Arzneimittel und Therapie

Krimi um neue Antidiabetika

Vorverurteilung oder Risiko-Unterschätzung?

Von Verena Stahl | Unfassbares scheint sich bei der Risikobewertung von GLP-1-basierten Therapien (Inkretinmimetika und DPP-4-Inhibitoren) abzuspielen, wenn man den investigativen Recherchen des anerkannten British Medical Journals glauben kann. Lange ist bekannt, dass den Hoffnungsträgern in der Diabetestherapie ein Risiko für Bauchspeicheldrüsenentzündungen und Pankreaskarzinomen anhängt. Wie weitreichend Risiko-identifizierende Studiendaten kritisiert oder gar nicht erst veröffentlicht wurden, war jedoch bislang nicht bekannt. Demgegenüber stehen jüngst abgeschlossene Untersuchungen der Europäischen Arzneimittel-Agentur (EMA), die zum jetzigen Zeitpunkt kein erhöhtes Risiko für das Pankreas feststellen konnten.

Die Entdeckung der GLP-1-basierten Therapien kann zweifelsohne als Meilenstein in der Medizin bezeichnet werden. Ansatzpunkt ist das körpereigene Inkretinhormon Glucagon-like peptide-1 (GLP-1), dessen glucoseabhängiger, raffinierter Wirkmechanismus gleichzeitig die Insulinsekretion und die Glucagonsuppression fördert und damit die Blutglucosespiegel senkt (siehe Abbildung 1). Ein weiterer positiver Effekt ist die Verzögerung der Magenentleerung in den Darm mit langsamerer Aufnahme von Glucose in den Blutkreislauf, woraus ein flacheres Blutglucoseprofil resultiert. Da GLP-1 zusätzlich auch das Sättigungsgefühl im Zentralnervensystem stimuliert, können GLP-1-basierte Therapien zur wertvollen Gewichtsreduktion, nicht nur bei Typ-2-Diabetikern, beitragen. Ihr Potenzial in der Behandlung der „Volkskrankheiten“ Diabetes mellitus Typ 2 und Adipositas ist somit vielversprechend, wenn nicht sogar revolutionär.

Abb. 1: Die Wirkung des körpereigenen Inkretinhormons Glucagon-like-peptide-1 (GLP-1) beschränkt sich nicht nur auf das Pankreas.

Die Wirkung von GLP-1 wird durch Analoga, sogenannte GLP-1-Rezeptoragonisten (Inkretinmimetika, Vertreter auf dem deutschen Markt: Exenatid, Liraglutid, Lixisenatid) imitiert oder sein enzymatischer Abbau wird durch Inhibitoren der Dipeptidylpeptidase 4 (DPP-4-Inhibitoren oder Gliptine, Vertreter auf dem deutschen Markt: Saxagliptin, Sitagliptin, Vildagliptin) gehemmt. Aufgrund der multiplen Wirkungen des Hormons GLP-1 auf den Organismus (auch als pleiotrope Effekte bezeichnet) bleibt aber auch das Risiko von Nebenwirkungen der GLP-1-basierten Therapien nicht aus. Hiervon scheinen sowohl der Verdauungsenzyme-produzierende exokrine Teil des Pankreas als auch der Hormon-produzierende endokrine Teil des Pankreas betroffen. Eine Wirkung auf den exokrinen Teil kommt daher zustande, da GLP-1-Rezeptoren auch hier exprimiert werden; ihre Stimulation führt zu einer generellen Wachstumsförderung und zu erhöhten Pankreasenzymwerten (Amylase, Lipase). Die nachteilige Wirkung auf den endokrinen Teil der Bauchspeicheldrüse ist darin begründet, dass GLP-1 nicht nur selektiv die für die Therapie gewünschte Proliferation von Insulin-produzierenden β-Zellen fördert, sondern auch die der α-Zellen. Es wird vermutet, dass es sich hierbei um einen kompensatorischen Effekt handelt, der durch die erwünschte Unterdrückung der Glucagonfreisetzung in den α-Zellen hervorgerufen wird.

