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Arzneimittel und Therapie
Antidepressiva: Sertralin eröffnet neue Therapiemöglichkeiten
Mindestens 5,5 Millionen (8 Prozent) aller Deutschen unter 65 Jahren sind depressiv erkrankt, mit höherem Lebensalter steigt diese Zahl überproportional an. Trotz der hohen Inzidenz existieren in der Bevölkerung auch heute noch viele falsche und bagatellisierende Vorstellungen über Ursachen und Verlauf von Depressionen, sodass ein Drittel der Betroffenen keinen Arzt aufsucht. Doch auch jene Patienten, die sich in ärztliche Behandlung begeben, erhalten nicht immer die optimale Therapie.
Häufig keine optimale Therapie
So ergab eine Studie, dass in der Bundesrepublik nur vier Prozent aller Patienten mit den nach heutigen Erkenntnissen besten Arzneimitteln behandelt werden. Weitere acht Prozent erhalten ältere Antidepressiva, 23 Prozent Tranquillanzien oder Phytopharmaka. Ein Drittel der Patienten wird ausschließlich psychologisch betreut.
Neben dem hohen Leidensdruck für die Betroffenen verursachen depressive Erkrankungen auch einen großen volkswirtschaftlichen Schaden. Da sich Depressionen oft in somatischen Beschwerden äußern und depressive Patienten häufiger und länger unter organisch bedingten Erkrankungen leiden, entstehen zwei- bis dreimal mehr Fehltage am Arbeitsplatz. Besonders erschreckend ist die hohe Zahl von Suiziden, die sich auf eine Depression zurückführen lassen. Eine bessere Aufklärung der Patienten sowie die Anpassung der medizinischen Behandlung an den neuesten Stand des Wissens sind dringend notwendig.
Trizyklische Antidepressiva: mangelnde Rezeptorselektivität
Zur Behandlung von Depressionen werden trizyklische Antidepressiva, MAO-Hemmer und die neueren selektiven Serotonin-Wiederaufnahmehemmer eingesetzt. Ein Nachteil der trizyklischen Antidepressiva liegt in ihrer mangelnden Rezeptorselektivität. Neben der erwünschten Hemmung der Noradrenalin (NA)- und Serotonin(5-HT)-Wiederaufnahme werden in therapeutischer Dosierung auch muscarinische Acetylcholin (ACH)- sowie Histaminrezeptoren (H) blockiert, was für die Vielzahl unerwünschter Wirkungen wie Mundtrockenheit, Obstipation und Schlafstörungen verantwortlich ist. Die Blockade von Alpha1-Adrenorezeptoren führt zu hypotonen Kreislaufstörungen. Besonders fatal ist die membranstabilisierende Wirkung der trizyklischen Antidepressiva am Herzen, denn schon geringe Überdosierungen können kardiotoxisch wirken und Arrhythmien auslösen. Die therapeutische Breite dieser Substanzen ist demnach gering und ihr Einsatz bei multimorbiden Patienten stark eingeschränkt.
SSRI: besser verträglich durch selektive Wirkung
Selektive Serotonin-Wiederaufnahmehemmer (SSRI), wie Fluoxetin, Paroxetin, Fluvoxamin und Citalopram, wirken dagegen in therapeutischer Dosierung selektiv inhibitorisch auf die 5-HT-Wiederaufnahme. Erst in höherer Dosierung treten Effekte an anderen Rezeptoren auf, wobei sich die einzelnen Substanzen in ihrer Selektivität unterscheiden.
Vor drei Jahren wurde mit Sertralin, einem Dichlorphenylnaphthylamin, ein neuer Vertreter dieser Substanzklasse in Deutschland eingeführt. Vergleichende Studien zeigen, dass Sertralin von allen SSRI die höchste Affinität zum 5-HT-Rezeptor aufweist. Es wirkt dort 36-fach stärker als Fluoxetin. Erst in 100-facher Überdosierung zeigt Sertralin Nebenwirkungen durch Blockade an Acetylcholin-, Noradrenalin- oder Alpha1-Rezeptoren.
