Arzneimittel und Therapie

Kationische Peptide

Mehr als Antibiotika

Antibiotika im ursprünglichen Sinne sind Stoffwechselprodukte von Bakterien und Pilzen, die andere Mikroorganismen in ihrem Wachstum hemmen. Diese Substanzen gehören unterschiedlichen chemischen Klassen an, zum Beispiel ß-Lactam-Antibiotika, wie die Penicilline und Cephalosporine, Makrolide, wie das Erythromycin, oder Polypeptide, wie Polymyxin und Bacitracin. Eine Untergruppe der Polypeptide sind die Kationischen Peptide, die sich durch ein extrem breites Wirkspektrum auszeichnen: Nicht nur das Wachstum von Bakterien, sondern auch das von Pilzen und Protozoen (z.B. Plasmodium falciparum) wird unterdrückt.

Tyrothricin ist das bekannteste arzneilich eingesetzte Antibiotikum dieser Gruppe. Es wird seit vielen Jahren erfolgreich in der Behandlung lokaler Infektionen der Haut und der Schleimhäute eingesetzt. Eine Übersicht über Präparate, die Tyrothricin enthalten, bietet die Tabelle. Tyrothricin wurde als Produkt des Bakteriums Bacillus brevis entdeckt und ist ein Gemisch zweier Peptide: Es besteht zu etwa 80% aus Tyrocidin und zu etwa 20% aus Gramicidin. Auch Tyrothricin weist ein erstaunlich breites Wirkspektrum auf: Sowohl das Wachstum gram-positiver als auch gram-negativer Bakterien wird gehemmt - darunter auch Stämme, die therapeutisch von großer Bedeutung sind, wie multiresistente Stämme von Staphylokokkus aureus und hämolysierende Streptokokken [6].

Die bakteriostatische Wirkung der Tyrocidine beruht im Wesentlichen auf einer Hemmung des Nährstofftransports durch die Zellmembran der Bakterienzelle, während die Gramicidine Poren in eben dieser Membran bilden, wodurch der zur ATP-Synthese erforderliche Wasserstoffionengradient über der Zellmembran zusammenbricht. Im Zusammenspiel dieser beiden Wirkungen kommt es zur Lyse der Bakterienzelle. Dieser duale Wirkmechanismus führt dazu, dass kaum Resistenzen ausgebildet werden können [1]. Auch Kreuzresistenzen mit anderen Antibiotika treten nicht auf.

Auf Grund seiner Peptid-Struktur wird Tyrothricin im Magen denaturiert und kann daher aus dem Gastrointestinaltrakt nicht resorbiert werden. So kann auch bei Verschlucken nach Anwendung im Mund- und Rachenraum keine intestinale oder systemische Wirkung oder Nebenwirkung verursacht werden. Klinisch ist eine jahrzehntelange erfolgreiche Anwendung als Mund- und Rachentherapeutikum belegt. Bei lokaler Anwendung auf der Haut ist zudem eine Förderung der Granulation und Epithelbildung beschrieben [7].

Wirkung auf verschiedene Strukturen des Immunsystems

Möglicherweise beruhen diese schon bekannten klinischen Effekte der Kationischen Peptide, die über die Antibiose hinausgehen, auf Mechanismen, die jetzt entschlüsselt worden sind: die Beeinflussung verschiedener Strukturen des Immunsystems.

Im Zuge einer Entzündung setzen Bakterien Stoffe frei, die die Entzündungsreaktion des Körpers verstärken: gram-positive Bakterien, im Wesentlichen Lipoteichonsäure, und gram-negative, im Wesentlichen Lipopolysaccharide (LPS). Diesen beiden Substanzgruppen, die auch als Endotoxine bezeichnet werden, ist gemein, dass sie über sogenannte Toll-like-Rezeptoren eine Ausschüttung von Tumornekrosefaktor, Interleukin-6 und Chemokinen hervorrufen. Durch diese Botenstoffe wird zum einen das Entzündungsgeschehen unmittelbar verstärkt, zum anderen werden aber immunkompetente Zellen – vor allem Monozyten und neutrophile Granulozyten – angelockt, die die Entzündung aktiv bekämpfen. Klinisch spiegeln sich diese Vorgänge in zahlreichen Symptomen wider, vor allem Fieber, Blutdruckabfall und Blutgerinnungsstörungen [8], welche zu den charakteristischen Zeichen einer Endotoxin-ämie gehören, die eine Komplikation der Sepsis sein kann.

Hemmung des Tumornekrosefaktors

Kationische Peptide konnten sowohl in vitro als auch im Mausmodell die vermehrte Ausschüttung des Tumornekrosefaktors hemmen [5]. Dadurch reduzierten sie die klinischen Symptome einer Endotoxinämie. Gerade eine weitere Behandlung mit herkömmlichen Antibiotika kann die Endotoxin-ämie befördern, da Endotoxine dann durch den Zerfall von Bakterien vermehrt freigesetzt werden [4].

