Feuilleton

Apotheker als Unternehmer: Hermann Ilgen (1856 – 1940) und das Rattengift

Verheerend muss in Baden die Mäuseplage Anfang der Achtzigerjahre des neunzehnten Jahrhunderts gewesen sein. Die Tiere richteten auf den Feldern so großen Schaden an, dass sogar in sächsischen Zeitungen per Anzeige um Hilfe gebeten wurde. Hermann Ilgen, der gerade die Apotheke in Kötzschenbroda bei Dresden Ų die heutige Stadt-Apotheke Radebeul Ų erworben hatte, beschloss, mit den bereits von seinem Vorgänger Heinrich Moll hergestellten Phosphor-Pillen groß in das Geschäft einzusteigen. Das Mäuse- und Rattengift sollte ihm mehrere Millionen Mark Gewinn bescheren.

Werbung mit Pröbchen

Hermann Ilgen bereitete mithilfe des Personals einen Zentner Phosphor-Pillen. Diese schickte er an sämtliche Gemeindevorstände in Baden mit der Bitte, sie versuchsweise an die Bewohner zu verteilen. Das Gift wirkte offenbar schnell: Bereits nach vier Tagen gingen in der Apotheke Bestellungen für vier Zentner Pillen ein. Solch eine rege Nachfrage hatte Hermann Ilgen kaum erwartet. Es fiel ihm nicht leicht, die Kunden prompt zu bedienen.

Der Apotheker ahnte, dass das Gift ein Verkaufsschlager werden sollte. Deshalb entwickelte er mithilfe eines Maschinenschlossers eine Maschine, mit der täglich sechs Zentner Pillen hergestellt werden konnten. Doch die Konkurrenz schlief nicht. Kurze Zeit, nachdem er eine zweite Maschine bestellt hatte, entdeckte der Apotheker in der Zeitung die Anzeige eines Leipziger Kollegen. Dieser bot ebenfalls Giftpillen an, allerdings zu einem erheblich niedrigeren Preis. Nach derzeitigem Erkenntnisstand ist die Rezeptur Hermann Ilgens nicht erhalten geblieben. Eugen Dieterichs "Neues Pharmaceutisches Manual" beschrieb indessen bereits 1882 detailliert die Zubereitung von Pilulae Phosphori.

Köder mit Fischgeruch

Den Kollegen in Leipzig konnte Hermann Ilgen nicht dazu bewegen, den Preis für sein Präparat zu erhöhen. Deshalb überlegte er auf der Rückfahrt nach Kötzschenbroda, wie sich beim Vertrieb seiner Giftpillen Kosten einsparen lassen. Schließlich erinnerte er sich an einen Fischhändler in Dresden. Diesen fragte der Apotheker, ob er die hölzernen Fischkisten, die im Handel nicht mehr gebraucht wurden, für eine Versuchsreihe kaufen könne. Fünf Tage später wurden per Möbelwagen 5000 Fischkisten nach Kötzschenbroda geliefert.

Möglicherweise war eben der Versand der Pillen in den nach geräuchertem Fisch riechenden Holzkisten das "Ei des Kolumbus". Nach Baden schrieb Hermann Ilgen jedenfalls selbstbewusst, dass er die Menschen vor dem wirtschaftlichen Untergang errette, weil er eine Pille mit Witterung erfunden habe. Ein Zentner seines Präparats koste zwar zehn Mark mehr als das Mäusegift des Leipziger Mitbewerbers, aber dafür sei der beste Erfolg verbürgt. Die Kunden möchten sich bitte nicht durch minderwertige Mittel täuschen lassen.

Offenbar konnte der Apotheker die geplagten Badener mit "vergleichender Werbung" überzeugen. Der Absatz der Giftpillen stieg auf bis zu 30 Zentner pro Tag, und der Umsatz erreichte mehrere Millionen Mark. Als die Fischkisten allmählich zur Neige gingen, konnte Hermann Ilgen vor Sorge drei Nächte nicht schlafen. Schließlich habe er aber eine andere Lösung gefunden, die sein Präparat wieder konkurrenzlos machte, schreibt er in seinen Erinnerungen.

