Studie aus Kanada

Vorhofflimmern: Besser in die Apotheke?

08.11.2024, 11:00 Uhr

Apotheke als Anlaufstelle bei Vorhofflimmern? Eine kanadische Studie ging dieser Frage nach.  (Foto: IMAGO / Zoonar)

Apotheke als Anlaufstelle bei Vorhofflimmern? Eine kanadische Studie ging dieser Frage nach.  (Foto: IMAGO / Zoonar)


Vorhofflimmern ist eine der häufigsten Ursachen für einen Schlaganfall. Trotzdem werden viele Patienten noch nicht optimal präventiv mit Antikoagulanzien behandelt. Eine klinische Studie aus Kanada hat untersucht, wie Vorhofflimmern in der Apotheke erkannt und die passende Medikation angesetzt werden kann.

Vorhofflimmern ist eine häufig unerkannte Herzrhythmusstörung, bei der die Vorhöfe der Herzkammern in übermäßiger Frequenz kontrahieren. Die Inzidenz liegt in Deutschland bei 1 bis 2% der Bevölkerung [1]. Aus einem Vorhofflimmern können sich viele weitere Probleme ergeben, unter anderem sinkt die Herzleistung, da die Ventrikel weniger gefüllt werden. Auf Dauer können entstehende Schäden der Herzmuskulatur zu Herzinsuffizienz führen [2]. Eine akute Gefahr ergibt sich daraus, dass der Blutfluss gestört wird. So können sich Thromben bilden, die vom Herz in die Blutbahn befördert werden und zu einem Kapillarverschluss führen können. Das Risiko für einen ischämischen Schlaganfall ist daher bei Patienten mit einem Vorhofflimmern um das Vier- bis Fünf­fache erhöht [1]. Zur Risikoreduktion werden Antikoagulanzien eingesetzt. Sowohl Vitamin-K-Antagonisten als auch die neuen direkten oralen Antikoagulanzien (DOAK) sind zur Prophylaxe indiziert [1, 2]. Doch klaffen an dieser Stelle große Behandlungs­lücken. Patienten mit bekanntem Vorhofflimmern sind suboptimal oder gar nicht therapiert, und bei vielen ist ein Vorhofflimmern noch gar nicht diagnostiziert. Hier setzt die Studie der kanadischen Wissenschaftler an: Sie wollten herausfinden, ob in der öffentlichen Apotheke ein nicht oder untertherapiertes Vorhofflimmern erkannt werden kann, um daraufhin direkt die adäquate Therapie zur Antikoagulation einzuleiten [3].

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Screening in der Apotheke

Die an der Studie teilnehmenden Apotheker hatten zuvor ein intensives Trainingsprogramm zum Thema Vorhofflimmern und Antikoagulation bekommen. Konkret ging es dabei um die Epidemiologie der Erkrankung, Schlaganfall-Risiken, Indikationen für eine orale Antikoagulation, zugehörige Dosierungen und Methoden, um das Blutungsrisiko abzuschätzen [3]. In der Studie wurde das Augenmerk auf über 65-Jährige gelegt. Zusätzlich zum Vorhofflimmern sollte jeweils noch mindestens ein weiterer Risikofaktor für einen Schlaganfall vorliegen. Dazu zählen unter anderem Herzinsuffizienz, Bluthochdruck, Typ-2-­Diabetes oder ein vorangegangener Schlaganfall. In der Apotheke wurde die elektronische Patientenakte nach entsprechenden Kriterien sowie einem diagnostizierten Vorhofflimmern durchforstet. Um das Gesamtrisiko zu quantifizieren, wurde für die Patienten der CHADS2-Score bestimmt (siehe Kasten „CHADS2- und CHA2DS2VA-Score“). Wenn noch keine Vorhofflimmern-Diagnose vorlag, wurde der Patient in der Apotheke mit einem mobilen EKG-Gerät untersucht. Bei Verdacht auf eine Herzrhythmusstörung wurde der Patient an seinen Arzt verwiesen, um die Diagnose zu bestätigen. Die Medikation von so identifizierten Patienten wurde daraufhin auf eine angemessene Antikoagulation überprüft. War das nicht der Fall, also entweder eine unpassende Dosierung oder gar kein Antikoagulans, wurde der Patient randomisiert entweder der Interventions- oder der Kontrollgruppe zugeordnet.

