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Arzneimittel und Therapie
Das Reizdarmsyndrom: Schlüsselrolle für Serotonin
Das Reizdarmsyndrom ist eine häufige Erkrankung des Gastrointestinaltrakts, von der überwiegend Frauen betroffen sind. Etwa 15 bis 25% der Bevölkerung in den westlichen Industrienationen leiden unter diesen chronisch rezidivierenden Magen- und Darmbeschwerden. Hauptsymptome sind chronische abdominelle Schmerzen im Zusammenhang mit Störungen der Darmfunktion. Typisch sind Unregelmäßigkeiten der Stuhlentleerung, das heißt Durchfälle oder Verstopfungen, zum Teil auch im Wechsel. Oft enthält der Stuhl Schleim. Es besteht das drängende Gefühl, auf die Toilette gehen zu müssen. Sowohl die Häufigkeit als auch die Konsistenz der Stuhlgänge ändern sich. Meist leiden die Patienten auch an einem erhöhten Gasgehalt im Darm. Die Folgen sind ein aufgetriebener Bauch und Blähungen.
Ausschlussdiagnose "Reizdarmsyndrom"
Die Diagnose "Reizdarmsyndrom" ist eine Ausschlussdiagnose. Sie wird dann gestellt, wenn bei Symptomen im Unterbauch und Veränderungen der Stuhlfrequenz keine organischen Störungen wie ein Geschwür oder biochemische Abweichungen als Ursache für die Beschwerden nachweisbar sind und diese Symptome länger als drei Monate andauern. Das bedeutet jedoch nicht, dass die Symptome harmlos und für die Betroffenen ohne Bedeutung sind. Die Einschränkung der Lebensqualität kann teilweise erheblich sein.
Das Reizdarmsyndrom kommt selten allein. Häufig bestehen gleichzeitig Refluxbeschwerden und retrosternales Brennen. Extraintestinal treten unter anderem Migräne und Rückenschmerzen sowie Fibromyalgie häufig auf.
Bis heute gibt es keine in klinischen Studien geprüfte wirksame Therapie; eingesetzt werden vor allem Mebeverin und Ballaststoffe.
Komplexe Wechselwirkungen regulieren Darmfunktion
Die Ursachen der Magen-Darm-Störungen sind vielfältig, denn die sensiblen und motorischen Darmfunktionen werden durch komplexe Wechselwirkungen reguliert: Dabei sind das enterische, das vegetative und das zentrale Nervensystem auf vielfältige Weise miteinander verknüpft.
Beim Reizdarmsyndrom ist diese komplexe Regulation gestört. Dies äußert sich vor allem in einer veränderten Darmmotilität: Sie kann erhöht oder erniedrigt sein, was bei etwa jeweils einem Drittel der Patienten der Fall ist. Neben den Reizdarmpatienten vom Diarrhö-Typ und denen vom Obstipations-Typ gibt es eine dritte Gruppe mit Mischformen.
Die Schmerzen, unter denen Patienten mit Reizdarmsyndrom leiden, deuten nur zum Teil auf Motilitätsveränderungen hin. An Dehnungsstudien des Dickdarms zeigte sich, dass Reizdarmpatienten im Vergleich zu gesunden Normalpersonen eine deutlich erniedrigte Reizschwelle im Hinblick auf abdominelle Dehnungsreize haben.
Bei der Dehnung eines Ballons im Dickdarm nahmen Reizdarmpatienten Volumina bereits als unangenehm wahr, die bei Normalpersonen noch keinerlei Reize auslösten. In Anlehnung an diese Untersuchungen formulierten Experten die Theorie der "viszeralen Hypersensitivität". Danach soll die Wahrnehmung von Schmerzreizen im Darm bei Patienten mit Reizdarmsyndrom pathologisch gesteigert sein.
Im zentralen Nervensystem gibt es Zentren, die die Wahrnehmung von Schmerzen im Darm modulieren können. Die so genannte "Brain-Gut"-Hypothese postuliert, dass eine normale Funktion des Magen-Darm-Traktes von einer reibungslosen Interaktion mit dem zentralen Nervensystem abhängig ist. Reizdarmbeschwerden stehen im Zusammenhang mit einer Störung der Koordination von Magen-Darm-Trakt und zentralem Nervensystem.
