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- DAZ 42/2008
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Arzneimittel und Therapie
"30% weniger Grippetote sind einigermaßen realistisch"
In der Oktoberausgabe des Arzneitelegramms ist unter dem Titel: "Grippeimpfung – Erfolgsraten gebastelt nach RKI-Methode" zu lesen [1]:
"Das RKI scheut sich nicht, den Mittelwert aus Äpfeln und Birnen zu bilden und diesen als Rhabarber zu verkaufen."
Hintergrund dieser harschen Kritik ist eine vom RKI herausgegebene Pressemitteilung, in der behauptet wird, dass Grippeimpfungen in der Zeit von 2001/2002 bis 2006/2007 etwa 5300 Menschen über 60 Jahren vor dem Grippetod bewahrt haben [s. a. Dtsch. Apoth. Ztg. 2008; 148 (38) 4142–44]. Das Robert Koch-Institut ist bei der Berechnung dieser Zahl von einer 30%igen Schutzwirkung der Influenzaimpfung in der Gruppe der über 60-Jährigen ausgegangen. Das Arzneitelegramm hat nun versucht, nachzuvollziehen, wie das RKI zu dieser Zahl gekommen ist. Dazu hat es die in diesem Zusammenhang vom RKI zitierten Arbeiten aus den Jahren 2004 (Mangtani et al. [2]) und 2007 (Nichol et al. [3]) näher unter die Lupe genommen.
(Äpfel + Birnen): 2 =Rhabarber
Zunächst war man verwundert, dass in beiden Arbeiten zwar Sterberaten, aber keine Zahlen zu tödlichen Grippeinfektionen zu finden sind. In der Arbeit aus dem Jahr 2004 wurde die Todesrate an allen respiratorischen Erkrankungen (Äpfel) gemessen und eine Reduktion von 12% durch die Impfung ermittelt. In der zweiten Arbeit war eine in den Augen des Arzneitelegramms völlig unrealistische Reduktion der Gesamtmortalität (Birnen) von 48% gefunden worden. Das RKI habe nun die beiden Zahlen 12% und 48% addiert, durch 2 geteilt und sei so zu einer 30%igen Reduktion tödlicher Grippeinfektionen (Rhabarber) gekommen.
"Eine eindeutige Zahlgibt es nicht!"
Auf Nachfrage der Deutschen Apotheker Zeitung erklärte Dr. Udo Buchholz vom Robert Koch-Institut, dass es momentan nicht die eine, eindeutige Zahl, gibt, mit der die Wirksamkeit der Influenza-Impfung bei der älteren Bevölkerung beziffert werden kann. Dieses Thema sei sehr im Fluss. Er gibt zu bedenken, dass sich die Influenza-Impfung beispielsweise von der Masern-Impfung dahingehend unterscheidet, dass sich das Virus, der Impfstoff, die Suszeptibilitätslage der Bevölkerung und das Verhältnis zueinander quasi von Winter zu Winter unterscheiden. Insofern sollte immer genau angegeben werden, in welcher Altersgruppe, in welcher Saison, in welchem Land, in welcher Bevölkerungssubgruppe und mit welchem Endpunkt die entsprechende Studie durchgeführt wurde. Die europäische Seuchenbehörde in Stockholm zitiere beispielsweise zwei Studien, die die Wirksamkeit der Impfung in der älteren Bevölkerung in der 1990er-Dekade untersucht haben (ECDC. Seasonal influenza vaccination – the facts. www.ecdc.eu.int). Dabei handelt es sich um die vom Arzneitelegramm aufgegriffenen Studien von Mangtani (2004) und Nichol (2007) mit den oben beschriebenen Ergebnissen. Eine weitere, methodisch sehr gute Arbeit wurde 2007 von Ortqvist [4] zu Daten aus Schweden veröffentlicht, mit dem Resultat von 14%-, 19%- und 1%iger Wirksamkeit vor Tod jeglicher Ursache in den drei Saisonen 1998/99, 1999/2000, und 2000/01. Buchholz will damit zeigen, wie weit die Zahlen, auch in sehr guten Studien, auseinandergehen, und von Saison zu Saison schwanken können. Für die Berechnungen des RKI habe man jedoch einen Wert zur Schutzwirkung vor den Todesfällen benötigt, die der Influenza zugeschrieben werden, d. h. nicht die Schutzwirkung der Impfung vor Todesfällen respiratorischer Ursache (Mangtani [1]) und nicht vor Todesfällen jedwelcher Ursache (Nichol [2]). Spezifische Endpunkte, so Buchholz, führen in der Regel zu höheren Wirksamkeitswerten, weil der Schutzeffekt nicht durch Todesfälle anderer Ursache "verdünnt" wird. Daher habe man einen Wert angenommen, der höher liegt als der von Mangtani und Ortqvist, aber immer noch niedriger als der von Nichol, obwohl in ihrer Studie der Endpunkt Gesamtmortalität unspezifischer war. Der Wert von "30%" sei also keinesfalls ein in Stein gemeißelter Wert und als solcher natürlich anfechtbar. Er orientiere sich aber an realen Studien. Im vorliegenden Fall habe er nur als eine einigermaßen realistische Annahme zur Durchführung von Berechnungen gedient.
