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Beratung

Da war doch was …

Vom Umgang mit vergesslichen Patienten in der Apotheke

Große Augen blicken über den HV-Tisch: „Haben Sie mir mein Medikament schon gegeben?“ Kurzer Selbstzweifel steigt in Ihnen auf, dann sind Sie sich sicher: „Ja, Sie haben es gerade in Ihre Tasche gepackt“, erwidern Sie lächelnd. Die zierliche alte Dame vor Ihnen beginnt herzhaft zu lachen. Beim Verlassen der Apotheke sagt sie noch: „Sehen Sie, so ist das, wenn man sich an nichts mehr erinnert.“ Kurze Zeit später wird Sie wieder vor Ihnen stehen, um sich zu versichern, dass Sie ihr Medikament mitgenommen hat. | Von Christian Schulz und Diana Moll

Der offensichtlich vergessliche Patient ist sicher einer der angenehmsten Patienten – vor allem wenn er selbst nicht umhin kann, seine Vergesslichkeit zu bemerken. Wenn der Patient einem dann noch mit Humor statt Frustration oder gar Wut begegnet, können solche Situationen sogar herzerwärmend sein. Ein Problem bleibt die Vergesslichkeit dennoch – vor allem für die Patienten und deren Angehörige.

Wenn man etwas verlegt hat, hilft es oft, einfach mal aufzuräumen, statt gezielt nach dem verlorenen Gegenstand zu suchen. Struktur und Vereinfachung können aus komplizierten Situationen überschaubare Situationen machen. Dass man seine Medikamente geordnet und immer an derselben Stelle aufbewahrt, ist also der erste Schritt. Aber nur, weil man weiß, wo die Medikamente liegen, denkt man noch lange nicht daran, sie einzunehmen. Struktur und Vereinfachung braucht also auch das Gedächtnis.

Medikationsplan „aufräumen“

Der Arzt hat die Einnahme von einer halben Tablette Amlodipin zweimal täglich verordnet. Der Patient gesteht in der Apotheke, dass er die Einnahme abends manchmal vergisst. Diesem Patienten kann man mit einer einfachen Information sicher weiterhelfen: Amlodipin besitzt eine Halbwertszeit, die eine einmal tägliche Einnahme möglich macht. Generell kann man seinen Patienten also anbieten, den Medikationsplan „aufzuräumen“ und nach Möglichkeit Einnahmezeitpunkte zu reduzieren.

Wecker, Apps und Cue-dosing

Nicht nur ältere Patienten sind vergesslich. Auch jungen Frauen fällt es manchmal schwer, an die regelmäßige Einnahme ihrer Kontrazeptiva zu denken. Nicht umsonst gibt es Kalenderpackungen und viele alternative Darreichungsformen, wie den Nuva-Ring, die Drei-Monats-Spritze oder Spiralen und Implantate (die aber nicht für alle Frauen gleichermaßen infrage kommen). Auch Schilddrüsenhormone werden oft von jüngeren Patienten eingenommen und sind als Kalenderpackungen erhältlich. Ein Blick auf die Kalenderpackung oder auch eine kurze Kopfrechenaufgabe können schnell Orientierung bieten, ob die tägliche Tablette eingenommen wurde: 98 Tabletten : 7 Tage = 14 Wochen. Gerade jüngere Patienten stellen sich häufig ihren Handy-Wecker, um an die Tabletteneinnahme zu denken. Apps können diese Aufgabe noch komfortabler übernehmen.

Möchte man sich den Rhythmus nicht von außen vorgeben lassen, sondern lieber der inneren Uhr folgen, gibt es die Möglichkeit des „Cue-dosing“: Man konditioniert sich sozusagen selbst. Die Arzneimitteleinnahme wird einfach an ohnehin feste Rituale im Tagesablauf geknüpft – wie zum Beispiel das Zähneputzen. Für eine optimale Arzneimittelwirkung sollte man noch, abhängig vom Wirkstoff, darauf achten, dass die Einnahme vor oder nach einer Mahlzeit erfolgt. Wenn Medikamente nicht täglich eingenommen werden, gestaltet sich das Cue-dosing schwieriger. Dennoch kann es helfen – zum Beispiel für die Alendronsäure – einen besonderen Tag (wie den Sonntag) zu wählen und die Einnahme als „erste Tat des Tages“ zu ritualisieren.

