Deutscher Apothekertag 2016

„ARMIN ist gelebte Pharmazie“

Projekte für mehr Arzneimitteltherapiesicherheit begeistern Apotheker, Ärzte und Patienten

du | Die Verbesserung der Arzneimitteltherapiesicherheit mit den Instrumenten Medikationsanalyse und -management ist unter heilberuflichen Aspekten spätestens seit Verabschiedung des Perspektivpapiers 2030 das große Thema für Apotheker. Auch die Politik hat sich die Arzneimitteltherapie­sicherheit auf die Fahnen geschrieben. Viele zum Teil vom Bundesministerium geförderte Projekte unterstreichen die Wichtigkeit. Die unverzichtbare Rolle der Apotheker soll nicht zuletzt mit ARMIN, der Arzneimittelinitiative Sachsen-Thüringen, untermauert werden.
Foto: DAZ/Alex Schelbert
v.l.n. r. Dr. R. Kern, S. Donner, W. Ulbricht, I. Richling, Dr. M. Bauer

Warum dieses Thema so in den Fokus gerückt ist, machte Prof. Dr. Martin Schulz, Geschäftsführer Arzneimittel bei der ABDA, in seinem Impulsvortrag zur Diskussionsrunde „Apotheker als Garant der Arzneimitteltherapie­sicherheit“ deutlich.

5% Krankenhauseinweisungen

Mit einer immer älter werdenden Gesellschaft steigt auch die Multimorbidität und damit die Polymedikation. Definiert man Polymedikation mit der Anwendung von mindestens fünf systemisch wirkenden Arzneimitteln, so sollen davon schätzungsweise 7 Millionen GKV-Patienten betroffen sein. Über 70-Jährige erhalten laut Schulz im Schnitt sechs bis acht Dauermedikamente. Auch interessant: 40 bis 50% der abgegebenen Arzneimittel sind OTC-Präparate und 22% aller OTC-Präparate werden von über 65-Jährigen erworben.

Die Zahl, die vor diesem Hintergrund wohl am drastischsten die Notwendigkeit der Verbesserung der Arzneimitteltherapiesicherheit vor Augen führt, ist die Zahl der Krankenhauseinweisungen: 5% aller Krankenhausein­weisungen erfolgen aufgrund von Arzneimittel(neben)wirkungen. Es besteht also Handlungsbedarf.

Der jetzt eingeführte bundeseinheit­liche Medikationsplan auf Papier ist für Schulz allerdings nicht die Lösung des Problems. Ziel müsse es sein, alle Medikationsdaten eines Patienten systematisch elektronisch zu erfassen und zu pflegen. Nur auf Basis aller Daten und damit nur mit einem konsolidierten Medikationsplan könne eine Medikationsanalyse durchgeführt werden, betonte Schulz. Die Erkenntnisse daraus müssen unter den Heilberuflern abgestimmt und dem Patienten verständlich vermittelt werden.

978 ARMIN-Apotheker

Ein solches strukturiertes Vorgehen wird derzeit mit dem Modellprojekt ARMIN, der Arzneimittelinitiative Sachsen-Thüringen erprobt. Beteiligt daran sind die Apothekerverbände von Sachsen und Thüringen, die Kassenärztlichen Vereinigungen der beiden Bundesländer und die AOKplus. Apothekerin Susanne Donner aus dem sächsischen Dippoldiswalde ist eine von 978 Apothekern, die sich bislang zusammen mit 548 Ärzten in das Projekt eingeschrieben haben. Sie erläuterte den Delegierten des Deutschen Apothekertags das Vorgehen:

Im Modellprojekt ARMIN dienen die Wirkstoffverordnung und ein Medikationskatalog als Basis für die ärztliche Verordnung. Im Medikationskatalog sind für alle versorgungsrelevanten Indikationen Mittel der Wahl und Reservetherapeutika gelistet.

