverhalten [2, 3]. Mittlerweile bestätigen unzählige Tierversuche: Mit GLP-1-Agonisten konsumieren Nager deutlich weniger Alkohol, Nicotin, Cocain oder Heroin [4].
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Heterogene Studienlage
Ob sich diese Ergebnisse aber ohne Weiteres auf den Menschen übertragen lassen, ist unklar. Nur wenige Studien existieren bis dato. Die meisten findet man zur Alkohol- und Nicotinsucht. Eine Social-Media-basierte Studie rekrutierte regelmäßig trinkende, adipöse Probanden über verschiedene Online-Plattformen [5]. Teilnehmer, die regelmäßig Semaglutid oder Tirzepatid anwendeten, tranken nach eigenen Angaben signifikant weniger Alkohol, sowohl seit Therapiebeginn als auch im Vergleich mit den therapienaiven Kontrollprobanden. Eine internationale Kohortenstudie zeigte außerdem, dass das Risiko für Neudiagnosen oder Rezidive einer Alkoholmissbrauchsstörung bei adipösen Patienten unter Semaglutid nur halb so hoch lag [6]. Unter Typ-2-Diabetikern war der Zusammenhang allerdings etwas schwächer ausgeprägt. Die Autoren vermuten, dass die niedrigere für Diabetiker zugelassene Dosis dafür verantwortlich sein könnte.
Die einzige randomisierte, kontrollierte Studie, in der Alkoholkonsum unter GLP-1-Agonisten untersucht wurde, endete allerdings erfolglos: Eine 26-wöchige Behandlung mit der First-In-Class-Substanz Exenatid (Byetta®) reduzierte die Zahl der Tage mit starkem Alkoholkonsum nicht [7]. Funktionelle MRT-Untersuchungen zeigten aber, dass wichtige Hirnregionen der Probanden am Ende der Studie signifikant weniger auf Alkoholreize wie Bilder von Weinflaschen reagierten. Und eine Post-hoc-Analyse mit nur adipösen Teilnehmern (Body-Mass-Index > 30 kg/m2) offenbarte, dass in dieser Subgruppe tatsächlich 23,6 % weniger Tage mit starkem Alkoholkonsum vorlagen. Wissenschaftler werten dies als Hinweis, dass vielleicht nicht alle Patienten in gleichem Ausmaß von den GLP-1-Agonisten profitieren [4].
Gleichzeitig ruhen die Hoffnungen auf den potenteren Vertretern wie Semaglutid: Eine besonders notorische Gruppe von Trinkern im Tierreich hielt der Wirkstoff bereits von der Flasche ab: Die auf der karibischen Insel St. Kitts beheimatete Südliche Grünmeerkatze (eine Primatenart) scheint irgendwann auf den Geschmack des Alkohols gekommen zu sein. Ganze 17 % der Tiere fallen sogar in die Kategorie „schwere Trinker”. Den Stoff bekommen sie meist von Touristen, als Geschenk oder mittels tierischer „Beschaffungskriminalität“. In einer Studie ihres Alkoholkonsums in Abhängigkeit von Semaglutid bekamen sie unter kontrollierten Bedingungen eine 10%-ige Alkohol-Lösung zur Verfügung gestellt – die sie signifikant seltener anrührten, wenn sie mit Semaglutid behandelt wurden [8].
Rauchstopp ohne Gewichtszunahme
Studien mit Rauchern endeten ebenfalls uneinheitlich. In einer sechswöchigen Studie wurden die Teilnehmer mit Nicotinpflastern und einer entwöhnungsunterstützenden Beratung versorgt [9]. Die Hälfte der Probanden erhielt außerdem eine wöchentliche Exenatid-Injektion, der Rest Placebo-Injektionen. Ohne das Inkretinmimetikum schafften 26 % der Teilnehmer den Rauchstopp, mit dem GLP-1-Agonisten ganze 46 %. Zudem schien Exenatid das Verlangen nach den Zigaretten zu vermindern und die oft mit einem Rauchstopp einhergehende Gewichtszunahme abzumildern. Eine weitere randomisierte Studie mit dem Second-In-Class-Wirkstoff Dulaglutid (Trulicity®) stellte dagegen keinen Unterschied zum Placebo in den Abstinenzraten fest [10]. Die günstige Wirkung des Inkretinmimetikums auf das Gewicht unterstreicht die Studie allerdings ebenfalls. Interessanterweise tranken die Studienteilnehmer unter Dulaglutid knapp 30 % weniger Alkohol. Das ergaben die Ergebnisse einer Zweitanalyse der Studiendaten [11].
