Arzneistoffporträt

Vitamin E – mehr als ein Antioxidans

Von Christiane Weber | Vitamin E hat sich bisher in erster Linie als lipophiles Antioxidans einen Namen gemacht. Darauf beruht sein Einsatz bei oxidativ-entzündlichen Krankheitsprozessen wie z. B. degenerativen Gelenkentzündungen oder atherogenen Gefäßveränderungen. Doch damit ist das Potenzial dieses essenziellen Vitamins keineswegs erschöpft: Wie zahlreiche Untersuchungen gezeigt haben, besitzt α-Tocopherol auch differenzierte, Antioxidans-unabhängige Funktionen.

Der Begriff „Vitamin E“ wurde für einen Mikronährstoff geprägt, der 1922 als unentbehrlicher Faktor für die Reproduktion von Ratten erkannt wurde. Mit Vitamin E wird heute eine Gruppe von acht verschiedenen, in Pflanzen produzierten, methylierten Tocol-Derivaten bezeichnet. Der Unterschied zwischen den jeweiligen Tocopherol- bzw. Tocotrienol-Verbindungen liegt in der chemischen Struktur ihrer Seitenketten, die bei den Tocopherolen gesättigt und bei den Tocotrienolen ungesättigt ist. Die einzelnen Verbindungen haben eine unterschiedliche Bioverfügbarkeit und Effektivität, wobei RRR-α-Tocopherol (= D-α-Tocopherol) die höchste biologische Aktivität aufweist.

Schutz vor radikalem Gelenkangriff

Der Hintergrund chronischer Gelenkerkrankungen wie rheumatoider Arthritis und Osteoarthrose wird heute in inflammatorisch-immunologischen Prozessen in den Gelenken vermutet, wobei es zur massiven Freisetzung von Entzündungsmediatoren und reaktiven Sauerstoffspezies kommt. Hier besteht der Ansatzpunkt für hoch dosiertes Vitamin E, das als lipophiles Antioxidans den oxidativen Stress im betroffenen Gewebe vermindern, freie Radikale unschädlich machen und so Gelenkschäden verringern kann.

Untersuchungen haben gezeigt, dass die Vitamin-E-Konzentration in der Synovialflüssigkeit entzündeter Gelenke signifikant erniedrigt ist und die Vitamin-E-Plasmaspiegel von Rheuma-Patienten unter den Werten Gesunder liegen.

Weniger Schmerzmittel dank Vitamin E?

Auch wenn der evidenzbasierte Beweis für die analgetische und antiphlogistische Wirksamkeit des Vitamin E in großen Studien noch aussteht, weist doch mittlerweile eine Fülle von Untersuchungen darauf hin, dass Patienten mit entzündlich degenerativen Gelenkerkrankungen von der Vitamin-E-Einnahme profitieren können: So wurden in einer GCP-konformen kontrollierten Doppelblindstudie (Edmonds, S. E. et al.) 42 Patienten mit rheumatoider Arthritis unter Fortführung ihrer Basismedikation entweder mit Plazebo oder mit 1632 I.E. Vitamin E supplementiert. Während die klinischen und laborchemischen Parameter unbeeinflusst blieben, besserte sich der anhand einer visuellen Analogskala ermittelte Schmerzparameter in der Vitamin-E-Gruppe signifikant.

In einer weiteren randomisierten Doppelblindstudie (Scherak, O. et. al.) erhielten 53 Patienten mit aktivierter Cox- oder Gonarthrose Diclofenac oder Vitamin E (ca. 1500 I.E.). Nach drei Wochen wurde in der Vitamin-E-Gruppe eine deutliche Besserung der klinischen Symptome festgestellt, wobei die Reduktion des Ruhe-, Druck- und Bewegungsschmerzes bei rund zwei Drittel der Patienten mit dem analgetischen Effekt von 150 mg Diclofenac vergleichbar war.

Bei einer Befragung von 3000 Personen, die über mehrere Monate täglich mindestens 500 I.E. Vitamin E (Optovit®) einnahmen, zeigte fast die Hälfte der Teilnehmer mit Gelenkbeschwerden (n = 266) eine spürbare Symptombesserung. Von denjenigen, die zusätzlich Schmerzmittel eingenommen hatten, konnte fast jeder zweite (48,1%) seinen Analgetikaverbrauch reduzieren.

