Arzneimittel und Therapie

Überdosis Paracetamol

Von bewährten und neuen Ansätzen im Notfall

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Von Rika Rausch | Zu einer Vergiftung mit Para­cetamol kommt es nicht nur akut mit Selbstmordabsichten, sondern häufiger unbeabsichtigt infolge einer Fehl­anwendung. Als Antidot steht Acetylcystein zur Verfügung, jedoch ist diese Maßnahme nur aussichtsreich, wenn die Vergiftung früh genug entdeckt wird. Es wird nach Markern gesucht, die spezifisch auf einen Paracetamol-induzierten Leberschaden hinweisen und die Entscheidung erleichtern, ob eine Antidot-Gabe überhaupt notwendig ist.

Eine Überdosierung von Paracetamol ist die häufigste Ursache für einen akuten Leberschaden in den USA und Europa und aktuell für mehr Fälle verantwortlich als alle anderen Ätiologien zusammen [1, 2]. Zu Vergiftungen kommt es entweder beabsichtigt als Suizidversuch oder häufiger unbewusst infolge einer Fehlanwendung oder der Einnahme über einen längeren Zeitraum. Unbeabsichtigte Vergiftungen haben insgesamt ein schlechteres Outcome. Diese Gefahr besteht vor allem bei Einnahme von Kombinationspräparaten, bei denen dem Anwender teilweise nicht bekannt ist, dass sie Paracetamol enthalten (Auswahl siehe Tabelle). Chronischer Alkoholkonsum, Komedikationen und Mangelernährung können eine Überdosierung begünstigen.

Tab.: Auswahl an Kombinationspräparaten mit Paracetamol (Gehalt [mg] pro Dosiseinheit)
Zweifachkombinationen
  • mit Acetylsalicylsäure: Fibrex® (200), Thomapyrin® (200)
  • mit Butylscopolamin: Buscopan Plus® (500)
  • mit Coffein: Copyrkal® (400), Vivimed® (333)
  • mit Codein: Gelonida® (500), Titretta® (500)
  • mit Phenylephrin: Doregrippin® (500)
  • mit Tramadol: Dolevar® (325)
Mehrfachkombinationen
  • mit Acetylsalicylsäure und Coffein: Neuralgin® (200), Thomapyrin® classic (200), Titralgan® (200)
  • mit Ascorbinsäure, Coffein und Chlorphenamin: Grippo­stad® C (200)
  • mit Acetylsalicylsäure und Ascorbinsäure: Grippal + C (200)
  • mit Guaifenesin und Phenylephrin: WICK DayMed Kombi-­Erkältungstrunk (500)
  • mit Phenylpropanolamin und Dextromethorphan: WICK DayMed Erkältungs-Kapseln (325)
  • mit Doxylamin, Ephedrin, Dextromethorphan: WICK MediNait Erkältungssirup (600)
  • mit Doxylamin und Dextromethorphan: WICK MediNait Erkältungssirup mit Honig- und Kamillenaroma (600)
  • mit Phenylephrin und Dextromethorphan: Cetebe® antiGrippal Erkältungs-Trunk Forte (500)

Da Paracetamol als OTC-Arzneimittel jedem zur Verfügung steht, ist eine Kontrolle der Anwendung problematisch. In Deutschland ist die Abgabe von Paracetamol ohne Rezept seit März 2009 auf 10 g begrenzt, jedoch lässt sich nicht ausschließen, dass mehrere Apotheken zum Erwerb aufgesucht werden. In Großbritannien hat eine Beschränkung der Abgabemenge von Paracetamol auf maximal 16 g zu einem deutlichen Rückgang der vollendeten Suizide geführt [3]. Bevor diese Maßnahme im Jahr 1998 durchgesetzt wurde, konnte Paracetamol in unbegrenzter Menge in Apotheken und teilweise auch in Supermärkten frei erworben werden.

Für Deutschland liegen keine aktuellen Daten vor. Anfang 2012 meldete das Giftinformationszentrum (GGIZ) der Länder Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen im Vorfeld der Abstimmung über die vollständige Verschreibungspflicht von Paracetamol, dass es trotz der Begrenzung der maximalen OTC-Abgabemenge nahezu unverändert häufig zu Vergiftungen und schweren Leberschäden unter Paracetamol kommt [4]. Der beim Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) angesiedelte Sachverständigenausschuss sprach sich in seiner Sitzung am 26. Juni 2012 mehrheitlich gegen eine Rezeptpflicht von Paracetamol aus.

Wann wird es gefährlich?

