Schwindel unter Polymedikation
Frau M. kommt das erste Mal zu uns in die Apotheke. Sie hat von einer Freundin über unser AMTS-Programm erfahren und würde gerne den Medikationsplan ihres Vaters, Herrn M., durch uns überprüfen lassen. Seit Längerem leidet Herr M. an Schwindelanfällen. Mit Sulpirid, Vertigoheel® und einem Ginkgo-Präparat wurde bereits versucht, den Schwindel unter Kontrolle zu bekommen – ohne Erfolg. Auch nach kürzlichem Krankenhausaufenthalt ergab sich bezüglich der Schwindel-Symptomatik keine Besserung. Ferner leidet Herr M. an Ödemen am rechten Bein. Frau M. ist besorgt, da ihr Vater und auch ihre Mutter zunehmend mit der Situation überfordert sind.
Fakten-Check:
Geschlecht: männlich
Alter: 75 Jahre
Diagnosen:
- arterielle Hypertonie
- Hypothyreose
- Hyperurikämie
- Prostata-Karzinom
- rezidivierende depressive Störung
- Vitamin-D-Mangel
- normochrome, normozytäre Anämie
- (supra)ventrikuläre Extrasystolen
Medikationsplan: siehe Tabelle 1
Den aktuellen Medikationsplan (s. Tabelle 1) bringt Frau M. direkt mit in die Apotheke. Nach einer kurzen Analyse des Plans vereinbaren wir mit Frau M. einen Gesprächstermin für den Vater. Der gesamte Medikamentenvorrat soll dann mitgebracht werden. Wir erhalten die Kontaktdaten von Haus- und Fachärzten. Die für die Durchführung der Medikationsanalyse erforderliche, von Herrn M. unterschriebene Einverständniserklärung wird uns zugeschickt.
Medikations-Check
Doppelverordnung? Doppelverordnungen liegen nicht vor.
Interaktionsgefahr? Eine Kombination von Lithium und ACE-Hemmern wird nicht empfohlen. Es kann durch eine vermehrte Reabsorption von Lithium aus dem Tubulus zu einer Wirkverstärkung kommen. Die gleichzeitige Einnahme von Furosemid kann die Lithium-Konzentration durch Hemmung der renalen Elimination weiter erhöhen. Aufgrund der engen therapeutischen Breite und der Interaktionen ist eine engmaschige Überwachung der Lithium-Plasmakonzentration unerlässlich.
Eine Sulpirid-Therapie kann in Kombination mit Lithium zu einem erhöhten Risiko für ventrikuläre Tachykardien vom Tosardes de pointes Typ und somit zu Schwindel führen. Es sollte regelmäßig ein EKG durchgeführt werden.
Bei der Kombination von ACE-Hemmern mit Allopurinol ist das erhöhte Risiko immunologischer Reaktionen zu berücksichtigen. Der Patienten sollte im Gespräch auf mögliche Anzeichen einer Hautreaktion oder Infektion (z.B. Fieber, Schüttelfrost) hingewiesen werden.
Omeprazol (v.a. bei Langzeitanwendung) sowie Furosemid können zu einer Hypomagnesiämie führen. Dieser Effekt kann sich durch gleichzeitige Einnahme verstärken. Im Patientengespräch sollte erörtert werden, ob Herr M. an Muskelkrämpfen leidet. Zudem kann es bei erniedrigten Magnesiumkonzentrationen zu Schwindel und Herzrhythmusstörungen kommen.
Nebenwirkungen? Herr M. nimmt einige Medikamente ein, die mehr oder weniger häufig Schwindel verursachen können: Moxonidin, Enalapril, Nifedipin, Tamsulosin sowie Propiverin. Bei gleichzeitiger Elektrolyt-Verschiebung, z.B. durch Diuretika, kann diese Nebenwirkung verstärkt werden. Lithium verursacht bei Überdosierung Schwindel, gastrointestinale Symptome oder Herzrhythmusstörungen. Langfristig verursacht Lithium eine Schilddrüsenunterfunktion. Aufgrund der engen therapeutischen Breite des Arzneistoffs müssen die Lithium-Plasmakonzentrationen mindestens alle drei Monate kontrolliert werden. Es ist wichtig, herauszufinden, ob dieser Laborwert bei Herrn M. in regelmäßigen Abständen bestimmt wurde, um eine Lithium-Überdosierung auszuschließen.