Hohe therapeutische Breite
Sertralin hat eine sehr hohe therapeutische Breite - selbst in 160facher Überdosierung wurden keine toxischen Effekte festgestellt. Durch 5-HT-Rezeptorblockade im Magen-Darm-Trakt treten als häufigste Nebenwirkung Übelkeit und Diarrhö auf. Die Beschwerden sind meist leicht ausgeprägt und lassen bei Fortsetzung der Therapie durch Down-Regulation der Rezeptoren nach. Weitere unerwünschte Wirkungen können Kopfschmerzen und Ejakulationsverzögerungen sein. Eine epileptogene Wirkung wie beim Fluoxetin wurde nicht gefunden.
Bei allen SSRI führt die gleichzeitige Gabe mit MAO-Hemmern zu schwerwiegenden Nebenwirkungen; es liegen auch Berichte über Todesfälle vor. Ein Abstand von mindestens zwei Wochen ist hier streng einzuhalten. Die gleichzeitige Einnahme von Sumatriptan sollte während der Sertralintherapie vermieden bzw. gut überwacht werden.
Keine Kumulation zu befürchten
Im Gegensatz zu seinen Vorgängersubstanzen hemmt Sertralin den eigenen Metabolismus nicht. Im klinisch relevanten Dosisbereich von 50 bis 200 mg pro Tag zeigt es eine lineare Pharmakokinetik, sodass eine Kumulation wie bei Fluoxetin nicht zu befürchten ist. Auch die bei allen anderen SSRI beobachtete Veränderung in der Pharmakokinetik bei über 65-jährigen Patienten tritt unter Sertralin nicht auf. Seine terminale Halbwertszeit von 25 Stunden ermöglicht die einmal tägliche Gabe. Die renale Elimination von Sertralin ist so gering, dass eine Dosisanpassung bei niereninsuffizienten Patienten nicht nötig ist.
Sertralin wird hepatisch zum klinisch inaktiven Desmethylsertralin metabolisiert. Als einziger Vertreter seiner Substanzklasse hemmt Sertralin das für den Abbau vieler Arzneistoffe wichtige Cytochrom-P450-2D6- Isoenzym nicht. Sertralin bietet somit eine höhere Sicherheit in der Komedikation.
Sertralin eröffnet neue Therapiemöglichkeiten
Ein großes Problem stellt die antidepressive Therapie alter und multimorbider Patienten dar. Im Durchschnitt nehmen Patienten mit 60 Jahren täglich fünf Medikamente ein, mit 75 Jahren steigt die Zahl auf sieben. Die zu befürchtenden Wechselwirkungen, vor allem mit den trizyklischen Antidepressiva, haben eine ausreichende Behandlung von Altersdepressionen bisher verhindert. Bei einer geschätzten Zahl von 25 Prozent depressiver Menschen in Altenheimen und der nachgewiesenen Koinzidenz von Depressionen mit der Alzheimer-Erkrankung wird der dringende Handlungsbedarf deutlich. Durch seine mit den trizyklischen Antidepressiva vergleichbare Wirkstärke, das günstigere Nebenwirkungsprofil und die reduzierten Wechselwirkungen mit anderen Arzneistoffen eröffnet Sertralin hier neue Therapiemöglichkeiten. So gibt es erste Hinweise darauf, dass Sertralin die Vigilanz bei Alzheimer-Patienten positiv beeinflussen könnte.
Einige Befunde deuten auf eine Affinität von Sertralin zu Dopamin- und Sigma1-Rezeptoren hin, was seine im Vergleich zu anderen SSRI gute Wirkung bei schweren Depressionen vom melancholischen Typ mit psychomotorischer Hemmung und bei wahnhaften Depressionen erklären könnte.
Schneller Wirkungseintritt und weniger Therapieabbrüche
In mehreren Studien, die Sertralin mit trizyklischen Antidepressiva und die SSRI untereinander verglichen, zeigte Sertralin einen schnelleren Wirkungseintritt und weniger Therapieabbrüche wegen Nebenwirkungen. Seine bessere Compliance gewährleistet die bei Depressionen notwendige Behandlungsdauer von mindestens neun Monaten und ermöglicht eine Rezidivprophylaxe über mehrere Jahre.
Im Gegensatz zu anderen SSRI führt Sertralin nicht zur Gewichtsabnahme oder Agitiertheit. Eine Gewichtszunahme und psychomotorische Hemmung wie unter der Behandlung mit trizyklischen Antidepressiva sind ebenfalls nicht zu befürchten. Seine anxiolytische Wirkkomponente macht den Einsatz von Sertralin bei der Behandlung von Depressionen mit Angst- und Wahnvorstellungen und die Einsparung sedierender Arzneimittel möglich.
