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Internet und Depression: Depressiv und suizidgefährdet – Hilfe über das
Aktuelle Zahlen und Fakten zur Depression geben ein desolates Bild von der Situation psychisch kranker Menschen. Nach Angaben der Weltgesundheitsorganisation (WHO) sind zehn Prozent der erwachsenen Bevölkerung psychisch krank, die Hälfte davon leidet an einer Depression. Und diese Patienten sind katastrophal unterversorgt, kritisiert Prof. Dr. Ulrich Hegerl, Oberarzt und Leiter der Abteilung für Klinische Neurophysiologie an der Psychiatrischen Klinik der Ludwig-Maximilians-Universität (München) und Sprecher des Kompetenznetzes Depression.
Der Status quo in Deutschland ist für ihn ein unhaltbarer Zustand: Depressionen werden immer noch bagatellisiert, sie werden als selbstverschuldet und – mit entsprechender Willensanstrengung – als überwindbar angesehen. Dabei handelt es sich um ernste und bedrohliche Erkrankungen, welche die Lebensqualität von Betroffenen und Angehörigen beeinträchtigen und weitreichende soziale und berufliche Konsequenzen haben können. Bei schweren Formen kann es zum lebensbedrohlichen Verlauf kommen: 15 % dieser psychisch schwerst angeschlagenen Menschen setzen ihrem Leben selbst ein Ende.
Ein bisschen depressiv?
Depressiv erkrankte Menschen merken häufig nur, dass irgend etwas mit ihnen nicht mehr stimmt, dass sie im gesamten Alltag nicht mehr "richtig funktionieren". Sie sind in ihrem gesamten Denken, Wollen, Fühlen und in ihrer Handlungsfähigkeit deutlich eingeschränkt. Nicht selten werden begleitende körperliche Symptome wahrgenommen, beispielsweise Kopfschmerzen, Rückenschmerzen oder Herzbeschwerden.
Und diese somatischen Begleiterscheinungen sind dann häufig der Anlass für einen Arztbesuch. Bei jedem zweiten Patienten mit einer Depression, der den Hausarzt aufsucht, wird diese jedoch nicht erkannt und an Symptomen herumkuriert. Von den verbleibenden Patienten werden gerade einmal zehn Prozent so therapiert, wie es den modernen Erkenntnissen der Wissenschaft entspricht. Das ist um so bedauerlicher, als die Depression eine Erkrankung ist wie jede andere, die bei entsprechender Kompetenz mit guten Erfolgsaussichten behandelt werden kann.
Internet als letzte Rettung?
An der Psychiatrischen Universitätsklinik und dem Max-Planck-Institut für Psychiatrie in München hat man erkannt, dass im Hinblick auf Depressionen in der Bevölkerung – ebenso wie bei den Ärzten – enorme Wissenslücken bestehen. Als Konsequenz wurde 1999 ein Großforschungsprojekt ins Leben gerufen, das Kompetenznetz Depression, das vom Bundesministerium für Bildung und Forschung mit 25 Millionen Mark gefördert wird.
Ziel ist es, diagnostische und therapeutische Defizite bei den Hausärzten zu beheben, und die Krankheit mit ihren Symptomen und Therapiemöglichkeiten bei Betroffenen wie auch in der Öffentlichkeit bekannt zu machen. Zwei Teilprojekte können bereits jetzt eine beachtliche Erfolgsbilanz aufweisen: Das Internet Informations- und Diskussionsforum www.kompetenznetz-depression.de und das "Nürnberger Bündnis gegen Depression".
Beim Internet-Forum des Kompetenznetzes Depression handelt es sich um ein fachärztlich betreutes Informations- und Diskussionsforum, das für Betroffene und Angehörige inzwischen zu einer wichtigen Anlaufstelle geworden ist. Für Professor Hegerl stellt das Internet eine bedeutende Quelle für Gesundheitsinformationen dar, ganz besonders im Bereich der Psychiatrie, wo dieses Medium einerseits besondere Chancen hat, andererseits aber auch mit teilweise nur schwer kalkulierbaren Risiken einhergeht.
Internet – für anonyme Information
Auch wenn es heute "in" ist, sich zu outen, wird in unserer Gesellschaft über psychische Erkrankungen nicht offen gesprochen. Daher konnte sich das Internet rasch durchsetzen, denn die Möglichkeit, sich anonym zu informieren und auszutauschen, kommt psychisch kranken Menschen sehr entgegen. Eine Umfrage bei mehr als 600 psychiatrischen Patienten in München zeigte, dass immerhin 40 % das Internet nutzen, bei Patienten mit der Diagnose "Depression" waren es 33 %.