Bei ansonsten gesunden Erwachsenen ohne Risikofaktoren ist eine Dosierung ab 150 mg Paracetamol pro kg Körpergewicht (KG) potenziell gesundheitsschädigend, das entspricht etwa 6 g Paracetamol pro Tag. In diesen Fällen wird eine Krankenhauseinweisung empfohlen [5]. Deutlich niedrigere Grenzwerte (4 g pro Tag) gelten bei Alkoholabusus, Schwangerschaft, Magersucht oder gleichzeitiger Einnahme CYP-induzierender Arzneistoffe. In anderen Ländern gelten teilweise andere Richtwerte. Keine einheitlichen Grenzen existieren im Kindesalter, so schwanken die Empfehlungen zwischen 100 und 150 mg/kg KG.

Erfolgt die Überdosierung schleichend über mehrere Tage, ist ein Grenzwert schwierig zu definieren. In Deutschland orientiert man sich an den Angaben aus USA und Australien [5]. Bei einer Paracetamol-Einnahme über 24 Stunden gilt für Erwachsene ein Tagesgrenzwert von 10 g bzw. 200 mg/kg KG. Bei einer Einnahme über 48 Stunden beträgt die Schwelle pro 24-Stunden-Zeitraum 150 mg/kg KG bzw. 6 g Paracetamol. Für Kinder gilt ein Grenzwert von 200 mg/kg KG, wenn sich die Einnahme über 24 Stunden ausgedehnt hat, 150 mg/kg KG pro 24 Stunden-Intervall über zwei Tage und 100 mg/kg KG pro 24-Stunden-Intervall über drei Tage.

Was passiert bei einer Paracetamol-Überdosierung?

Ein Viertel der eingenommenen Paracetamol-Dosis durchläuft den First-Pass-Effekt, vorrangig in der Leber [2]. Zur Vorbereitung der Eliminierung wird Paracetamol bei Erwachsenen hauptsächlich mit Glucuronsäure oder Sulfat konjugiert (Phase-II-Metabolisierung).

Ein geringer Teil der Dosis (etwa 5 bis 15%) wird oxidativ über Cytochrom-P450-Enzyme (CYP-Enzyme) verstoffwechselt, woraus N-Acetyl-p-benzochinonimin (NAPQI) als reaktiver Metabolit von Paracetamol hervorgeht (siehe Abb. 1). NAPQI wird normalerweise nach Kombination mit reduziertem Glutathion (GSH) über Urin und Galle ausgeschieden. Bei einer Überdosierung von Paracetamol ist der Phase-II-Metabolisierungsweg jedoch gesättigt, und eine größere Menge Paracetamol wird über CYP-Enzyme verstoffwechselt – mit einer verstärkten Bildung von NAPQI in der Folge. Wenn GSH verbraucht ist, liegt unneutralisiertes NAPQI vor, das frei mit alternativen Targets wie Proteinen, DNA und ungesättigten Fettsäuren reagieren kann. Dies löst eine Serie von zellulären Ereignissen aus, die schließlich zum Zelltod von Hepatozyten führen und einen Leberschaden auslösen.

Abb. 1: Cytochrom-P450-Enzyme (CYP) katalysieren die Umwandlung von Paracetamol in das reaktive N-Acetyl-p-benzochinon­imin (NAPQI). Liegt ausreichend Glutathion (GSH) vor, kann NAPQI über Urin und Galle aus dem Körper eliminiert werden. Sind die GSH-Speicher jedoch erschöpft, reagiert unneutralisiertes NAPQI mit Zellbestandteilen und führt schließlich zum Absterben von Hepatozyten.

Welche Rolle spielt Alkohol?

CYP2E1 ist das entscheidende Enzym für die Hepatotoxizität von Paracetamol [1]. Es wird induziert durch regelmäßigen Alkoholkonsum; der Alkoholabbau erfolgt in diesem Fall rascher. Beschleunigt wird darüber hinaus der Metabolismus von Arzneistoffen, die Substrate von CYP2E1 sind, beispielsweise Paracetamol, und zwar besonders dann, wenn das induzierte Enzym bei vorübergehender Alkoholabstinenz nicht für den Alkoholabbau „benötigt“ wird. So sind toxische Auswirkungen von Paracetamol bei Personen mit chronischem Alkoholmissbrauch vor allem beobachtet worden, wenn sie vorübergehend abstinent waren.

Welche Symptome treten auf?