FDA und EMA aufgeschreckt

Drei Untersuchungen, die in diesem Jahr veröffentlicht wurden, veranlassten die FDA und die EMA, die Sicherheit der GLP-1-basierten Therapien genauer unter die Lupe zu nehmen. Es galt, den in den Studien erneut aufgeworfenen Verdachtsmoment zu überprüfen, ob GLP-1-basierte Therapien die Entwicklung von Pankreatitiden oder Pankreaskarzinomen verursachen oder hierzu beitragen [1]. So zeigte eine im Februar veröffentlichte Studie, dass Patienten unter Exenatide oder Sitagliptin ein doppelt so hohes Risiko hatten, wegen einer akuten Pankreatitis hospitalisiert zu werden, als Patienten, die andere Antidiabetika einnahmen [2]. Der zweite Aufhänger ergab sich aus den in Amerika erfassten Daten des nationalen Meldesystems zu unerwünschten Arzneimittelereignissen (FDA Adverse Event Reporting System, FAERS). Für den Ein-Jahres-Zeitraum vom 1. Juli 2011 bis 30. Juni 2012 führte das Institute for Safe Medication Practices (ISMP) eine Analyse der FAERS-Daten durch und konnte eine Zunahme von Meldungen zu Pankreatitiden und Pankreaskarzinomen im Zusammenhang mit GLP-1-basierten Therapien im Vergleich zu anderen Antidiabetika feststellen [3]. Insgesamt wurden 831 Pankreatitis-Fälle, 105 Fälle von Pankreaskarzinomen und 32 Fälle von Schilddrüsenkarzinomen in Verbindung mit GLP-1-basierten Therapien gemeldet. Es muss dabei berücksichtigt werden, dass diese Meldungen sowohl von Heilberuflern als auch von Patienten erfolgen können und dass das Meldeverhalten von in der Öffentlichkeit diskutierten Risiken beeinflusst sein kann. Eine Übersicht über die Anzahl schwerwiegender Meldungen im Vergleich zum Verordnungsvolumen der fünf untersuchten GLP-1-basierten Therapien gibt Abbildung 2.

Abb. 2: Anzahl schwerwiegender Meldungen pro 100.000 Verordnungen (oben) und Verordnungsvolumen innerhalb eines Jahres (adaptiert nach [3]).

In der dritten Studie, welche die EMA und die FDA zu einer Nachprüfung veranlasste, fanden Wissenschaftler in den exokrinen und endokrinen Bauchspeicheldrüsen-Kompartimenten von acht verstorbenen Organspendern, die mindestens ein Jahr lang mit Exenatide (n = 1) oder Sitagliptin (n = 7) behandelt wurden, präkanzerogene Veränderungen und Dysplasien vor [4]. Es wurde unter anderem der Verdacht einer Gefährdung für die Entwicklung Glukagon-produzierender neuroendokriner Tumoren formuliert.

Untersuchung der EMA abgeschlossen

Laut Pressemitteilung vom 26. Juli 2013 hat die Europäische Arzneimittel-Agentur nun ihre Untersuchungen zum Nebenwirkungsrisiko der GLP-1-basierten Therapien abgeschlossen [5]. Aufgrund der momentan verfügbaren Daten können Befürchtungen über unerwünschte Arzneimittelwirkungen (UAW) auf das Pankreas nicht bestätigt werden. Das mit der Untersuchung beauftragte Committee for Medicinal Products for Human Use (CHMP) habe die Ergebnisse der histologischen Studie zu Pankreatitiden und auffälligen Veränderungen des Bauchspeicheldrüsengewebes von Organspendern [4] kritisch geprüft. Da methodische Beschränkungen und potenzieller Bias, insbesondere gravierende Unterschiede zwischen den untersuchten heterogenen Gruppen im Hinblick auf Alter, Geschlecht, Krankheitsdauer und Behandlungen vorlägen, ist eine aussagekräftige Interpretation der Ergebnisse laut CHMP unmöglich. Die erneute Prüfung weiterer klinischer und nicht-klinischer Daten habe ebenfalls keine Veränderung der Evidenz bezüglich eines erhöhten UAW-Risikos auf das Pankreas durch GLP-1-basierte Therapien gezeigt. Auch für Pankreaskarzinome findet sich laut CHMP kein Hinweis auf ein erhöhtes Risiko unter GLP-1-basierten Therapien. Da aber die Anzahl der Meldungen zu Pankreaskarzinomen noch zu gering sei, könne hier keine definitive Aussage getroffen werden. Die EMA konstatiert abschließend, dass potenzielle Langzeitwirkungen von GLP-1-basierten Therapien auf das Pankreas daher nur anhand weiterer Daten abgeschätzt werden könnten. Diese erhofft man sich von zwei großen Untersuchungen, deren Ergebnisse im Frühjahr nächsten Jahres erwartet werden. In der Zwischenzeit werde man das Nebenwirkungsprofil weiter kritisch beobachten und auf die Einhaltung eines positiven Nutzen-Risiko-Verhältnisses achten. Die Untersuchungen der amerikanischen Arzneimittelbehörde FDA dauern derweil noch an. Indes haben sich auch die drei großen diabetologischen Fachgesellschaften American Diabetes Association (ADA), European Association for the Study of Diabetes (EASD) und die International Diabetes Federation (IDF) zu Wort gemeldet. Sie warnen davor, aufgrund der neuen Studienergebnisse zum Nebenwirkungsrisiko von GLP-1-basierten Therapien voreilig Schlüsse zu ziehen [6]. Selbstverständlich sei es wichtig, Therapieentscheidungen unter Einbeziehung aller potenzieller Risiken und Vorteile zu treffen. Hierbei sei der Stand der wissenschaftlichen Erkenntnis von großer Bedeutung, welcher aber momentan aufgrund der widersprüchlichen Studienlage nicht eindeutig sei, weshalb Änderungen der Therapie unbegründet wären.