Neben dieser schon recht zusammenhängenden Entschlüsselung der Vorgänge im Zuge einer Endotoxin-induzierten Entzündung hat man noch einige weitere Schlüsselstellen des Immunsystems identifiziert, die durch kationische Peptidantibiotika beeinflusst werden. So wurde auch eine Aktivierung des angeborenen, unspezifischen Immunsystems durch Tyrothricin und Gramicidin im Labor beobachtet: Diese wird über Interleukin-1-beta vermittelt und zeigt sich an einer Einwanderung von neutrophilen Granulozyten in das Gewebe [9]. Darüber hinaus ist bekannt, dass mehr als 30 Gene in ihrer Regulation von Kationischen Peptiden beeinflusst werden. Insbesondere blockierten Kationische Peptide auch die Expression von solchen Genen, deren Transkription durch Lipopolysaccharide induziert wird [4]. Schließlich konnten auch eine Hemmung von Gewebe-Proteasen und eine Förderung der Wundheilung nachgewiesen werden [5]. Noch ist unklar, wie diese verschiedenen Wirkungsansätze sich zu einem Gesamtbild zusammenfügen, jedoch gibt es jetzt schon erste Befunde aus Tierversuchen, die ein positives Zusammenspiel der Einzeleffekte nahelegen.

Entwicklung systemisch wirksamer Varianten

Untersuchungen an Mäusen mit Sepsis zeigten so vielversprechende Effekte, dass auch schon erste klinische Untersuchungen in den USA angelaufen sind. Diese Studien wurden von der United States Federal Drug Agency (FDA) als so wichtig bewertet, dass sie im sogenannten „fast-track-procedure“ genehmigt wurden. In diesen Studien werden topische Anwendungen in zum Teil lebensbedrohlichen Indikationen untersucht (z.B. Cystische Fibrose, orale Mukositis). Die Entwicklung dieser Substanzen wird so engagiert vorangetrieben, weil solche Substanzen wertvolle Werkzeuge zur Behandlung von Infektionen mit multi-resistenten Keimen bilden könnten.

Um eine systemische Therapie zu ermöglichen, müssen aber zunächst neue Substanzen entwickelt werden, die resorbiert werden können, ohne ihre Wirksamkeit zu verlieren. Erste Reihenuntersuchungen mit modifiziertem Gramicidin S geben Hinweise auf die Schlüsselstrukturen der Moleküle, so dass eine gezielte Synthese von besser resorbierbaren Analoga mehr und mehr möglich wird [2, 3]. Diese müssen sich dann wiederum in klinischen Studien bewähren.

Es bleibt abzuwarten, ob diese Ansätze das Problem zunehmender Verknappung wirksamer Antibiotika und die speziellen Probleme der Sepsis lösen können. Die Kopplung von antibiotischer Wirkung und immunmodulierendem Effekt stellt einen einzigartigen neuen Therapieansatz dar.

Literatur

[1] Steinberg DA, et al. (1997) Antimicr. Agents Chemother. 41, 1738–1742.

[2] Kapoerchan VV, et al. 2012: Inverted analogs of the antibiotic gramicidin S with an improved biological profile. Bioorg Med Chem: 20 (20): 6059–62.

[3] Tamaki M, et al. 2012: Fatty acyl-gramicidin S derivatives with both high antibiotic activity and low hemolytic activity. Bioorg Chem Med 22(1): 106–09.

[4] Hancock REW, Scott MG; 2000: The role of antimricobial peptides in animal defenses. PNAS 97 (16): 8856–8861.

[5] Hancock REW, 2001: Cationic peptides: effectors in innate immunity and novel antibiotics. THE LANCET Infectious Diseases Vol. 1, 156–164.

[6] Kondejewski LH, et al. 1996: Gramicidin S is active against both gram-positive and gram-negative bacteria. Int. J. Protein Res. 47, 460–466.

[7] Wigger-Alberti W, et al. 2013: Efficacy of a tyrothricin-containing wound gel in an abrasive would model for superficial wounds. Skin Pharmacol Physiol 26 (1): 52–6..

[8] Berger D, et al. Forschung in der Chirurgie (III Sepsis-Multiorganversagen); Springer 1997.

[9] Allam R, et al. 2011: Cutting the edge: Cyclic polypeptide and aminoglycoside antibiotics trigger IL-1B secretion by activating NLRP3 inflammasome. The Journal of Immunology, 186: 2714–2718.

 

Dr. Maren Flügel

Fachapothekerin für Arzneimittelinformation

Westender Weg 9a, 58313 Herdecke

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