Jeder Vertragspartner stellt auf elektronischem Weg seine Daten zur Verfügung: die Apotheke die Kundendaten und die Ergebnisse des Brown-bag-Checks, der Arzt Diagnose und Labordaten, die Krankenkasse die Verordnungsdaten. Auf Basis dieser Daten führt der Apotheker eine strukturierte Medikationsanalyse durch und übermittelt die Erkenntnisse dann wieder an den Arzt, der daraus die therapeutischen Konsequenzen ziehen kann. Die Zuständigkeiten sind klar geregelt, die Tätigkeiten wurden auf Vollkostenbasis kalkuliert und werden adäquat honoriert, so Donner.

Die Voraussetzungen

Teilnehmende Apotheker mussten bzw. müssen eine achtstündige Schulung und eine gemeinsame Arzt-Apotheker-Schulung absolvieren. Zu den technischen Voraussetzungen zählt eine gesicherte Kommunikationsverbindung. Im Rahmen von ARMIN werden die Daten über KV-SafeNet, das Netz der Kassenärztlichen Bundesvereinigung, ausgetauscht.

Die Startintervention

Angesprochen werden die Patienten über den Arzt oder den Apotheker. In der Apotheke wird zunächst ein Brown-Bag-Check und eine umfassende AMTS-Prüfung vorgenommen. Es wird geklärt, welche Arzneimittel-bezogenen Probleme direkt und welche nur in Abstimmung mit dem Arzt zu lösen sind. Dann wird ein vorläufiger Medikationsplan auf den Server hochgeladen und ist von dem Praxisverwaltungssystems des Arztes sofort abrufbar. Der Arzt nimmt dann eine medizinische AMTS-Prüfung vor und finalisiert den Medikationsplan, der nun so dem Patienten ausgehändigt werden kann. Damit ist die Startintervention abgeschlossen. Notwendige Folgeinterventionen werden mit dem Patienten abgesprochen, so dass aus einer Medikationsanalyse dann ein Medikationsmanagement werden kann.

„Das Medikationsmanagement ist die große Chance für die einzelne Apotheke und für den gesamten Berufsstand!“

Susanne Donner, Dippoldiswalde

Apothekerin Susanne Donner ist überzeugt: das Medikationsmanagement ist die große Chance für unseren Berufsstand. ARMIN ist gelebte Pharmazie und begeistert den Berufsnachwuchs. Schon jetzt suchen Pharmaziepraktikanten gezielt nach Ausbildungsapotheken, die an ARMIN teilnehmen. Das Projekt ARMIN verdient ihrer Ansicht nach die Attribute groß und stark. Sie appellierte an ihre Kolleginnen und Kollegen, das Projekt zum Erfolg zu führen.

Die anschließende Diskussionsrunde unter Leitung des ABDA-Pressesprechers Dr. Reiner Kern war geprägt von einer großen Begeisterung für das Projekt. Es nahmen neben Apothekerin Susanne Donner die bei ARMIN eingeschriebenen Ärzte Dr. med. Martin Bauer, Leipzig, und Wolfgang Ulbricht, sowie die Apothekerin und PharmD Ina Richling, Iserlohn, teil.

ARMIN mit Suchtfaktor

Beide Ärzte begrüßten den Brown-Bag-Check durch die Apotheker. Die Expertise des Apothekers, die dieser in seinem Studien erworben hat, sei mitnichten immer durch die Expertise des Arztes abzudecken, betonte Bauer. Er lobte die sinnvolle Ergänzung und Zusammenarbeit mit dem Apotheker, die ihm auch eine rechtliche Absicherung bietet. Der Mediziner Wolfgang Ulbricht zeigte sich nahezu elektrisiert von diesem Projekt und bezeichnete sich mit 60 eingeschriebenen Patienten durchaus als Heavy User.

Zu geringes Ärzte-Interesse?

Die im Verhältnis zu Apothekern geringe Zahl an eingeschriebenen Ärzten sorgt immer wieder für Kritik. Doch Ulbricht ist überzeugt, dass immer mehr Ärzte dafür gewonnen werden können. Als Mitglied des Hausärzteverbandes wird er dafür kämpfen und unter anderem in einer Veranstaltung im Oktober den Kollegen die Vorzüge von ARMIN näherbringen.