Risiko-Unterschätzung laut BMJ

Zu einer negativen Einschätzung des Risikoprofils GLP-1-basierter Therapien kommt das renommierte British Medical Journal (BMJ) in seiner Juni-Ausgabe [7]. In einer umfassenden und mutigen Recherche deckt BMJ-Autorin Deborah Cohen akribisch auf, welche belastenden Studienergebnisse bis dato vorliegen und welche Rolle ihrer Meinung nach die Zulassungsbehörden und pharmazeutischen Hersteller in diesem Kontext spielen. Es ist von unter Verschluss gehaltenen Studiendaten die Rede, von unbeantworteten Nachfragen bei den pharmazeutischen Herstellern, von einer Hinhaltetaktik in Bezug auf weitere Recherchen zum Sicherheitsprofil und von einer Diskreditierung von Wissenschaftlern, die in ihren Analysen Verdachtsmomente aufgedeckt haben. Beispielhaft für die mangelnde Transparenz im Bereich der Risikobewertung ist die Klage von Pankreatitis-Patienten und Hinterbliebenen von Patienten, die an einem Pankreas-Karzinom verstorben sind, die sich gegen den Exenatid-Zulassungsinhaber Bristol-Myers Squibb/AstraZeneca richtet. Die Anklage forderte im Prozessverlauf Einsichtnahme in präklinische histologische Untersuchungen der Bauchspeicheldrüsen von Affen, die mit Exenatide behandelt wurden. Das Unternehmen verweigerte diese Anfrage und verwies auf Unternehmensgeheimnisse, alleinig die FDA könne Zugang hierzu erhalten. Der zuständige Richter entschied, dass ein unabhängiger Pathologe die histologischen Befunde untersuchen sollte. Der beauftragte Professor Taylor fand in den Gewebeproben der behandelten Tiere Hinweise auf chronische Pankreatitiden und Pankreaserkrankungen. Er beobachtete pathologische Veränderungen doppelt so häufig wie bei unbehandelten Tieren. Es wurde der Vorschlag unterbreitet, weiteren Wissenschaftlern eine Untersuchung zu ermöglichen, dies wurde seitens des pharmazeutischen Herstellers jedoch abgelehnt. Der zuständige Richter entschied, dass das tierexperimentelle Untersuchungsmaterial nur freigegeben werden sollte, falls die FDA dies anfragen würde. Diese verlässt sich aber nach eigener Aussage jedoch üblicherweise auf den pathologischen Bericht des Herstellers. Man erkenne bei der FDA nach Durchsicht des Berichts von Taylor nun zwar Differenzen zur ursprünglichen Interpretation der Befunde durch den pharmazeutischen Hersteller, aber habe sich noch nicht entschieden, ob eine Untersuchung durch weitere unabhängige Parteien hilfreich sei. Prekär ist in diesem Zusammenhang, dass die Zulassungsbehörden auf glaubwürdige Informationen der Arzneimittelhersteller selbst angewiesen sind, welche sich aber in einem Interessenskonflikt befinden.