Herr M. nimmt eine Kombination von blutdrucksenkenden Arzneimitteln ein. Im Gespräch sollte hinterfragt werden, ob eine Selbstkontrolle des Blutdrucks regelmäßig durchgeführt und dokumentiert wird.
Bei einer Therapie mit Nifedipin können Ödeme als Nebenwirkung auftreten. Auch Lithium kann Ödeme hervorrufen.
Auffälligkeiten bei den Laborwerten? Auffällig sind die niedrigen Erythrozyten-, Hämatokrit- und Hämoglobin-Werte. Die Natrium-, Calcium- und Magnesiumwerte sowie die Nierenfunktion wurden vom Hausarzt nicht kontrolliert. Ein Lithium-Wert war in den Unterlagen nicht verzeichnet. Trotz wiederholter Versuche den Hausarzt sowie den behandelnden Neurologen zu kontaktieren, gelang es uns nicht, festzustellen, wann diese Werte zuletzt bestimmt wurden. Es kam dadurch zu einer erheblichen zeitlichen Verzögerung bei der Durchführung der umfassenden Medikationsanalyse.
Ein aktueller Entlassungsbericht vom Krankenhaus wird von Herrn M. bzw. seiner Tochter schließlich persönlich abgeholt und uns zur Verfügung gestellt. Leider ist das Ergebnis einer Lithium-Bestimmung nicht aussagekräftig, da ungeeignetes Material verwendet wurde. Ein Magnesium-Spiegel wurde nicht bestimmt. Einige der Laborwerte sind in Tabelle 2 aufgelistet.
Sonstiges? Im Medikationsplan fällt auf, dass Quilonum retard® nicht als 100mg-Tablette auf dem Markt ist. Die Angababe 225 – 0 – 225 lässt auf die Dosierung einer halben 450-mg-Tablette schließen. Es ist wichtig, die tatsächliche Stärke des Präparates anhand des Brown-Bag in Erfahrung zu bringen.
Medikationsanalyse und -management: neue ABDA-Definitionen
Eine Medikationsanalyse ist eine strukturierte Analyse der aktuellen Gesamtmedikation eines Patienten. Je nach Informationsquelle wird unterschieden in
- einfache Medikationsanalyse – Typ 1: Auswertung von Medikationsdatei
- erweiterte Medikationsanalyse – Typ 2a: Auswertung von Medikationsdatei und Patientengespräch oder Typ 2b: Auswertung von Medikationsdatei, Brown Bag und klinischen Daten
- umfassende Medikationsanalyse – Typ 3: Auswertung von Medikationsdatei (plus evtl. Brown Bag), Patientengespräch und klinischen Daten
Ein Medikationsmanagement baut auf einer Medikationsanalyse auf, an die sich eine kontinuierliche Betreuung des Patienten durch ein multidisziplinäres Team anschließt.
Quelle: ABDA – Grundsatzpapier zur Medikationsanalyse und zum Medikationsmanagement. 24. Juni 2014; s.a. Grundsteinlegung: DAZ 2014; Nr. 29, S. 20 ff.]
Gesprächsvorbereitung
Aufgrund einiger Verzögerungen muss der Gesprächstermin leider einmal verschoben werden. Am Tag vor dem tatsächlichen Termin erinnern wir die Tochter des Patienten noch mal an diesen. Zusätzlich wird sie gebeten, den gesamten Medikationsvorrat des Vaters mitzubringen, damit die Aktualität überprüft werden kann. Wir weisen darauf hin, dass bei Kühlartikeln und Betäubungsmitteln eine Notiz über Name des Präparats, Stärke und PZN ausreichend ist.
Die sich aus dem Medikations-Check ergebenden Fragen an den Patienten werden notiert (s. Kasten).
Fragen an den Patienten
- Welche Medikamente werden regelmäßig eingenommen?
- Weiß Herr M., wozu er welches Medikament einnimmt?
- Treten häufig Muskelkrämpfe, v.a. nachts auf?
- Treten Symptome wie Fieber oder Halsschmerzen häufig auf?
- Welche weiteren Beschwerden bzw. Probleme treten auf?
- Findet eine regelmäßige Blutdruck- und Pulskontrolle statt?
- Werden die Werte protokolliert?
- Wird Thyronajod® korrekt eingenommen?