Viele Betroffene haben dort krankheitsbezogene Informationen gesucht, gaben jedoch zu einem hohen Prozentsatz an, dass das Resultat ihrer Internet-Recherchen unbefriedigend war. Das sei nicht verwunderlich, so Professor Hegerl, da die Orientierung auf diesem Sektor nicht gerade einfach ist, von der Qualitätsbeurteilung der Treffer ganz zu schweigen.
Daher seine Forderung: Universitäten und Fachgesellschaften dürfen sich dieser neuen Herausforderung nicht länger entziehen und müssen durch die professionelle Begleitung von Internet-Angeboten richtungsweisende Qualitätsstandards setzen. Qualitativ hochstehende Foren wie das Kompetenznetz Depression finden inzwischen eine enorme Akzeptanz: täglich kontaktieren mehr als 1200 Besucher diese Homepage.
Neben Informationen über Symptome, Ursachen und Behandlungsmöglichkeiten der Depression spielen interaktive Elemente eine wesentliche Rolle. Ein Wissensquiz und ein "Selbsttest Depression" stehen zur Verfügung, ebenso wie ein intensiv genutztes Diskussionsforum und ein Chatroom. Das Forum wird von einem Facharzt für Psychiatrie moderiert, so dass einerseits fachliche Hilfen angeboten, und andererseits medizinisch-fachliche Fehlinformationen von Seiten der Diskussionsteilnehmer korrigiert werden können.
Das Forum enthält inzwischen über 10 000 oft mehrere Seiten lange Beiträge zu den verschiedensten Aspekten der Depression. Ratschläge von Betroffenen, das hat sich bei einer Auswertung gezeigt, genießen eine hohe Glaubwürdigkeit und Wertschätzung bei den Teilnehmern. Sie tragen entscheidend dazu bei, dass Ratsuchende mit entsprechenden Symptomen einen Arzt konsultieren und eine Therapie beginnen.
Das Risiko nicht übersehen
Dass der anonyme Austausch über das Internet auch immense Gefahren in sich birgt, zeigen die Online-Suizidforen. Tatsache ist, dass Menschen mit einer schweren Depression den Suizid oft als einzigen Ausweg sehen. In Deutschland gab es im Jahr 1999 mehr Suizide (11 157) als Verkehrstote (7749). Dr. Patrick Bussfeld, Wissenschaftlicher Mitarbeiter beim Kompetentnetz Depression, erläuterte, dass Suizid-Foren für Lebensüberdrüssige den entscheidenden Anstoß bieten können, die Suizidideen zu konkretisieren und zu realisieren. Experten schätzen, dass allein in Deutschland 30 derartige Foren existieren, weltweit sind es wohl weit über tausend. Dort tauschen sich Teilnehmer über Todeswünsche und Suizidpläne aus, bis hin zu Tipps, wie man sich Gifte, Waffen oder Munition beschaffen kann.
Gerade jüngere Menschen reizt der Tabubruch, doch das anfängliche Spiel mit dem Feuer kann rasch todernst werden: Der gemeinsame, über das Internet vereinbarte Selbstmord von zwei jungen Menschen ging im Februar 2000 durch die Schlagzeilen. Da diese Foren mit Servern irgendwo im Ausland nicht ohne weiteres zugänglich sind, ist eine Kontrolle praktisch nicht möglich.
Nürnberger Bündnis gegen Depression
Gerade deshalb muss diesen Aktivitäten entgegengesteuert werden. Etwa mit dem "Nürnberger Bündnis gegen Depression", einem beispielhaften Pilotprojekt zur Suizidprävention im Großraum Nürnberg, das im Rahmen des Kompetenznetzes Depression konzipiert wurde. Das Nürnberger Aktionsprogramm wendet sich mit einem breiten Spektrum an Informations- und Fortbildungsangeboten an alle Nürnberger Bürger, um Wissensdefizite im Zusammenhang mit Depressionen auszuräumen.
Hausärzte werden geschult und Fortbildungen für Pfarrer, Lehrer, Altenpflegekräfte und Polizeibeamte veranstaltet. Mit Plakaten, Videos und einem Kinospot wird das Tabuthema Depression zur Sprache gebracht. Eine erste Zwischenbilanz nach einem Jahr ist mehr als ermutigend: die Zahl der Suizide und Suizidversuche ging im ersten Jahr – im Vergleich zum Vorjahr – um mehr als 30 % zurück.
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