Die Augen essen mit
Die Erforschung des Mikrobioms hat in den letzten Jahren einen großen Aufschwung erlebt, insbesondere dank moderner Sequenziertechniken, sagte Prof. Dr. Dr. med. Martin Zinkernagel, Direktor der Universitätsklinik für Augenheilkunde am Inselspital Bern (Schweiz), auf dem diesjährigen Augenärztekongress (DOG) in Berlin. Damit ist es gelungen, das Mikrobiom sowohl quantitativ als auch qualitativ sehr gut zu erfassen, was sich in zahlreichen Publikationen niedergeschlagen hat.
Nicht nur Bakterien
Häufig wird angenommen, dass das Mikrobiom im Darm des Menschen, das aus historischen Gründen gelegentlich auch als Darmflora bezeichnet wird, nur aus Bakterien besteht. Unter den etwa 100 Trillionen Mikroorganismen im Gastrointestinaltrakt befinden sich jedoch auch Pilze, Viren, Archaea und Eukaryoten. Die Zahl der bakteriellen Spezies wird mit mehr als 10.000 angegeben. Die Zusammensetzung des Darmmikrobioms wird ganz wesentlich durch die Ernährung beeinflusst. So hat man herausgefunden, dass die Bakteriengattung Bacteroides bei den Menschen überwiegt, deren Nahrung einen hohen Anteil an tierischem Eiweiß und gesättigten Fettsäuren enthält. Doch auch die Mikroorganismen, und hierbei vor allem verschiedene Bakterienspezies, beeinflussen den Metabolismus des Menschen. So sind Bakterien der Gattung Prevotella besonders gut in der Lage, aus Ballaststoffen kurzkettige Fettsäuren wie Butyrat und Propionat zu bilden, die den Darmepithelzellen als Energiequelle dienen und darüber hinaus antientzündliche Wirkungen vermitteln können. Außerdem können bestimmte Darmbakterien B-Vitamine, Folsäure oder Vitamin K2 produzieren.
„Friedliches Nebeneinander“ von Darmepithel und Mikrobiom
Im Idealfall befindet sich das Darmmikrobiom in einem symbiotischen Gleichgewicht mit dem Darmepithel. Es sorgt dafür, dass die Epithelschicht stabil bleibt, sich keine krankheitserregenden Bakterien ansiedeln oder gar in den Blutkreislauf gelangen können. Die Mikroorganismen korrespondieren dabei mit Immunzellen wie beispielsweise TH1- und TH17-Lymphozyten, die sich in der subepithelialen Bindegewebsschicht (Lamia propria) befinden. In einem komplexen Wechselspiel stärken sie das Immunsystem und unterdrücken pathologische Entzündungsprozesse. Exogene Faktoren wie beispielsweise Antibiotikagaben, veränderte Ernährungsweisen, Virusinfektionen oder auch Stress können diese Homöostase beeinträchtigen. Es kommt zur Dysbiose, wobei die Zahl der kommensalen Bakterien abnimmt, die Darmbarriere geschwächt wird und krankheitsverursachende Bakterien in den Blutkreislauf eindringen können. Eine chronische Entzündungsreaktion kann die Folge sein, die Gewebe zerstört und verschiedene systemische Erkrankungen auslöst [2, 3].
Die Folgen chronischer Entzündungen
Es gilt als gesichert, dass chronische Entzündungen bei zahlreichen Erkrankungen wie Diabetes, Krebs, neurodegenerativen und Autoimmunkrankheiten eine wichtige pathophysiologische Rolle spielen. Den Link zum Mikrobiom sieht man darin, dass dieses in die Entzündungsprozesse involviert ist. Dennoch mag die Hypothese, dass sich Entzündungsfaktoren vom Darm aus bis in die Augen und speziell die Netzhaut ausbreiten können, zunächst verwundern. Gilt doch die Netzhaut dank ihres eigenen Immunsystems als immunprivilegiert und durch die Blut-Retina-Schranke und zusätzlich die Blut-Kammerwasser-Schranke besonders gut geschützt. Doch bereits vor einigen Jahren waren zwischen Gesunden und Patienten mit neovaskulärer altersbedingter Makuladegeneration (nAMD) Unterschiede in der Zusammensetzung des Darmmikrobioms aufgefallen: Eine Schweizer Arbeitsgruppe hatte die Ergebnisse einer Untersuchung veröffentlicht, in der die Stuhlproben von 58 Gesunden mit denen von 57 neu diagnostizierten nAMD-Patienten mittels Shotgun-DNS-Sequenzierung verglichen worden waren. Bei den nAMD-Patienten kamen die grampositiven Firmicutes (neuer Name: Bacillota) häufiger vor, während bei den Gesunden die anaeroben Bacteroidetes-Stämme (neuer Name: Bacteroidota) signifikant überwogen. Ähnliche Erkenntnisse waren auch im Tiermodell gewonnen worden. Bei Mäusen, in deren Retina nach hochglykämischer Diät nAMD-ähnliche Veränderungen aufgetreten waren, verschwanden diese nach einem Switch auf eine niedrigglykämische Diät, wobei dann Bacteroidetes-Stämme überwogen. Um die Bedeutung der neuen Erkenntnisse zu verdeutlichen, wurde bereits 2017, analog zur Darm-Hirn-Achse, der Begriff der Darm-Retina-Achse geprägt [2, 4 – 8].
Auch auf die Oberfläche schauen!