GLP-1-Agonisten gegen harte Drogen
Viele Berührungspunkte haben Apothekenmitarbeiter auch mit dem Management der Opioid-Abhängigkeit: Sie geben Substitutionsmittel ab oder können dabei helfen, einen Missbrauch verschriebener Opioidanalgetika aufzudecken. Letztes Jahr endete eine Interventionsstudie, in der Liraglutid (Saxenda®) an 27 Patienten mit Opioidkonsumstörung getestet wurde [12]. Die Veröffentlichung der Ergebnisse steht zwar noch aus, doch verkündeten die Wissenschaftler bereits auf der Jahrestagung der American Association for the Advancement of Science (AAAS) Anfang des Jahres, dass das Inkretinmimetikum das Craving der Probanden um 40 % reduzierte [13]. Eine aktuelle amerikanische Kohortenstudie untersuchte außerdem ein Kollektiv von mehr als 500.000 Patienten mit Opioidmissbrauchstörung [21]. Ein kleiner Teil der Patienten (1,6 %) wurde im Untersuchungszeitraum zwischen 2014 und 2022 mit GLP-1-Agonisten behandelt. Die Behandlung verminderte die Inzidenz von Opioid-Überdosen um 40%. In einer parallel untersuchten Kohorte von 800.000 Patienten mit Alkoholmissbrauchstörung halbierte sich die Rate der Alkoholintoxikationen sogar.
Während der Weg aus Alkohol-, Nicotin- und Opiatabhängigkeit mit bereits erhältlichen Medikamenten unterstützt werden kann, fehlen entsprechende Mittel bei anderen Substanzgebrauchsstörungen, zum Beispiel bei Psychostimulanzien oder Cannabis. Ein erfolgreicher Einsatz von GLP-1-Agonisten wäre also ein Gamechanger. Allerdings steckt die Forschung dazu noch in den Kinderschuhen. In einer Phase-I-Studie mit drei cocainabhängigen Teilnehmern konnte zumindest die gute Verträglichkeit von Exenatid bei dieser Patientengruppe unter Beweis gestellt werden [14]. Für eine Cannabis-Abhängigkeit legen internationale Kohortendaten nahe, dass Semaglutid die Neudiagnose oder wiederkehrende Diagnose einer solchen Abhängigkeitsstörung um 50 bis 60 % reduzierte [15].
Hemmung des Belohnungssystems
Tierversuche mit der Substanzklasse deuten nicht nur auf ein verringertes Suchtverhalten hin, sondern liefern auch erste mechanistische Einblicke, wie die Inkretinmimetika im Gehirn wirken könnten. Der Hauptfokus liegt – wenig überraschend – auf dem mesolimbischen System, umgangssprachlich Belohnungssystem. Dessen Neuronen ziehen von der Area tegmentalis ventralis im Mittelhirn neben anderen Strukturen vor allem zum Nucleus accumbens (s. Abb). Schütten die Neuronen Dopamin aus, verspüren wir das bekannte Belohnungsgefühl. Wie viel des Glückshormons freigesetzt wird, hängt von vielen Faktoren ab: Die Nervenzellen besitzen viele Rezeptoren für unterschiedliche Signalstoffe, so auch für das Glucagon-like-Peptide-1, das für weniger Dopaminausschüttung sorgt [16]. Unter anderem deshalb zügeln GLP-1-Agonisten Heißhungerattacken – vielleicht nicht nur auf Essen, sondern auch auf Genussmittel und Drogen? Tierversuche zumindest haben gezeigt, dass die substanzinduzierte Dopaminfreisetzung durch die Inkretinmimetika reduziert wird [4]. GLP-1 entsteht zwar vor allem im Darm und wird abgebaut, ehe es ins Gehirn gelangt, doch kann es auch von Neuronen im Gehirn selbst produziert werden.