- Seit wann nimmt Herr M Quilonum® (welche Stärke) ein?
- Wird der Lithium-Spiegel regelmäßig bestimmt?
- Finden regelmäßige EKG-Kontrollen statt?
Das Patientengespräch
Herr M. und seine Tochter kommen zum vereinbarten Termin zu uns in die Apotheke. Sie bringen sämtliche Medikamente mit. Außerdem bringt Herr M. den Medikationsplan seines neuen Hausarztes mit, der sich bereits vom alten Plan unterscheidet. Sulpirid wurde abgesetzt und die Allopurinol-Dosis halbiert.
Zusätzlich zu einem neuen Hausarzt hat sich die Tochter erfolgreich um einen Pflegedienst zur Unterstützung der Eltern bemüht.
Die Umverpackungen der Furosemid- und Enalapril-Tabletten sind leer. Zusätzlich finden wir ein Hydrochlorothiazid- und Triamteren-haltiges Kombipräparat (Turfagamma®), welches nicht im Medikationsplan aufgeführt ist. Herr M. wirkt etwas unsicher und seine Tochter übernimmt maßgeblich das Gespräch für ihn.
Welche Medikamente wofür? Die Indikationen sind dem Patienten weitgehend bekannt. Auf Nachfrage erklärt Herr M., dass das Omeprazol aufgrund eines sauren Aufstoßens eingenommen wird. Turfa gamma® wird nicht eingenommen und daher mit Einverständnis des Patienten entsorgt.
Anscheinend wurden Enalapril und Furosemid in letzter Zeit nicht mehr eingenommen (die Dauer der Unterbrechung konnte nicht eindeutig geklärt werden).
Welche Beschwerden gibt es? Wie bereits geschildert, stehen Schwindelbeschwerden im Vordergrund. Auf gezielte Nachfrage nach weiteren Beschwerden bestätigt seine Tochter, dass auch Probleme mit Übelkeit und Erbrechen existieren. In den letzten Wochen hat er 16 kg an Gewicht abgenommen. Außerdem erfahren wir, dass der Patient manchmal Schwierigkeiten beim Sprechen hat. Die Frage nach häufig auftretendem Fieber und Halsschmerzen sowie Muskelkrämpfen wird mit Nein beantwortet.
Blutdruck, Puls und Blutdruckmessungen? Herr M. besitzt kein eigenes Blutdruckmessgerät. Die Messungen finden ausschließlich in der Arztpraxis statt. Wir führen auf Wunsch des Patienten eine Messung des Blutdrucks durch. Der gemessene Wert ist 130/67 mmHg. Die Durchführung der Selbstkontrolle wird Vater und Tochter kurz erklärt, sowie die Wichtigkeit eines Blutdrucktagebuches erläutert. Die Tochter möchte sich um die Anschaffung eines Gerätes nach Absprache mit dem Arzt und Pflegedienst kümmern. Wir empfehlen die Rücksprache mit dem Arzt bezüglich der Wiedereinführung von Enalapril und Furosemid. Der Tochter erklären wir, dass der Arzt von uns darauf hingewiesen wird, die Therapie mit ACE-Hemmern grundsätzlich infrage zu stellen, da eine Kombination mit Lithium nicht empfohlen wird. Vor Einführung eines weiteren blutdrucksenkenden Arzneimittels sollten die Blutdruckwerte dokumentiert werden, um eine unnötige Arzneimitteltherapie zu vermeiden.
Wann wird Thyronajod® eingenommen? Auf Nachfrage erläutert Herr M., dass er sein Schilddrüsenmedikament eine halbe Stunde vor dem Frühstück mit Mineralwasser einnimmt. Die Information, dass die Einnahme mit Leitungswasser erfolgen soll, nimmt Herr M. dankend an.
Quilonum®. Der Patient berichtet uns, dass seine depressive Erkrankung schon vor ca. 25 bis 30 Jahren vom Arzt diagnostiziert wurde. Demnach nimmt er das Quilonum® schon über einen sehr langen Zeitraum ein. Auf die Frage, ob regelmäßige Kontrollen seiner Lithium-Serumspiegel stattfinden, kann uns Herr M. keine Antwort geben. Bei dem mitgebrachten Präparat handelt es sich um Quilonum retard® Tabletten 450 mg. Der Medikationsplan der Arztpraxis enthält demnach einen Druckfehler und die Dosis mit 225 mg erscheint korrekt. Die Tochter merkt jedoch an, dass in der Vergangenheit eine Dosisänderung durch den behandelnden Neurologen stattgefunden hat. Es ist nicht sicher, ob diese Änderung korrekt im Medikationsplan wiedergegeben wurde.