Quelle
[1] Wird die Wirksamkeit der Influenzaimpfung überschätzt? Arzneitelegramm 2008; 39: 101 – 103. [2] Nichol KL et al.: Effectiveness of Influenza vaccine in the Community-Dwelling Elderly. N Engl J Med 2007; 357: 1373 – 81. [3] Mangtani P et al.: A cohort study of the effectiveness of influenza vaccine in older people, performed using the United Kingdom general practice research database. J Infect Dis 2004; 190(1): 1 – 10. [4] Ortqvist A et al.: Influenza vaccination and mortality: prospective cohort study of the elderly in a large geographical area. Eur Resp J 2007; 30: 414 – 425.
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Influenzaimpfung
Beobachtungsstudien sorgen für VerunsicherungDie Diskussion um die Schutzwirkung der Grippeimpfung hat durch zwei vor Kurzem veröffentlichte Studien neuen Auftrieb erhalten. In beiden Studien waren Zweifel an den bisherigen Berechnungen geäußert worden [s.a. Dtsch. Apoth. Ztg. 2008; 148 (38) 4142–44]. Der kanadische Epidemiologe Dean Eurich hatte den Einfluss eines Healthy-user-Effektes auf die Ergebnisse von Beobachtungsstudien untersucht [1]. Ausgangspunkt war die Hypothese, dass sich vor allem gesündere Senioren impfen lassen, die auch ohne Impfung eine Influenzainfektion ohne größere Komplikationen überstehen würden. Vor diesem Hintergrund hatte Eurich die Daten von 352 geimpften und 352 ungeimpften Patienten gesichtet, bei denen außerhalb der Grippesaison eine Lungenentzündung aufgetreten war. Die Impfung sollte also keinen Einfluss auf die Mortalität haben. Dennoch lag die der Geimpften mit 51% signifikant unter der der Nichtgeimpften. Das wertet Eurich als Beleg für einen Healthy-user-Effekt. Der Benefit einer Grippeimpfung, wie er in Beobachtungsstudien ermittelt worden ist, könnte aufgrund eines solchen Healthy-user-Effektes überschätzt worden sein. In der zweiten Studie wurde der Frage nachgegangen, wie sich die Grippeimpfung auf das Auftreten ambulant erworbener Pneumonien auswirkt [2]. Beobachtungsstudien hatten ergeben, dass mit einer 20- bis 30%igen Reduktion durch die Grippeimpfung zu rechnen sei. Um Verzerrungen zu vermeiden, wurde auch der Gesundheitszustand der Patienten wie das Vorliegen schwerer Vorerkrankungen berücksichtigt. Das Ergebnis: Die Pneumonierate lag in der Gruppe der Geimpften nur um 8% unter der der Nichtgeimpften. Im Editorial zu der letztgenannten Veröffentlichung weisen die Autoren Belongia und Shay darauf hin, dass der Endpunkt "Pneumonie jeder Ursache" unspezifisch ist. Wird nun in Betracht gezogen, dass während der Grippewelle ca. 10 bis 30% der Pneumonien in der älteren Bevölkerung der Influenza zuzuschreiben sind, könnte die Schutzwirkung vor Influenza-bedingter Pneumonie in dieser Altersgruppe zwischen 33% und 74% liegen.
Placebokontrollierte Studien nicht machbarDie Studien offenbaren die Schwachstellen von Beobachtungsstudien hinsichtlich ihrer Aussagekraft. Das Arzneitelegramm wertet die Studien als klaren Hinweis darauf, dass die angeblichen Effekte einer Grippeschutzimpfung zumindest teilweise vorgetäuscht sind. Es will die Arbeiten allerdings nicht als Beleg für die Unwirksamkeit der Influenzaimpfung verstanden wissen. Sie würden aber das Fehlen valider Wirksamkeitsdaten belegen, die nur durch randomisierte placebokontrollierte Studien zu erhalten seien. Das Robert Koch-Institut gibt zu bedenken, dass solche an sich wünschenswerten Studien als ethisch nicht vertretbar angesehen werden und daher wohl von keiner Ethikkommission genehmigt werden würden. Quelle
[1] Eurich DT et al.: Mortality Reduction with Influenza Vaccine in Patients with Pneumonia Outside "Flu" Season. Am J Resp Crit Care Med 2008;178: 527– 533.
[2] Jackson ML et al.: Influenza vaccination and risk auf community-acquired pneumonia in immunocompetent elderly people. Lancet 2008; 372: 398 – 405.
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