Pharmakotherapiewissen schafft Sicherheit

Apothekerin Ina Richling war die einzige der Diskussionsteilnehmer, die nicht in ARMIN involviert ist. Ihr AMTS-Feuer wurde durch ein PharmD-Studium an der University of Florida entfacht. Sie hob besonders die Patientenorientierung des dreijährigen Pharmakotherapie-Studiums hervor, das ihr jetzt die notwendige Sicherheit bei der Durchführung von Medikationsanalysen bietet. Als Tutorin der Pilotprojekte ATHINA (Apothekerkammer Nordrhein und Niedersachsen) und Apo-AMTS (Apothekerkammer Westfalen-Lippe) wünscht sie sich eine Struktur wie bei ARMIN. Ungeachtet dessen bietet sie in ihrer Apotheke Medikationsanalysen an und hat sich ein eigenes Ärztenetzwerk aufgebaut. Der Medikationsplan ist für sie ein wunderbares Werkzeug zur Gewinnung von Patienten für eine Medikationsanalyse. Für diese Dienstleistung verlangt sie ein Honorar und händigt dafür eine Quittung aus. Die Patienten fordert sie auf, diese Quittung bei ihrer Krankenkasse zur Erstattung einzureichen und so den Druck von unten für eine Honorierung zu erhöhen. Richling ermunterte ihre Kollegen, diese Dienstleistung anzubieten: „Damit können Sie Ihre Kernkompetenz steigern und wieder mehr Kunden an sich binden!“

„Die Zeit, die ich in die Kommunikation mit dem Apotheker investiert habe, kommt 100-fach zurück!“

Dr. med Martin Bauer, ARMIN-Arzt, Leipzig

Alle Podiumsteilnehmer wussten darüber zu berichten, dass der interprofessionelle Austausch nicht nur beruflich ein Gewinn war. Es sind regelrecht Freundschaften zwischen Arzt und Apotheker entstanden. Und weil bei ARMIN und der Verbesserung der AMTS der Patient im Fokus steht, durfte auch eine teilnehmende Patientin von ihren Erfahrungen berichten. Auch sie hat von den Interventionen profitiert. Interaktionen wurden erkannt, die Medikation umgestellt, ein neuer übersichtlicher Medikationsplan erstellt. Die Betreuung und Aufklärung im Rahmen des Projektes hat ihr ein Gefühl der Sicherheit gegeben: „Ich fühle mich sicher und bin beruhigt!“ |


ARMIN und die Zweifler

Ein Kommentar von Doris Uhl

Dr. Doris Uhl, DAZ-Chefredakteurin

Was wurde über ARMIN, die Arzneimittelinitiative Sachsen-Thüringen, den Sprössling des ABDA-KBV-Modells nicht schon alles geschrieben. Er wurde totgesagt, dann wurde festgestellt, dass er doch lebt, sich aber nur im Schneckentempo vorwärts bewegt. Und jetzt stellt sich eine junge Apothekerin auf dem Deutschen Apothekertag hin und ist davon überzeugt, dass ARMIN nicht nur so vor sich dahinvegetiert, sondern schon richtig groß und stark geworden ist.

Nun kommt diese Apothekerin aus Sachsen und ist eine der inzwischen fast 1000 in das Projekt eingeschriebenen Apotheker. Sie kann also aus erster Hand über ihre Erfahrungen berichten. Das macht sie mit so großer Begeisterung, dass es Balsam auf die Seelen all derer sein muss, die das Projekt allen Widerständen zum Trotz vorangetrieben haben. Arzt und Apotheker können jetzt über sichere elektronische Daten­wege ihre Erkenntnisse aus Brown-Bag-Check und Medikationsanalyse kommunizieren, diskutieren und auf dieser Basis fundierte Entscheidungen treffen. Am Ende des Tages sorgen beide Professionen gemeinsam dafür, dass die Therapie ihrer Patienten besser und sicherer wird. Und alle Beteiligten sind hoch zufrieden!

Sicher: die Präsentation der Diskussionsrunde beim Deutschen Apothekertag glich phasenweise einer seltsamen Verkaufsveranstaltung. Spätestens bei der Vorstellung einer aus Leipzig eingeflogenen Patientin nahm sie leider die peinlichen Züge eines Talk-Show-Plagiats an. Doch zum Glück waren die Teilnehmer der Diskussionsrunde so authentisch und überzeugend, dass selbst der letzte Zweifler an dem Projekt zumindest einmal zum Nachdenken angeregt werden sollte.