Rechtzeitig nachbestellen und Tabletten stellen

Manche Patienten nehmen ihre Tabletten zwar zuverlässig ein, vergessen aber die nächste Packung rechtzeitig nachzubestellen. Auch das betrifft nicht nur die Älteren. Ein Post-it auf dem vorletzten Blister „Jetzt nachbestellen!“ könnte helfen. Dosetten sind in der Apotheke wahrscheinlich der erste gute Rat, der einem einfällt, wenn jemand darüber klagt, dass ihn die regelmäßige Medikamenten-Einnahme überfordert. Gerade Patienten mit Polymedikation sollte man Dosetten gezielt anbieten. Denn nicht jeder dieser Patienten ist sich seiner Vergesslichkeit bewusst. Aber nicht alle Arzneimittel sind für Dosetten geeignet, weil das Umfüllen die Stabilität und somit auch die Qualität der Arzneimittel beeinflussen kann. Wenn in der Apotheke also die Möglichkeit für eine professionelle Verblisterung angeboten werden kann, hilft das den Patienten zusätzlich weiter. Oft reicht die Dosette allein dem Patienten als „Werkzeug“ nicht aus, weil er mit dem Befüllen überfordert ist. Dann kann die Apotheke anbieten, die Arzneimittel zu stellen.

Adhärent oder nicht?

Wie findet man heraus, ob ein Patient adhärent ist? 1986 wurden vier Fragen formuliert, die die Compliance von Hypertonie-Patienten überprüfen sollten. Dieser Fragebogen nach Morisky fand seitdem immer wieder auch in anderen Indikations-Gebieten Anwendung:

„Vergessen Sie manchmal, Ihre Medikamente einzunehmen?“

„Sind Sie manchmal nachlässig beim Einnehmen Ihrer Medikamente?“

„Wenn Sie sich besser fühlen, nehmen Sie dann manchmal keine Medikamente ein?“

„Wenn Sie sich manchmal nach Einnahme der ­Medikamente schlechter fühlen, hören Sie dann damit auf?“

Weil diese Fragen recht direkt formuliert sind, sollte man sich zunächst in den Patienten hineinversetzen, bevor man kritisch nachhakt. Niemand gibt gerne Fehler zu. Deshalb kann es besser sein, den Patienten nicht direkt anzusprechen, sondern „die Kraft der großen Zahlen“ zu nutzen: „Vielen Menschen passiert es immer mal wieder, dass sie …“ Und dann ist die Selbsterkenntnis der erste Weg zur Besserung.

Vergesslichkeit als Zeichen einer Erkrankung?

Mancher will sich mit seiner Vergesslichkeit nicht so schnell abfinden. Solche Patienten wollen oft keine Tipps, wie sie ihre Merkfähigkeit verbessern können, sondern am besten eine Pille, die ihr Gehirn wieder fit macht – die es so natürlich nicht gibt. Doch in der Tat sollte man bei zunehmender Vergesslichkeit zunächst die Ursachen hinterfragen. So können beispielsweise Durchblutungsstörungen im Gehirn und eine suboptimale Blutdruckeinstellung das Gedächtnis beeinträchtigen (siehe dazu DAZ 2016, Nr. 35, S. 35 „Pharmako-logisch! UPDATE Demenz“): Etwa 25% der Demenzen sind vaskulär bedingt und erfordern eine andere (Pharmako-)Therapie als die Alzheimer-Demenz. Entscheidend in der Pathogenese der vaskulären Demenzen sind Infarkte (hämorrhagisch oder ischämisch, manifest oder stumm, oft zahlreiche Mikroinfarkte) oder eine vaskulär bedingte Hirnerkrankung. Klassischerweise ist bei der Alzheimer-Demenz die Gedächtnisfunktion beeinträchtigt. Bei einer vaskulären Demenz ist das nicht zwingend der Fall.

Ursachen für sekundäre Demenzen

Zahlreiche Krankheiten können ein Demenz-Syndrom verursachen. Nach Beseitigung der Ursachen können – sofern keine irreversiblen Strukturschäden eingetreten sind – die zerebralen Symptome verschwinden.

  • Endokrinopathien (Hypo- wie Hyperthyreose)
  • Vitamin-Mangel (Folsäure-, Vitamin-B1-, -B6-, und -B12-Mangel)
  • chronische zerebrale Hypoxie
  • Intoxikation (Alkohol-Krankheit, Leber- und Niereninsuffizienz)
  • Elektrolytstörungen (Hypo- wie Hypernatriämie)
  • chronische Infektionskrankheiten

Zusätzlich können Störungen des Flüssigkeitshaushalts, akute Infektionen oder Operationen bei geriatrischen Patienten die kognitiven Fähigkeiten beeinträchtigen. Wird der Rat befolgt, ausreichend viel zu trinken, lässt sich immer wieder eine deutliche Verbesserung der Gedächtnisfunk­tionen feststellen.