Hochgeehrter Mäzen

Aufgrund seines wirtschaftlichen Erfolges verlegte sich Hermann Ilgen auf größere Geschäfte. 1885 finanzierte er den Bau der Kötzschenbrodaer Sparkasse, es folgten gewinnbringende Immobiliengeschäfte in Dresden und Leipzig. 1893 verkaufte er die Offizin, und 1899 bezog er eine Villa in Dresden-Blasewitz. Nur ungern erwähnte er indessen, dass auch seine Ehefrau als Tochter eines Leipziger Bauunternehmers seinen Reichtum mitbegründet hatte.

Mit seinem Kapital gründete Hermann Ilgen wohltätige Stiftungen zur Förderung der Künste, der Wissenschaft sowie des Sports. Auch spendete er Mittel für Behinderte und Altersheime. 1932 finanzierte er den Bau der Goethe-Kulturhalle in Leipzig und stiftete die Goetheplakette, die er mit dem Nobelpreis verglich. (Als großer Wohltäter soll Ilgen auch zu Selbstbeweihräucherung und Größenwahn geneigt haben.)

1929 wurde der Apotheker in seiner Geburtstadt Wurzen zum Ehrenbürger und 1936 zum Domherrn ernannt. Auch in Dresden und Leipzig wurde er mit zahlreichen Titeln geehrt: Geheimer Hofrat, Kammerrat, Ehrenbürger der Stadt Dresden, Ehrensenator der Universität Leipzig, Ehrensenator der Technischen Hochschule Dresden, Ehrenmitglied des Reichskolonialbundes und Ehrenmitglied der Heilsarmee. In Dresden erinnert heute noch die "Ilgen-Kampfbahn" an den geschäftstüchtigen Apotheker, der am 15. April 1940 starb.

Rezeptur Phosphor-Pillen (Pilulae Phosphori) 50,0 Phosphor übergiesst man mit 500,0 mässig heissem Wasser und rührt, wenn der Phosphor geschmolzen ist, von 2500,0 bestem Roggenmehl so viel unter, dass ein dünner Brei entsteht. Man rührt diesen so lange, bis man den Phosphor gleichmässig verteilt glaubt, fügt noch 500,0 heisses Wasser und wieder Mehl hinzu, bis ein Teig entstanden, und bringt diesen unter die Breche (Pillenmasse-Knetapparat), hier noch das übrig gebliebene Mehl darunter arbeitend. Man stellt nun Pillen her.

Zum Beschweren der Phosphorpillen nimmt man am besten Schwerspatpulver. Das von anderer Seite vorgeschlagene Verfahren, Erbsen in Phosphorbrei einzurollen, ist nicht als zweckentsprechend zu bezeichnen.

Aus Eugen Dieterich, Neues Pharmaceutisches Manual, 1882

Kurzvita Am 22. Juli1856 in Wurzen bei Leipzig als Sohn eines Schuhmachermeisters geboren, hatte Hermann Ilgen im erzgebirgischen Buchholz die Pharmazie erlernt. Nach der Lehre hatte er unter anderem in Delitzsch, Frankfurt am Main und Berlin gearbeitet, dann in Leipzig Pharmazie studiert und nach dem Staatsexamen (cum laude) in Freiberg und Meiningen gearbeitet.

Sein Vater finanzierte 1882 den Erwerb der Offizin in Kötzschenbroda (Radebeul), die eine Monopolstellung hatte und Medikamente an die Patienten von achtzehn Ärzten abgab.

Ilgen brachte das "quasi durch den Vorgänger verbummelte Geschäft auf visionsmäßigen Stand", wie es in einer Niederschrift heißt, die beim Umbau der heutigen "Stadt-Apotheke Radebeul" im Winter 1969 gefunden wurde. Bereits 1893 verkaufte er die Apotheke wieder und widmete sich anderen Geschäften.

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