Therapie durch den Apotheker

In der Interventionsgruppe setzte der Apotheker selbst anhand von Leitlinien-Algorithmen die passende Therapie an. Dazu zählte auch die Optimierung einer bestehenden Therapie mit einem Vitamin-K-Antagonisten. In der Kontrollgruppe wurde den Patienten dagegen empfohlen, ihren Arzt auf­zusuchen. Außerdem wurde der Arzt über das unbehandelte oder untertherapierte Vorhofflimmern informiert. Nach drei Monaten wurden diese Patienten erneut überprüft und falls der Arzt keine passende Therapie angesetzt hatte, geschah das dann durch den Apotheker. In beiden Gruppen wurden die Patienten zum Thema Antikoagulation geschult [3].

CHADS2- und CHA2DS2VA-Score

Der CHADS2-Score dient dazu, bei bestehendem Vorhofflimmern verschiedene Risikofaktoren für einen Schlaganfall zusammenzufassen. Aus dem Ergebnis lässt sich ableiten, ob ein Patient mit Antikoagulanzien therapiert werden sollte. In dem Akronym steckt alles, was zur Berechnung benötigt wird:

  • Congestive heart failure (Herz­insuffizienz)
  • Hypertension (Hypertonie, auch behandelte)
  • Age (Alter) 75 Jahre oder älter
  • Diabetes (Diabetes mellitus)
  • Stroke (Schlaganfall oder transito­rische ischämische Attacke)

Für jede vorliegende Diagnose wird ein Punkt addiert. Die tiefgestellte 2 hinter dem S steht dafür, dass ein vorangegangener Schlaganfall oder eine transitorische ischämische Attacke mit zwei Punkten bewertet wird [4]. Ein Patient über 75 Jahre mit Diabetes und einem Schlaganfall in der Vorgeschichte kommt so auf einen CHADS2-Score von vier Punkten.

In der europäischen Leitlinie zum Vorhofflimmern wird die weiterentwickelte Version CHA2DS2VA genutzt. Die zusätzlichen Buchstaben stehen für:

  • Vascular disease (Gefäßerkrankung)
  • Age (Alter) 65 – 74 Jahre

Die erste Altersklasse wird dabei doppelt bepunktet, was auch hier mit der tiefer gestellten 2 markiert wird [2]. Wenn der Patient aus dem vorangegangenen Beispiel also zusätzlich eine periphere arterielle Verschlusskrankheit hat, liegt sein CHA2DS2VA-Score bei sechs Punkten.

In früheren Versionen gab es noch einen weiteren Punkt für Patienten weiblichen Geschlechts. Dies erwies sich jedoch nicht als praktikabel, da auch die realen Risiken für Frauen jeweils einen Punkt höher lagen, der Extra-Punkt war also redundant.

Konsequenzen für die Therapie:

Eine Antikoagulation sollte bereits ab einem Wert von einem Punkt erwogen werden, ab zwei Punkten wird sie empfohlen [2].

Positiver Effekt auf die Therapie

Das Hauptziel der Studie war herauszufinden, ob durch die Intervention in der Apotheke Patienten eher leitliniengerecht therapiert werden, als wenn nur der Arzt die Antikoagulation verordnet und überwacht. In der Studie wurde also nicht betrachtet, in welcher Gruppe häufiger Schlaganfälle auftraten, sondern lediglich bewertet, wie angemessen die Medikation für den Patienten war. Aufgrund des Ausbruchs der Corona-Pandemie konnte im Studienzeitraum nicht die ange­strebte Teilnehmerzahl von 370 Probanden erreicht werden [3]. Es wurden insgesamt 80 Patienten rekrutiert, von denen 39 in die Interventions- und 41 in die Kontrollgruppe eingeteilt wurden. In der Interventionsgruppe nahmen 35 Patienten bis zum Ende teil, in der Kontrollgruppe 28. Im Rahmen der Studie wurde bei neun Patienten ein Vorhofflimmern diagnostiziert, bei fünf Patienten lag bereits eine Diagnose vor, wurde aber nicht mit Antikoagulanzien behandelt, und bei 66 Patienten war die Dosis nicht leitliniengerecht. Von den bereits behandelten, aber nicht richtig eingestellten Patienten nahmen 49 ein DOAK und 17 den Vitamin-K-Antagonisten Warfarin ein. In der Interventionsgruppe waren zum Überprüfungszeitpunkt drei Monate später dann 36 von 39 Patienten passend antikoaguliert, in der Kontrollgruppe waren es dagegen lediglich 23 von 41. Dieser deutliche Unterschied zeigt, dass die Patienten durch die neue pharmazeutische Betreuung schneller eine leitliniengerechte Therapie erhielten. Ein zusätzlicher Vorteil war eine hohe Therapieadhärenz in beiden Patientengruppen. Beide Gruppen erhielten eine Betreuung, die über die reguläre Behandlung hinausging, und wurden intensiver zu Antikoagulanzien beraten. Auch waren die Patienten einer begleitenden Umfrage zufolge mit dem neuen Service zufrieden [3].