Zulassung zur Behandlung von posttraumatischen Belastungsstörungen
Aufgrund neuer Studienergebnisse erhielt Sertralin in den USA als erstes SSRI die Zulassung zur Behandlung von posttraumatischen Belastungsstörungen. Nach der Rückkehr amerikanischer Soldaten aus Kriegsgebieten machte dieses Krankheitsbild Schlagzeilen. Man schätzt, dass nach Unfällen, Naturkatastrophen oder gewalttätigen Übergriffen zehn bis zwanzig Prozent der Betroffenen eine posttraumatische Belastungsstörung ausbilden, wobei Frauen häufiger betroffen sind.
Da Sertralin keinen Einfluss auf den Alkoholabbau hat, ist seine Anwendung bei Alkoholikern möglich. Eine weitere Einsatzmöglichkeit für Sertralin zeichnet sich in der Behandlung von Depressionen nach Herzinfarkt ab.
Depression und Herzinfarkt
Mehrere Studien zeigen einen Zusammenhang zwischen dem Auftreten von Depressionen und Herzerkrankungen. Besonders auffällig ist die erhöhte kardiovaskuläre Morbidität und Mortalität, wenn Depressionen nach einem akuten Herzinfarkt auftreten. Untersuchungen ergaben, dass ein halbes Jahr nach dem Infarkt fast viermal so viele von den als depressiv eingestuften Patienten im Vergleich zu den nicht depressiven Patienten verstorben waren. Noch ist nicht bekannt, auf welche Weise eine Depression die Prognose beeinflusst, aber es ist offensichtlich, dass sie als Risikofaktor für Herzerkrankungen und plötzlichen Herztod betrachtet werden muss. Bisher findet keine angemessene antidepressive Behandlung von Post-Infarkt-Patienten statt, da potenzielle kardiovaskuläre Nebenwirkungen der Antidepressiva ein zusätzliches Risiko bedeuten. Ein Antidepressivum, das die kardiologischen Parameter nicht negativ beeinflusst, könnte hier eine therapeutische Lücke füllen.
Eine Pilotstudie mit 26 Patienten zeigte, dass Sertralin keine Auswirkungen auf das EKG hat und einer Thrombusbildung entgegenwirkt. Die Studie zeigt eine signifikante Verbesserung der depressiven Symptomatik. Statistisch relevante Ergebnisse über eine Senkung der Mortalität unter Sertralin konnten wegen der niedrigen Patientenzahlen und mangels Plazebovergleich nicht erbracht werden.
Im Rahmen der zur Zeit laufenden internationalen, multizentrischen Folgestudie SADHART (Sertraline Antidepressant Heart Attack Recovery Trial) wird Sertralin gegen Plazebo bei 330 Patienten mit einem Herzinfarkt geprüft. Erste Ergebnisse deuten darauf hin, dass Sertralin für die Behandlung dieser Hochrisikopatienten von Nutzen sein könnte.
Effektive Behandlungskosten zählen
Trotz der offensichtlichen Vorteile der selektiven Serotonin-Wiederaufnahmehemmer in der Depressionstherapie sind deren Verordnungszahlen in Deutschland noch relativ gering. Ein Hauptgrund dürfte in dem höheren Preis dieser Präparate zu suchen sein. In den USA haben die SSRI andere Antidepressiva nahezu vollständig abgelöst. Durch das anders strukturierte Versicherungssystem liegt hier das Augenmerk auf den gesamten effektiven Behandlungskosten, die sich durch die beste antidepressive Therapie langfristig senken lassen.
Quellen: Prof. Dr. S. H. Preskorn, MD, Wichita, Kansas, USA, Pressekonferenz "3 Jahre Sertralin (Zoloft)", Dresden, 15. September 2000, veranstaltet von Pfizer, Karlsruhe. Shapiro, P. A., et al.: Offene Pilotstudie zu Sertralin zur Behandlung der Major Depression nach akutem Herzinfarkt (SADHART- Studie). Am. Heart J. 37, 1100-1106 (2000). Kötter, H. U., et al.: Sertralin - ein moderner selektiver Serotonin-Wiederaufnahmehemmer in der antidepressiven Therapie multimorbider Patienten. Arzneimitteltherapie 17, 395-402 (1999).
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