Herr M. und seine Tochter werden über den Stellenwert einer zu salzarmen Ernährung und von akuten Erkrankungen, die zu Salzverlust führen können, aufgeklärt. Die Symptome einer Lithium-Intoxikation erläutern wir ausführlich.
Allopurinol. Die Reduzierung der Allopurinol-Dosis durch den neuen Hausarzt begrüßen wir. Die Tochter erläutert jedoch, dass die Tablette nur drittelbar sei. Die sich daraus ergebende Dosis von 100 mg wird nun schon eingenommen. Wir bestätigen, dass diese Dosis durchaus sinnvoll sein kann, empfehlen aber eine kurze Rücksprache mit dem behandelnden Arzt. Falls die Harnsäurewerte sich verschlechtern, sollte ein teilbares Präparat ausgewählt werden, damit die Dosis erhöht werden kann.
Der Patient und seine Tochter werden über die möglichen immunologischen Nebenwirkungen aufgeklärt und für mögliche Anzeichen von Hautreaktionen oder Infektionen (z.B. Fieber, Halsschmerzen), die eine sofortige Vorstellung bei einem Arzt notwendig machen, sensibilisiert.
Wie vereinbart bekommt Herr M. von der Apotheke einen vorrübergehenden, neuen Medikationsplan, auf dem zusätzliche Einnahmehinweise enthalten sind. Um diesen möglichst übersichtlich zu gestalten, werden die Medikamente nach Einnahmezeitpunkt sortiert.
Der neue Hausarzt erhält eine schriftliche Zusammenfassung der Medikationsanalyse sowie der wichtigsten Punkte aus dem Patientengespräch. Wir fügen den neuen Medikationsplan bei, der nach Gegenzeichnung durch den Arzt den vorläufigen Plan des Patienten ersetzen soll.
Bis jetzt hatte Herr M. für seine Medikamente selbst gesorgt. Nun hat er seine Tochter bevollmächtigt, sich um seine medizinischen Belange zu kümmern. In Zukunft wird Frau M. die Medikamente für ihren Vater wöchentlich mit Hilfe einer Tablettenbox stellen. In diesem Zusammenhang vermerken wir bekannte Einschränkungen zu den Arzneimitteln, die nicht außerhalb der Originalverpackung gelagert werden dürfen, auf dem vorläufigen Medikationsplan. Wir vereinbaren, dass wir die Eignung für eine Tablettenbox noch ausführlich für alle Tabletten überprüfen werden und eventuelle Probleme an Frau M. kommunizieren werden.
Was man noch hätte ansprechen können
Vitamin D. Bei Herrn M. wurde in der Vergangenheit eine beginnende Osteoporose diagnostiziert. Es ist nicht klar, ob der Vitamin-D-Spiegel bestimmt und gegebenenfalls die Dosis angepasst wurde.
Wahl der antidepressiven Therapie. Die Therapie mit Lithium besteht schon seit langer Zeit und hat bei Herrn M. augenscheinlich zu Nebenwirkungen geführt. Das fortschreitende Alter macht Herrn M. sensibler für die unerwünschten Lithium-Effekte. Eventuell eignet sich ein neuerer Arzneistoff für die Behandlung der depressiven Störung und würde für eine Risikominimierung sorgen. Jedoch ist eine eventuelle Umstellung nur nach sorgfältiger Nutzen-Risiko-Bewertung und unter strenger Überwachung durch einen Facharzt vorzunehmen.
Propiverin. Die anticholinergen Nebenwirkungen können durch die Kombination mit Sulpirid verstärkt worden sein. Der Patient erfährt nach Absetzen von Sulpirid eine Verbesserung der erwähnten Schwierigkeit beim Sprechen, die möglicherweise eine Folge von Mundtrockenheit war.
Wie hätten Sie beraten?
Hätten Sie anders beraten? Wenn ja, schicken Sie uns Ihre Empfehlung an daz@deutscher-apotheker-verlag.de, wir veröffentlichen sie mit diesem Fall auf DAZ.online.
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