Auch die Zusammensetzung des Mikrobioms auf der Augenoberfläche und seine Rolle bei verschiedenen okulären Erkrankungen ist in den Fokus der Forschung gelangt. Denn bakterielle Enzyme könnten beispielsweise Lipide des Meibomdrüsen-Sekrets abbauen und auf diese Weise seine Zusammensetzung – und damit Erkrankungen wie das trockene Auge – beeinflussen. Eine Schweizer Arbeitsgruppe fand in einer Untersuchung mit 20 Freiwilligen heraus, dass das Augenmikrobiom sehr divers und spezifisch ist und Bakterienstämme wie Actinobacteria (neu: Actinomycetota) und Proteobacteria (neu: Pseudomonadota) in Hornhaut-Abstrichen am häufigsten vertreten waren [9]. Eine US-amerikanische Arbeitsgruppe untersuchte die Zusammensetzung des Augenmikrobioms bei 30 Probanden mittels 16S-rRNA-Sequenzierung und fand deutliche Unterschiede zwischen Patienten mit Sicca-Syndrom und Personen mit gesunden Augen, die nun weiter erforscht werden sollen [10, 11].
Ausblick
Mittlerweile hat man mögliche Zusammenhänge zwischen der Zusammensetzung des Darm- bzw. Augenoberflächenmikrobioms und okulären Erkrankungen nicht nur bei neovaskulärer altersbedingter Makuladegeneration und beim Sicca-Syndrom, sondern auch beim retinalen Zentralarterienverschluss, diabetischer Retinopathie, Glaukom und Uveitis gefunden. Auch erste Behandlungserfolge wurden publiziert. So war es in einer randomisierten Studie gelungen, bei Patienten mit Sicca-Syndrom die Tränensekretion durch Gabe einer Synbiotika-Mischung zu verbessern. Bei Patienten mit Sjögren-Syndrom konnten die Augensymptome mithilfe eines fäkalen Mikrobiomtransfers gelindert werden. Diese Erkenntnisse müssen nun in weiteren Untersuchungen vertieft werden, um daraus möglicherweise diätetische oder andere Ansätze für die Prävention und Behandlung von okulären Erkrankungen ableiten zu können [12 – 14].
Literatur
[1] Sender R, Fuchs S, Mio R. Are we really vastly outnumbered? Revisiting the ratio of bacterial to host cells in humans. Cell 2016;164(3):337-340
[2] Zysset-Burri DC, Morandi S, Herzog EL et al. The role of the gut microbiome in eye diseases. Progr Retin Eye Res 2023;92:101117, DOI: 0.1016/j.preteyeres.2022.101117
[3] Cerf-Bensussan N, Gaboriau-Routhiau V The immune system and the gut microbiota: friends or foes? Nat Rev Immunol 2010;10(10):735-744
[4] Andriessen EMMA, Wilson AM, Mawambo G et al. Gut microbiota influences pathological angiogenesis in obesity-driven choroidal neovascularization. EMBO Mol Med 2016;15(12):1366–1379
[5] Kauppinen A, Paterno JJ, Blasiak J et al. Inflammation and its role in age-related macular degeneration. Cell Mol Life Sci 2016;73:1765–1786
[6] Zinkernagel MS, Zysset-Burri DC, Keller I et al. Association of the intestinal microbiome with the development of neovascular age-related macular degeneration. Sci Rep 2017;7:40826, DOI: 10.1038/srep40826
[7] Zysset-Burri DC, Keller I, Lieselotte E. Berger LE et al. Associations of the intestinal microbiome with the complement system in neovascular age-related macular degeneration. Genom Med 2020;5:34; DOI:10.1038/s41525-020-00141-0
[8] Rowan S, Jiang S, Korem T et al. Involvement of a gut–retina axis in protection against dietary glycemia-induced age-related macular degeneration. Proc Natl Acad Sci USA 2017;114:E4472–E4481
[9] Zysset-Burri DC, Schlegel I, Lincke JB, et al. Understanding the interactions between the ocular surface microbiome and the tear proteome. Investig Ophthalmol Vis Sci 2021;62(10):8, DOI: 10.1167/iovs.62.10.8
[10] Sharma P, Nalian A, Van Kley A The ocular microbiome: a window into human microbiomics. Poster auf der Jahrestagung der American Society for Biochemistry and Molecular Biology (ASBMB), San Antonio, 23. bis 26. März 2024
[11] Trockenes Auge weist anderes Mikrobiom auf als gesunde Augen. Aerzteblatt.de vom 2. April 2024, www.aerzteblatt.de/nachrichten/150303/Trockenes-Auge-weist-anderes-Mikrobiom-auf-als-gesunde-Augen
[12] Watane A, Cavuoto KM, Rojas M et al. Fecal microbial transplant in individuals with immune-mediated dry eye. Am J Ophthalmol 2022;233:90–100
[13] Tavakoli A, Markoulli M, Papas E et al. The impact of probiotics and prebiotics on dry eye disease signs and symptoms. J Clin Med 2022;11:4889
[14] Tîrziu AT, Susan M, Susan R et al. From gut to eye: Exploring the role of microbiome imbalance in ocular diseases. J Clin Med 2024;13:5611, https://doi.org/10.3390/jcm13185611
[15] International Committee on Systematics of Procaryotes (ICSP), www.the-icsp.org
[16] Taxonomie-Datenbank des National Center for Biotechnology Information (NCBI), www.ncbi.nlm.nih.gov/taxonomy