Eine andere Theorie befasst sich mit der Hypothalamus-Hypophysen-Nebennierenrinden-Achse, kurz Stressachse. Im Tierversuch zeigte sich, dass Cocain zur vermehrten Produktion von Corticosteron führt, was Neuronen ihrerseits dazu bringt, GLP-1 zu produzieren, um den Konsum zu zügeln [17]. Es handelt sich also um ein physiologisches System zur Suchtminderung. Inkretinmimetika könnten diesen Pfad zusätzlich stimulieren oder zumindest die Stressantwort regulieren [4, 17]. Nicht zuletzt beeinflussen GLP-1-Agonisten kognitive Vorgänge und reduzieren Entzündungsvorgänge, weshalb sie auch im Hinblick auf neurodegenerative Vorgänge untersucht werden [4]. Auch eine profanere Begründung ist denkbar: Gerade am Anfang der Therapie können die GLP-1-Agonisten zu Übelkeit und Unwohlsein führen – und deshalb möglicherweise die Lust auf den Substanzkonsum mindern. Solche peripheren Effekte sollten zwar nicht unterschätzt werden, sie stellen Wissenschaftlern zufolge aber wohl nicht den Hauptmechanismus dar [4].
Hoffnungsträger Semaglutid?
Auch wenn die Versuche am Menschen bislang wenig erfolgreich waren, besteht die Hoffnung, dass die potenteren Agonisten wie Semaglutid deutlichere Ergebnisse liefern könnten. Doch da gibt es ein Hindernis: die Blut-Hirn-Schranke. Während Exenatid und Dulaglutid die Barriere mühelos überwinden, schafft das veresterte Semaglutid das laut einer Studie von Novo Nordisk nicht [4, 18]. Möglicherweise muss dieses Ergebnis aber revidiert werden: In einem Tierversuch zum Alkohol-Trinkverhalten von Ratten konnte Semaglutid im Gehirn der Tiere nachgewiesen werden [19]. Die Studienautoren postulieren, dass der Alkohol die Blut-Hirn-Schranke durchlässiger mache.
Eindeutige Antworten liefern können nur randomisierte, kontrollierte Studien. Derzeit laufen gleich mehrere mit verschiedenen GLP-1-Agonisten zum Rauchverhalten und zum Alkoholabusus, darunter auch einige mit Semaglutid. Neue Erkenntnisse werden also nicht lange auf sich warten lassen. Gleichzeitig zeigt die Erfahrung mit bisherigen Anti-Craving-Substanzen bei der Alkoholmissbrauchsstörung, dass diese trotz nachgewiesener, wenn auch moderater Wirkung wenig in Anspruch genommen werden [20]. Daher bleibt es neben der Suche nach wirksamen Pharmaka also mindestens genauso wichtig, für das Thema zu sensibilisieren, Stigmen abzubauen und Betroffene zu unterstützen.