Diese Zweifler sollten endlich begreifen, dass Medikationsanalyse und -management im heilberuflichen Konzert die Chance für die Offizinapotheker ist, ihre pharmazeutische Zukunft zu sichern. Allen voran die Zweifler, die für die universitäre Ausbildung der Apotheker verantwortlich sind.

Denn ein Blick auf die Situation der Pharmakologie und der Klinischen Pharmazie an den pharmazeutischen Hochschulen lässt bei ARMIN-Begeisterten ganz schnell Ernüchterung einkehren. Immer noch fristen diese Fächer, allen voran die Klinische Pharmazie, an vielen Instituten ein Schattendasein, immer noch findet sich nicht an jeder pharmazeutischen Hochschule ein eigener Lehrstuhl für diese Fächer. Vor allem die Pharmakotherapie als unverzichtbare Basis für Medikationsanalyse und -management bleibt so auf der Strecke. Dabei zeigen alle engagierten Kolleginnen und Kollegen, die sich dieses Wissen mühsam über Zusatzstudium oder Fort- und Weiterbildungen angeeignet haben, dass dies unentbehrlich für eine patientenorientierte Offizinpharmazie ist.

Die Pharmaziestudierenden haben das Problem erkannt und wollten zusammen mit den Hochschullehrern eine Arbeitsgruppe gründen. Diese sollte in Ein- bis Zwei-Jahresabständen die universitäre Ausbildung evaluieren, weiterentwickeln und verbessern. Das Anliegen durften die Studierenden in Form eines über die Kammern Westfalen-Lippe und Niedersachsen eingebrachten Antrags auf dem Deutschen Apothekertag vortragen. Dabei haben sie wohl den Finger in eine sehr empfindliche Wunde gelegt. Denn der Aufschrei der Hochschullehrer in Form eines Delegierten folgte umgehend. Er und leider eine zu große Mehrheit der Delegierten sorgten dafür, dass dieser Antrag in einen Ausschuss katapultiert wurde.

Dafür dürfen die Studierenden jetzt aber mitreden, wenn Hochschullehrer, DPhG und die Bundesapothekerkammer einen Lernzielkatalog zur Umsetzung der im Perspektivpapier 2030 festgesetzten Ziele diskutieren. Eine Evaluation der universitären Ausbildung hätte diese Diskussion durchaus beflügeln können, manch ein Defizit wäre sicher deutlich zutage getreten. Das sollte bzw. durfte wohl nicht so sein.

Jetzt bleibt nur zu hoffen, dass trotz aller Widerstände die Verantwortlichen zur Erkenntnis gelangen, dass die Zukunft der Offizinpharmazie nicht in der Arzneistoffsynthese und Arzneistoffanalytik liegt, sondern dass vom ersten Tag der Ausbildung an der Fokus auf dem Patienten und der Verbesserung der Arzneimitteltherapiesicherheit liegen muss. Dafür muss der Pharmakologie und der Klinischen Pharmazie mit dem Schwerpunkt Pharmakotherapie mindestens so viel Raum eingeräumt werden wie der heiligen Kuh Pharmazeutische Chemie. Nur wenn das gelingt, können Apotheker die im Perspektivpapier 2030 beschriebenen heilberuflichen Herausforderungen meistern.

Gelingt das nicht, wird diese Zukunfts­vision nur eine Vision bleiben.

2 Kommentare

Teilnahme an der Diskussionsrunde

von Ulbricht am 15.01.2020 um 22:24 Uhr

Ich lese gerade durch Zufall Ihren Bericht und bin sehr verwundert, dass mein Name als Teilnehmender auftaucht.
Ich war bei dieser Runde nicht dabei!

» Auf diesen Kommentar antworten | 1 Antwort

AW: Teilnahme an der Diskussionsrunde

von DAZ-Redaktion am 16.01.2020 um 13:55 Uhr

Es handelt sich um eine falsche Ortsangabe, wir haben sie korrigiert und bitten um Entschuldigung.
Ihre DAZ-Redaktion

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