Ergebnisse relativiert betrachtet

Dabei bleibt die Frage offen, ob sich dadurch auch ein klinischer Vorteil für die Patienten ergeben hat, also ob die Apotheker tatsächlich Schlaganfälle verhindert haben. Aus den zusätzlich erhobenen Studienergebnissen ist das nur schwer abzuschätzen. In der Interventionsgruppe kam es zu zwei Todesfällen, allerdings ohne bekannte Ursache. In der Kontrollgruppe gab es ebenfalls einen Todesfall sowie einen Schlaganfall. Auch kam es in beiden Gruppen zu Blutungsereignissen, drei in der Interventions- und zwei in der Kontrollgruppe. Zur korrekten Einordnung dieser Ereignisse fehlen allerdings ausführliche Informationen. Weitere Limitationen ergeben sich aus der geringen Teilnehmeranzahl, die Autoren bezeichnen ihre Studie daher als Proof of Concept [3]. Außerdem ist nicht klar, welchen Einfluss die Corona-Pandemie auf die Studienergebnisse hatte. Durch diese zusätzliche Belastung könnten die Kapazitäten der Ärzte verringert gewesen sein, sodass sie im Vergleich mit den Apothekern schlechter abgeschnitten haben, als es unter Normalbedingungen der Fall gewesen wäre. Es werden weitere, größer angelegte Studien benötigt, um diese Ergebnisse zu bestätigen. Dabei wären auch Vergleiche zwischen den verschiedenen Betreuungsformen sinnvoll, in denen die Prävalenzen von Schlaganfällen betrachtet werden. |

Literatur

[1] Sekundärprophylaxe ischämischer Schlaganfall und Sekundärprophylaxe ischämischer Schlaganfall und transitorische ischämische Attacke: Teil 1. S2k-Leitlinie der Deutschen Gesellschaft für Neurologie, AWMF-Reg. Nr. 030-133, Stand 20. Mai 2022

[2] Van Gelder IC et al. ESC Guidelines for the management of atrial fibrillation developed in collaboration with the European Association for Cardio-Thoracic Surgery (EACTS). Eur Heart J. 2024 Sep 29;45(36):3314-3414. doi: 10.1093/eurheartj/ehae176

[3] Sandhu RK et al. Stroke Risk Reduction in Atrial Fibrillation Through Pharmacist Prescribing: A Randomized Clinical Trial. JAMA Netw Open 2024;7(7):e2421993, doi: 10.1001/jamanetworkopen.2024.21993

[4] Gage BF et al. Validation of clinical classification schemes for predicting stroke: results from the National Registry of Atrial Fibrillation. JAMA 2001;285(22):2864-70, doi: 10.1001/jama.285.22.2864

[5] Sucker-Sket K. Kabinett ebnet Weg für Gesundes-Herz-Gesetz: Bessere Früherkennung und Vorsorge von Herz-Kreislauf-Erkrankungen. DAZ.online, 28. August 2024

[6] Sandhu RK et al. High prevalence of modifiable stroke risk factors identified in a pharmacy-based screening programme. Open Heart 2016;3(2):e000515, doi: 10.1136/openhrt-2016-000515

[7] Habich I. Apotheker in Großbritannien sollen lernen, selbst zu verschreiben: Modellprojekt. DAZ.online, 29. August 2022

[8] Blasius H. Kanadas Apotheker erhalten immer mehr Kompetenzen: Folgerezepte, Notfallmedikation, Verschreibungen. DAZ.online, 6. Dezember 2019


Simon Siuts, Apotheker
redaktion@daz.online


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