Innerhalb der ersten 24 Stunden nach Tabletteneinnahme können unauffällige Symptome wie Übelkeit, Erbrechen, Blässe und Oberbauchbeschwerden auftreten. Später steigen Leberwerte wie Transaminasen typischerweise an, während die Gerinnungsfaktoren abfallen [6]. Nach etwa fünf Tagen ist die Leberschädigung bereits stark fortgeschritten. Schließlich kommt es zum Leberkoma mit Störungen der Gehirnfunktion (hepatische Enzephalopathie) und Bewusstlosigkeit. Multiorganversagen führt zum Tod des Patienten.

Wann handelt es sich um einen Notfall?

Das Risiko der Hepatotoxizität kann anhand der Paracetamol-Plasmakonzentration und der Zeit seit der Einnahme abgeschätzt werden. Das ist allerdings frühestens nach vier Stunden sinnvoll. Entscheidungshilfe bietet das Nomogramm nach Rumack-Matthews (siehe Abb. 2): Wenn die Konzentration über einer Schwelle liegt, sollte eine Behandlung eingeleitet werden. Das Nomogramm ist jedoch uneindeutig, wenn die Einnahme schon mehrere Stunden zurückliegt oder die Überdosierung über einen längeren Zeitraum erfolgte. Kann eine Messung der Paracetamol-Plasmakonzentration nicht innerhalb von acht Stunden durchgeführt werden, sollte nicht auf die Laborergebnisse gewartet werden: Das Risiko wird dann basierend auf der berichteten Menge der eingenommenen Dosis abgeschätzt.

Abb. 2: Mit dem Nomogramm nach Rumack-Matthews kann anhand der Paracetamol-Plasmakonzentration und der vergangenen Zeit abgeschätzt werden, ob eine Antidot-Therapie mit Acetylcystein nötig ist.

Welche Notfallmaßnahmen stehen zur Verfügung?

Das Management der Paracetamol-Vergiftung wurde in den 70er-Jahren durch den Einsatz von Acetylcystein revolutioniert [7]. Acetylcystein ist ein Präkursor in der GSH-Syn­these und führt zu einer Regeneration der Speicher. Zudem neutralisiert es noch in der Leber vorhandenes NAPQI.

Das Standard-Dosisregime von Acetylcystein (nach Prescott) besteht aus drei gewichtsadaptierten Infusionen: 150 mg/kg über 15 Minuten, 50 mg/kg über vier Stunden, 100 mg/kg über 16 Stunden. Diese Therapie kann sehr effektiv sein, wenn sie innerhalb von acht Stunden nach Intoxikation durchgeführt wird, was in der Praxis jedoch nicht immer der Fall ist [2]. Theoretisch ist eine Gabe bis 24 Stunden sinnvoll, jedoch nimmt die Wirksamkeit ab [1].

Die intravenöse Gabe von Acetylcystein ist üblich, wenn auch nicht ohne Risiko. Während der Infusion besteht innerhalb der ersten Stunden die Gefahr von anaphylaktischen Reaktionen mit Hautausschlag, Juckreiz, Erbrechen, Flush, Luftnot und Hypotension. Es ist auch eine orale Gabe von Acetylcystein möglich, allerdings liegen bisher keine Vergleichsstudien vor [8]. Die Dosierung beträgt initial 140 mg/kg und dann 70 mg/kg alle vier Stunden über drei Tage.

In Ländern mit geringer Wirtschaftskraft wird Methionin als Alternative zu Acetylcystein eingesetzt. Andere Therapieversuche umfassen die Gabe von Aktivkohle und Hämodialyse. Letztere entfernt neben Paracetamol allerdings auch Acetylcystein aus dem Blut und wird im Allgemeinen nicht empfohlen.

Welche Nachteile hat eine Acetylcystein-Therapie?

Da mit einer Antidot-Behandlung frühestens vier Stunden nach Einnahme begonnen wird, kann Paracetamol mit einer Halbwertszeit von zwei Stunden bei Patienten ohne Risiko viele Stunden vor Ende der Dreiphasen-Infusion nicht mehr nachgewiesen werden [7]. Das bedeutet, dass viele Patienten, die mit Acetylcystein behandelt werden, wahrscheinlich gar kein hohes Risiko für eine schwere Hepatotoxizität haben und stationär aufgenommen sind, obwohl die Gefahr eines Paracetamol-induzierten Leberschadens ausgeschlossen werden kann.

Wie versucht man, die Therapie von Paracetamol-Vergiftungen zu verbessern?