Literatur
[1] Rubin R. Could GLP-1 Receptor Agonists Like Semaglutide Treat Addiction, Alzheimer Disease, and Other Conditions? JAMA 2024;331(18):1519-1521, doi: 10.1001/jama.2024.1017
[2] Egecioglu E et al. The glucagon-like peptide 1 analogue Exendin-4 attenuates alcohol mediated behaviors in rodents. Psychoneuroendocrinology 2013;38(8):1259-70, doi: 10.1016/j.psyneuen.2012.11.009
[3] Jerlhag E et al. Requirement of central ghrelin signaling for alcohol reward. Proc Natl Acad Sci USA 2009;106(27):11318-23, doi: 10.1073/pnas.0812809106
[4] Bruns Vi N et al. IUPHAR review ‒ Glucagon-like peptide-1 (GLP-1) and substance use disorders: An emerging pharmacotherapeutic target. Pharmacol Res 2024;207:107312, doi: 10.1016/j.phrs.2024.107312
[5] Quddos F et al. Semaglutide and Tirzepatide reduce alcohol consumption in individuals with obesity. Sci Rep 2023;13(1):20998, doi: 10.1038/s41598-023-48267-2
[6] Wang W et al. Associations of semaglutide with incidence and recurrence of alcohol use disorder in real-world population. Nat Commun 2024;15(1):4548, doi: 10.1038/s41467-024-48780-6
[7] Klausen MK et al. Exenatide once weekly for alcohol use disorder investigated in a randomized, placebo-controlled clinical trial. JCI Insight 2022;7(19):e159863, doi: 10.1172/jci.insight.159863
[8] Fink-Jensen A et al. Effect of the glucagon-like peptide-1 (GLP-1) receptor agonist semaglutide on alcohol consumption in alcohol-preferring male vervet monkeys. Psychopharmacology (Berl) 2024 Jun 17, doi: 10.1007/s00213-024-06637-2
[9] Yammine L et al. Exenatide Adjunct to Nicotine Patch Facilitates Smoking Cessation and May Reduce Post-Cessation Weight Gain: A Pilot Randomized Controlled Trial. Nicotine Tob Res 2021;23(10):1682-1690, doi: 10.1093/ntr/ntab066
[10] Lengsfeld S et al. Effect of dulaglutide in promoting abstinence during smoking cessation: a single-centre, randomized, double-blind, placebo-controlled, parallel group trial. EClinicalMedicine 2023;57:101865, doi: 10.1016/j.eclinm.2023.101865
[11] Probst L et al. Effects of dulaglutide on alcohol consumption during smoking cessation. JCI Insight 2023;8(22):e170419, doi: 10.1172/jci.insight.170419
[12] Use of a GLP-1R Agonist to Treat Opioid Use Disorder. ClinicalTrials.gov ID NCT04199728. Stand 5. März 2024, www.clinicaltrials.gov/study/NCT04199728
[13] Appenzeller T. Obesity drug cuts opiate craving. Researchers plan to see whether GLP-1 drugs may be used to combat addiction. Science News 21. Februar 2024, www.science.org/content/article/obesity-drug-cuts-opiate-craving
[14] Yammine L et al. Feasibility of Exenatide, a GLP-1R Agonist, for Treating Cocaine Use Disorder: A Case Series Study. J Addict Med 2023;17(4):481-484, doi: 10.1097/ADM.0000000000001147
[15] Wang W et al. Association of semaglutide with reduced incidence and relapse of cannabis use disorder in real-world populations: a retrospective cohort study. Mol Psychiatry 2024;29(8):2587-2598, doi: 10.1038/s41380-024-02498-5
[16] Volkow ND et al. The dopamine motive system: implications for drug and food addiction. Nat Rev Neurosci 2017;18(12):741-752, doi: 10.1038/nrn.2017.130
[17] Schmidt HD et al. Glucagon-Like Peptide-1 Receptor Activation in the Ventral Tegmental Area Decreases the Reinforcing Efficacy of Cocaine. Neuropsychopharmacology 2016;41(7):1917-28, doi: 10.1038/npp.2015.362
[18] Gabery S et al. Semaglutide lowers body weight in rodents via distributed neural pathways. JCI Insight 2020;5(6):e133429, doi: 10.1172/jci.insight.133429
[19] Aranäs C et al. Semaglutide reduces alcohol intake and relapse-like drinking in male and female rats. EBioMedicine 2023;93:104642, doi: 10.1016/j.ebiom.2023.104642 .
[20] Rösner S et al. Anti-Craving-Substanzen bei Alkoholabhängigkeit. Leading Opinions Neurologie und Psychiatrie 2019;5:27-29
[21] Queadan F et al. The association between glucose-dependent insulinotropic polypeptide and/or glucagon-like peptide-1 receptor agonist prescriptions and substance-related outcomes in patients with opioid and alcohol use disorders: A real-world data analysis. Addiction 2024, doi: 10.1111/add.16679 (Online-Vorabveröffentlichung)
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