Ursachen unklar
Die Ursachen der Funktionsstörungen sind noch unklar. Diskutiert wird unter anderem eine gastrointestinale Infektion als Auslöser. Wahrscheinlich spielen auch genetische Faktoren eine Rolle. Ob bei Personen mit depressiven Störungen das Risiko eines Reizdarmsyndroms erhöht ist, ist umstritten. Möglicherweise besteht hier ein Zusammenhang mit dem Serotonin-Stoffwechsel.
Serotonin spielt Schlüsselrolle
Sowohl im Darmtrakt als auch im Gehirn gibt es eine große Anzahl von Neurotransmittern. Einer der wichtigsten ist Serotonin (5-Hydroxytryptamin, 5-HT). Nur etwa 5 Prozent der Gesamtmenge an Serotonin im Körper befindet sich im zentralen Nervensystem, mehr als 90 Prozent sind in den enterochromaffinen Zellen der Darmwand lokalisiert. Die Freisetzung erfolgt als Reaktion auf chemische Reize oder Dehnungsreize. Serotonin beeinflusst im Darm eine ganze Reihe von Prozessen: Lokal freigesetztes Serotonin vermittelt die Entstehung von abdominellen Schmerzen und spielt eine Schlüsselrolle bei der Steigerung der Darmmotorik und -sekretion. Dabei interagiert Serotonin mit einer Reihe verschiedener Rezeptor-Subtypen.
- Die 5-HT3-Rezeptoren spielen bei der Vermittlung von Schmerzreizen sowie der Änderungen in der intestinalen Motilität und Sekretion eine zentrale Rolle. Überschießend freigesetztes Serotonin, gepaart mit einer Überempfindlichkeit der Rezeptoren vom Subtyp 5-HT3 in der Darmwand, senkt einerseits die Wahrnehmungsschwelle für Schmerzreize. Andererseits steigert es die Motilität der Darmmuskulatur und die Schleimsekretion.
- Ein weiterer wichtiger Rezeptor-Subtyp sind die 5-HT4-Rezeptoren. Bindet Serotonin an diese Rezeptoren, werden unter anderem Darmperistaltik sowie Wasser- und Elektrolytfreisetzung stimuliert. Diese Effekte sind beim Reizdarmpatienten vom Obstipations-Typ sehr erwünscht.
Alosetron blockiert 5-HT3-Rezeptoren
Der selektive 5-HT3-Rezeptorantagonist Alosetron wird zur Behandlung des Reizdarmsyndroms bei Frauen eingesetzt, die unter der Diarrhö-prädominanten Form dieser Erkrankung leiden. Alosetron ist unter dem Namen Lotronex seit Februar 2000 in den USA zugelassen. Die Dosierung beträgt zweimal täglich 1 mg für mindestens vier Wochen. Alosetron lindert die abdominellen Schmerzen, vermindert den Stuhldrang und die Stuhlfrequenz und verbessert die Stuhlkonsistenz. Die Ergebnisse einer großen Studie mit Reizdarmpatientinnen (647 nicht-obstipierten Teilnehmerinnen) belegen, dass die mit Alosetron behandelten Patientinnen (2 x täglich 1 mg) schon nach der ersten Behandlungswoche im Vergleich zur Plazebogruppe über eine deutliche Besserung ihrer Schmerzsymptome berichteten. Dieser Therapieerfolg erreichte in der zweiten Behandlungswoche eine statistische Signifikanz. Außerdem wurde in der ersten Behandlungswoche eine statistisch signifikante Verbesserung von Stuhldrang, -konsistenz und -frequenz beobachtet. Alle Verbesserungen hielten während der gesamten zwölf Behandlungswochen an. Nach Ende der Behandlung kehrten die Symptome auf das Ausgangsniveau zurück.