Nicht-antioxidative Mechanismen

Vitamin E lediglich auf seine antioxidativen Effekte zu reduzieren, würde dem Potenzial dieses Vitamins nicht gerecht. Dies ist das Resultat mehrerer experimenteller Untersuchungen, in denen die einzelnen Tocopherol-Analoga trotz vergleichbarer antioxidativer Kapazität unterschiedliche molekularbiologische Wirkungen zeigten. Viele der nicht-antioxidativen Effekte des α-Tocopherols lassen sich nach heutiger Erkenntnis auf die Hemmung der Proteinkinase C (PKC) zurückführen, wie z. B. die Proliferationshemmung glatter Gefäßmuskelzellen, die reduzierte Superoxidproduktion in Neutrophilen und Makrophagen, die gedrosselte Endothelin-Bildung von Endothelzellen etc. Auf welchem Weg α-Tocopherol den Lipoxygenase- und Cyclooxygenase-Weg sowie die Thrombozytenaggregation hemmt, ist noch nicht abschließend geklärt.

Darüber hinaus moduliert α-Tocopherol offensichtlich die Expression mancher Gene, z. B. für die Kollagenase, für Adhäsionsmoleküle wie ICAM-1, für manche Integrine und weitere proinflammatorische Zytokine. Von besonderer Bedeutung ist die Down-Regulation des Scavenger-Rezeptors, der die Aufnahme von oxidiertem LDL in Makrophagen und deren Umwandlung zu Schaumzellen in der Arteriengefäßwand vermittelt. Auf diese Weise hemmt α-Tocopherol einen entscheidenden Schritt im atherogenen Krankheitsgeschehen.

Der daraus abgeleitete Einfluss von Vitamin E auf Prophylaxe und Therapie kardiovaskulärer Erkrankungen wurde in vivo bereits in zahlreichen, groß angelegten Studien (z. B. CHAOS, HOPE, ATBC, GISSI, SPACE) untersucht. Die Ergebnisse sind teilweise positiv, doch gleichzeitig auch recht widersprüchlich, nicht zuletzt deshalb, weil uneinheitliches Probandengut (Alter, Geschlecht, Krankheitsstadien) und verschiedene Vitamin-E-Dosen betrachtet wurden.

Option für neurodegenerative Erkrankungen?

Man geht heute davon aus, dass oxidativer Stress einen wichtigen pathogenetischen Faktor bei der Entstehung neurodegenerativer Erkrankungen wie Alzheimer-Demenz und Morbus Parkinson darstellt. So wurden im Hirn sowohl von Alzheimer- als auch von Parkinson-Patienten typische Oxidationsprodukte gefunden, die wahrscheinlich im Zusammenhang mit der gestörten Synapsenfunktion und dem Untergang von Neuronen zu sehen sind.

In einer plazebokontrollierten Studie mit 341 mittelschweren Alzheimer-Fällen erzielte sowohl die zweijährige Einnahme des MAO-Hemmers Selegilin (10 mg/Tag) als auch von Vitamin E (2000 I.E./Tag) sowie deren Kombination gegenüber Plazebo ein Hinauszögern des Zeitpunkts für die Pflegeheimeinweisung. Außerdem konnte die Verschlechterung der Alltagskompetenz der Patienten signifikant verzögert werden.

Der Effekt von Vitamin E auf die Progression von Morbus Parkinson wurde in verschiedenen epidemiologischen Studien getestet. Die Rotterdam-Studie (de Rijk et al.) entdeckte dabei einen inversen Zusammenhang zwischen der alimentären Vitamin-E-Aufnahme und der Parkinson-Inzidenz. Im Tierversuch wurde an Mäusen nach 52-wöchiger Vitamin-E-freier Diät ein progredienter Verlust an dopaminergen Zellen festgestellt.

Ob und inwieweit Vitamin E als etabliertes lipophiles, hirngängiges Antioxidans, das in der Lage ist die Peroxidkettenreaktion zu unterbrechen, eine sinnvolle therapeutische Option bei neurodegenerativen Erkrankungen darstellen könnte, werden weitere Untersuchungen noch zeigen müssen. Ein Therapieversuch mit einer zusätzlichen Gabe von hoch dosiertem Vitamin E erscheint jedoch aufgrund der guten Verträglichkeit dieser Substanz empfehlenswert.

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