In der Forschung liegt der Fokus auf der besseren Identifizierung von Patienten, die eine Antidot-Therapie benötigen, und der Optimierung der Antidot-Therapie, um Neben­wirkungen zu vermeiden. Zudem müssen Behandlungs­strategien für zu spät erkannte Fälle gefunden werden.

Die Umstellung auf eine Zweiphasen-Infusion von Acetylcystein über zwölf Stunden könnte ein Ansatz sein, die Gefahr von anaphylaktischen Reaktionen und Erbrechen während der i. v.-Gabe zu reduzieren [7].

Von essenzieller Bedeutung ist die Suche nach Prädiktoren für einen Leberschaden unter Paracetamol, da die klinischen und biochemischen Anzeichen für einen Organschaden erst 24 Stunden nach einer Überdosis zu erkennen sind – weit später als der optimale Zeitpunkt für eine Antidot-Therapie [9]. Veränderungen der International Normalized Ratio (INR) sind in diesem Zusammenhang eher nützlich für die Prognose, ob sich eine Leber wieder erholen kann, aber weniger zur Abschätzung des Risikos eines Leberschadens. Die Alanin-Aminotransferase (ALT) ist ein sensitiver Marker für Leberschäden, aber ein schlechter für die Prognose dessen Verlaufs [7]. Der ALT-Wert steigt relativ langsam nach 24 Stunden, in Abhängigkeit vom Ausmaß des Leberschadens. Wenn der ALT-Wert auf Normalniveau liegt, bedeutet das ein gutes Outcome bei Paracetamol-Vergiftung. Ein niedriger ALT-Wert ist umgekehrt allerdings kein Screening-Faktor zum Ausschluss von Patienten, die keine Antidot-Therapie benötigen.

Es wird nach Markern gesucht, die schneller als ALT das Risiko für einen schweren Leberschaden anzeigen. Beispiele für neue Biomarker-Kandidaten sind [1]:

  • miRNA-122: Die miRNA wird in der Leber exprimiert. Ihr Serumspiegel ist bei akutem Leberversagen stark erhöht.
  • High-Mobility-Group-Protein B1 (HMGB1): HMGB1 wird bei Nekrose von abgestorbenen Zellen freigesetzt und fungiert als körpereigener Alarmstoff.
  • Argininosuccinat-Synthase: Das Enzym katalysiert die Umsetzung von Aspartat und Citrullin zu Argininosuccinat.

Im Gegensatz zu ALT sind diese Prädiktoren hoch sensitiv für Zellschäden und Nekrose und erlauben eine Aussage darüber, ob der Patient überlebt, einen akuten Leberschaden entwickelt oder eine Transplantation benötigt. |

Quelle

[1] Jaeschke H. Acetaminophen: Dose-Dependent Drug Hepatotoxicity and Acute Liver Failure in Patients. Dig Dis 2015;33:464–471

[2] Ghanem CI, et al. Acetaminophen from liver to brain: New insights into drug pharmacological action and toxicity

[3] Hawton K et al. Long term effect of reduced pack sizes of paracetamol on poisoning deaths and liver transplant activity in England and Wales: interrupted time series analyses. BMJ 2013;346:f403

[4] Giftnotruf Erfurt fordert Rezeptpflicht für Paracetamol. Deutsche Apotheker Zeitung, Meldung vom 28. Dezember 2011

[5] https://www.deutsche-apotheker-zeitung.de/daz-az/2008/daz-44-2008/paracetamol-ab-wie-viel-tabletten-wird-s-gefaehrlich

[6] Gemeinsames Giftinformationszentrum der Länder Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen, http://www.ggiz-erfurt.de/pdf/v_arz_paracetamol.pdf

[7] Bateman DN. Changing the management of paracetamol poising. Clin Ther 2015;37:2135-2141

[8] Buckley NA, et al. Treatments for paracetamol poisoning. BMJ 2016;353:i2579

[9] Tong HY, et al. Hepatotoxicity induced by acute and chronic paracetamol overdose in adults. Where do we stand? Regulatory Toxicology and Pharmacology 2015;72:370-8

Autorin

Rika Rausch Apothekerin und DAZ-Redakteurin

Bedauerlicherweise ist uns in dem in DAZ Nr. 28 auf Seite 39 abgedruckten Abbildung 2 ein Fehler unterlaufen. Anstatt „µg/ml“ stand fälschlicherweise „µg/l“ an der y-Achse. Wir bitten, den Fehler zu entschuldigen.

Die falsche Formulierung haben wir hier in diesem Text korrigiert, da wir nicht möchten, dass die Information falsch verbreitet wird.

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