Alosetron ist gut verträglich
Alosetron ist gut verträglich. Die Gesamtinzidenz unerwünschter Ereignisse unter Alosetron entsprach in den klinischen Studien weitgehend der unter Plazebo. Signifikante Unterschiede zeigten sich nur bei der Obstipation (26% in der Alosetron- gegenüber 7% in der Plazebogruppe), die durch den Wirkungsmechanismus bedingt ist. Dabei hatten rund 60% der obstipierten Patienten noch mindestens einen Stuhlgang pro Tag. Die zumeist leichten Obstipationen normalisierten sich in der Regel spontan oder nach kurzer Medikamentenpause. Die Alosetron-Behandlung war weder mit kardialer Dysfunktion oder Kreislaufstörungen noch mit EKG-Veränderungen (insbesondere nicht mit QT-Zeit-Verlängerung) assoziiert. Obwohl Alosetron die Blut-Hirn-Schranke passieren kann, sind bis jetzt keine zentralnervösen Nebenwirkungen aufgetreten. Auch traten keine Wechselwirkungen mit anderen Medikamenten auf. Glaxo Wellcome hat für Alosetron bei der europäischen Zulassungsbehörde European Medicines Evaluation Agency (EMEA) einen Antrag auf Zulassung in der EU gestellt. Die EMEA kann in einem zentralisierten Verfahren eine einheitliche Zulassung für alle 15 Mitgliedsstaaten der EU plus Norwegen und Island aussprechen. Die Zulassung in Deutschland wird für das Jahr 2001 erwartet.
Tegaserod - partieller 5-HT4-Agonist
Für eine andere Zielgruppe wird der 5-HT4-Agonist Tegaserod (vorgesehener Handelsname Zelmac) entwickelt. Er soll bei Reizdarmpatienten mit Obstipation als Leitsymptom eingesetzt werden. Tegaserod fördert die Motilität im Magen-Darm-Trakt und verkürzt die Magen-Darm-Passage. Tegaserod wurde im Rahmen einer plazebokontrollierten Doppelblindstudie bei 881 Reizdarmpatienten vom Obstipations-Typ über zwölf Wochen eingesetzt. Am Ende der Behandlung hatten sich die Beschwerden bei 47% der Verum- und bei 35% der Plazebogruppe gebessert. Hauptnebenwirkung war eine Diarrhö, die sich aus dem Wirkungsmechanismus ergibt. Die Zulassung für Tegaserod ist beantragt.
Kastentext: Das Reizdarmsyndrom
Das Reizdarmsyndrom gehört zu den funktionellen Magen-Darm-Erkrankungen. Es ist gekennzeichnet durch Schmerzen im unteren Abdomen, eine gestörte Defäkation (Obstipation und/oder Diarrhö) und Meteorismus bei fehlenden strukturellen (z. B. chronisch entzündliche Darmerkrankungen) und biochemischen (z. B. Lactasemangel) Normabweichungen. Typisch sind die scheinbar wenig eindeutigen, wechselnden, teils diffusen Beschwerden.
Da die Störungen nicht nur auf das Kolon, sondern auch auf den Dünndarm zu beziehen sind, sollten die Bezeichnungen "Colon irritabile" oder "spastisches Colon" zuguns-ten des Terminus "Reizdarmsyndrom (RDS)" aufgegeben werden. Dieser Terminus folgt zudem dem international gebräuchlichen Begriff "irritable bowel syndrome (IBS)".
Das Reizdarmsyndrom ist eine häufige Erkrankung. Die Rate variiert in den verschiedenen Ländern. In Deutschland leiden etwa 10 Prozent der erwachsenen Bevölkerung unter 65 Jahren unter den Symptomen eines Reizdarmsyndroms. Allerdings konsultiert nur etwa jeder fünfte Betroffene den Arzt. Bei der Erstdiagnose überwiegt das mittlere Lebensalter.
Frauen sind etwa doppelt so häufig betroffen wie Männer. Als Ursache hierfür kommt einerseits der Einfluss von Geschlechtshormonen auf die Darmsymptomatik, andererseits ein anderer Umgang von Frauen mit Körpersymptomen und Krankheiten in Betracht. Patienten mit Reizdarmsyndrom unterscheiden sich in ihrer Lebenserwartung nicht von der Allgemeinbevölkerung. Die drastische Minderung der Lebensqualität der Betroffenen kann jedoch Arbeitsunfähigkeiten und Frühberentungen zur Folge haben. Das Reizdarmsyndrom verursacht dadurch erhebliche volkswirtschaftliche Kosten.
In der Vergangenheit wurde das Reizdarmsyndrom oft lediglich als Motilitätsstörung verstanden. Die Forschungsergebnisse der letzten Jahre legen jedoch andere pathogenetische Konzepte nahe. Zahlreiche Untersuchungen haben zu dem heute akzeptierten Modell geführt, dass die gestörte Interaktion zwischen dem Gastrointestinaltrakt und dem Zentralnervensystem die Symptome verursacht. Eine gesteigerte Sensitivität für normale intestinale Funktionen (visceral hyperalgesia) gilt beim Reizdarmsyndrom als gesichert. Die somatische Sensitivität ist nicht verändert. Diese viszerale Hypersensitivität erklärt sowohl die Veränderungen gastrointestinaler Motilität als auch die abdominalen Schmerzen beim Reizdarmsyndrom.