Risiken anderer oraler Antidiabetika

Natürlich sind auch andere orale Antidiabetika keine Waisenknaben im Hinblick auf ihr Nebenwirkungsprofil. Bekannte Beispiele sind die Laktatazidose unter Metformin und ein erhöhtes kardiovaskuläres Risiko und langdauernde Hypoglykämien unter Sulfonylharnstoffen. Auch die Thiazolidindione (Glitazone) sind dereinst mit großen Hoffnungen für eine verbesserte Diabetes-Therapie gestartet. Auch sie greifen wie die GLP-1-basierten Therapien multimodal an. Unerwünschte Wirkungen dieser Gruppe umfassen Gewichtszunahme, Ödeme und Osteopenie. Nach dem aufgrund von kardiovaskulären Risiken 2010 vom Markt zurückgenommenen Rosiglitazon verbleibt aus dieser Gruppe einzig Pioglitazon, welches beharrlich gegen den Verdacht kämpft, das Risiko von Blasenkrebs zu erhöhen. Nachdenklich stimmt die aktuelle Meldung, dass die Entwicklung eines weiteren hoffnungsvollen Wirkstoffs, Aleglitazar (dualer PPARα-/-γ-Agonist), in der Phase III aufgrund von nicht näher benannten Sicherheitsbedenken letzten Monat eingestellt wurde.

Transparenz gefordert

In der Tat kann die Studienlage zum Nebenwirkungsprofil GLP-1-basierter Therapien kontrovers diskutiert werden, die Verdachtsmomente scheinen sich aber zu erhärten. Bei der anhaltenden Diskussion um den Nutzen dieser und weiterer Therapeutika sollte die zuverlässige Einschätzung der potenziell mit ihrem jeweiligen Einsatz verbundenen Risiken eine große Rolle spielen. Nur so können Ärzte und Patienten wichtige Therapieentscheidungen treffen. Daher ist es von großer Bedeutung, mögliche schädigende Mechanismen frühzeitig zu identifizieren und Meldungen über unerwünschte Arzneimittelwirkungen kritisch und konsequent zu verfolgen. Daher sollten auch sämtliche Studiendaten offengelegt werden. Im Falle von GLP-1-basierten Therapien ist das Warten auf weitere, eindeutige Studienergebnisse selbstverständlich berechtigt, aber dieser Prozess zieht sich im Hinblick auf die ersten bereits 2007 beobachteten Verdachtsmomente schon sehr lange hin. Böse Zungen könnten behaupten, dass derweil die Absatzzahlen GLP-1-basierter Therapien weiter florieren. 

Quelle

[1] Drug Safety Communication der FDA: FDA investigating reports of possible increased risk of pancreatitis and pre-cancerous findings of the pancreas from incretin mimetic drugs for type 2 diabetes. www.fda.gov/Drugs/DrugSafety/ucm343187.htm.

[2] Singh S. et al. Glucagon-like peptide 1-based therapies and risk of hospitalization for acute pancreatitis in type 2 diabetes mellitus. JAMA Intern Med 2013; 173(7): 534–539.

[3] Institute for Safe Medication Practices. Quarter Watch. Perspectives on GLP-1 agents for diabetes. www.ismp.org/quarterwatch/pdfs/2012Q3.pdf

[4] Butler A.E. et al. Marked expansion of exocrine and endocrine pancreas with incretin therapy in humans with increased exocrine pancreas dysplasia and the potential for glucagon-producing neuroendocrine tumors. Diabetes 2013;62(7): 2595–2604 [Epub 22. März 2013].

[5] Investigation into GLP-1 based diabetes therapies concluded. Pressemitteilung der EMA vom 26. Juli 2013. www.ema.europa.eu.

[6] ADA/EASD/IDF Statement Concerning the Use of Incretin Therapy and Pancreatic Disease. Pressemitteilung internationaler Diabetes-Fachgesellschaften. www.diabetes.org.

[7] Cohen D. Has pancreatic damage from glucagon suppressing diabetes drugs been underplayed? BMJ 2013; 346: f3680.

Autorin

Dr. Verena Stahl studierte von 2001 bis 2005 Pharmazie an der Philipps-Universität Marburg. An der University of Florida wurde sie als Semi-Resident im landesweiten Drug Information and Pharmacy Resource Center durch Prof. P. L. Doering und Dr. R. C. Hatton ausgebildet. darauf folgte eine berufsbegleitende Dissertation zu einem Thema der Arzneimitteltherapiesicherheit. Seit 2007 ist Frau Stahl in der medizinischen Entwicklungsabteilung der RpDoc Solutions GmbH, Saarbrücken, tätig. Außerdem ist sie Referentin für den postgradualen Masterstudiengang „Consumer Health Care“ der Charité Universitätsmedizin Berlin.

Dr. Verena Stahl, Medizinische Redaktion, RpDoc Solutions GmbH, Heinrich-Barth-Straße 1–1a, 66115 Saarbrücken

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