Man geht davon aus, dass der Neurotransmitter Serotonin (5-HT, 5-Hydroxytryptamin) eine wichtige Rolle bei der Übertragung viszeraler Schmerzen und bei der Steuerung der Darmfunktion spielt. Umfassende Informationen wie derzeitige Therapiemöglichkeiten und Basiswissen zum Thema Reizdarmsyndrom können interessierte Patienten im Internet unter http://www.reizdarmsyndrom-info.de abrufen.
Kastentext: Für das Reizdarmsyndrom typische Beschwerden:
- Bauchschmerzen oder Missempfindungen, die nach dem Stuhlgang besser werden
- Bauchschmerzen oder Missempfindungen, die mit Veränderungen der Häufigkeit und/oder der Form des Stuhlgangs einhergehen
- Blähbauch (Meteorismus)
- Diarrhö
- Obstipation
Kastentext: Ernährung
Die erste therapeutische Maßnahme beim Reizdarmsyndrom ist eine individuelle Anpassung der Ernährung. Beispielsweise vertragen viele Reizdarmpatienten keine Zitrusfrüchte. Ballaststoffe wie Quellstoffe und Kleie können eine Obstipation verringern, andererseits aber auch Blähungen verstärken.
Kastentext: Die Sicht der Patienten
Reizdarmsyndrom - was sich nach einer Lappalie anhört und von vielen Außenstehenden, inklusive Ärzten, auch so behandelt wird, kann den Betroffenen das Leben zur Hölle machen. Sie haben oft jahrelang Symptome, ohne zu wissen, was die Krankheit verursacht und wie sie behandelt werden kann. Das Unverständnis, das ihnen von allen Seiten entgegenschlägt, verschlimmert die Situation. Um diese Situation zu ändern und sowohl Ärzte als auch mittelbar und unmittelbar Betroffene über das Krankheitsbild besser aufzuklären, wurde 1995 der gemeinnützige Verein "Deutsche Reizdarmselbsthilfe e.V." gegründet. Deutsche Reizdarmselbsthilfe e.V. Mörikeweg 2 31303 Burgdorf Tel. 05136/896106 Fax 05136/873662
Quellen: Prof. Dr. Gerhard Holtmann, Essen; Prof. Dr. Wolfgang Kruis, Köln; Dr. Tjark Reblin, Hamburg; Dr. Erwin Häringer, München; Fachpressekonferenz "Viele Ursachen, viele Symptome: Dem Reizdarmsyndrom auf der Spur", Hamburg, 28. Juni 2000, veranstaltet von Glaxo Wellcome, Hamburg. Camilleri, M., et al.: Efficacy and safety of alosetron in women with irritable bowel syndrome: a randomised, placebo-controlled trial. Lancet 355, 1035-1040 (2000). Barman Balfour, J. A., et al.: Alosetron. Drugs 59, 511-518 (2000). Jones, R. H., Holtmann, G., et al.: Alosetron relieves pain and improves bowel function compared with mebeverine in female nonconstipated irritable bowel syndrome patients. Alim. Pharm. Ther. 11, 1419-1427 (1999). Firmeninformationen von Novartis zu Tegaserod.
Das Reizdarmsyndrom ist nicht nur wegen seiner quälenden Symptome für die Betroffenen eine Tortur. Körperliche Ursachen können nicht festgestellt werden, die Patienten werden nicht ernst genommen, und die Ärzte sind hilflos. Nachdem die Erkrankung lange Zeit als psychosomatisches Leiden ohne organische Grundlage galt, weiß man heute mehr über das komplexe Geflecht physiologischer und psychologischer Faktoren, die das Krankheitsbild bestimmen. Dabei wird dem Neurotransmitter Serotonin (5-Hydroxytryptamin, 5-HT) eine Schlüsselrolle zugesprochen. Zwei neue Arzneimittel zur Behandlung des Reizdarmsyndroms greifen an Serotonin-Rezeptoren an: Alosetron und Tegaserod.
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