Viel Geduld und Fingerspitzengefühl

Patienten, bei denen bereits eine Demenz diagnostiziert worden ist und die auch schon behandelt werden, können trotzdem schwierig zu führen sein. Gespräche mit ihnen verlaufen oft sehr wirr. Manche sind leicht reizbar. Nicht immer ist es einfach, diese Patienten zu erkennen und ihre Situation richtig einzuschätzen, weil ihr Zustand je nach Tagesform stark schwanken kann. Die Deutsche Alzheimer Gesellschaft e. V. bietet Ausweise an, mit denen sich Betroffene als Demenz-Patienten zu erkennen geben und um Geduld bitten können. Der Umgang mit diesen Patienten bedarf also besonders viel Fingerspitzengefühl und ist auch auf emotionaler Ebene (besonders für die Angehörigen) nicht einfach. Man kann diesen Patienten wichtige Informationen aufschreiben, muss aber auch damit rechnen, dass die Zettel später nicht mehr richtig zugeordnet werden können – weil der Patient beispielsweise einfach nicht mehr weiß, wer diesen Zettel geschrieben hat. Die Deutsche Alzheimer Gesellschaft e. V. bietet auf ihrer Homepage weitere Tipps für den Umgang mit Demenzkranken, z. B. in der Broschüre „Herausforderung Demenz. Wissenswertes zur Kommunikation und zum Umgang mit Menschen mit Demenz“.

Regeln für eine gute Kommunikation

  • Wenden Sie sich Menschen mit Demenz zu.
  • Nehmen Sie Blickkontakt auf und vergewissern Sie sich, dass der Betroffene Sie hört.
  • Sprechen Sie langsam.
  • Verwenden Sie einfache, kurze Sätze, die nur eine Information enthalten.
  • Benennen Sie das, was sie gerade tun.
  • Stellen Sie nur eine Frage auf einmal.
  • Stellen Sie keine „Wieso-Warum-Weshalb“-Fragen.
  • Lassen Sie Zeit zum Antworten.
  • Vermeiden Sie das „Abfragen“ von Fakten (z. B. Datum).
  • Wiederholen Sie Ihre Aussagen, wandeln Sie diese nicht ab.
  • Nutzen Sie, wenn möglich, die vertraute Sprache (Dialekt).
  • Unterstreichen Sie Ihre Worte durch Mimik und Gestik.
  • Hören Sie gut zu.
  • Vermitteln Sie Ruhe und Sicherheit.
  • Nehmen Sie die Betroffenen ernst.
  • Weisen Sie nicht auf Defizite hin.
  • Behandeln Sie Menschen mit Demenz mit Respekt und Wertschätzung.
  • Sprechen Sie, wenn möglich, Vertrautes an (z. B. Beruf, Haustier).

[Quelle: Deutsche Alzheimer Gesellschaft e.V.]

Vergesslich durch Arzneimittel

Auch die zentralnervösen Nebenwirkungen diverser Arzneimittel können zu Vergesslichkeit führen: Anticholinerge Arzneimittel führen zwar zum Beispiel zu einer besseren Blasenfunktion, können aber auch das denkende, planende und handelnde Hirn beeinträchtigen. Grundsätzlich sollte man nie ein Symptom – hier die Vergesslichkeit – isoliert betrachten. Konkrete Arzneimittel als Übeltäter zu benennen ist nicht einfach. Deshalb sollte man immer die Neben- und Wechselwirkungen aller eingenommen Arzneimittel prüfen. Die amerikanische Beers-Liste (Sie finden sie übersetzt in der Medizinischen Monatsschrift für Pharmazeuten, 2016, Nr. 39, S. 406) und die deutsche Priscus-Liste weisen beispielsweise darauf hin, dass Substanzen mit kognitionseinschränkenden oder delirogenen Eigenschaften möglichst nicht bei älteren Patienten eingesetzt werden sollten. In beiden Listen wird auf H1-Antihistaminika der ersten Generation, trizyklische Antidepressiva und Benzodiazepine hingewiesen. Die Gefahr solcher Nebenwirkungen droht vor allem dann, wenn zusätzlich andere Risikofaktoren vorliegen. Solche Listen können unterstützen – dennoch muss jeder Patient individuell betrachtet werden.

Hören, Hinhören, Zuhören

Hören
Die direkte Aussage des Kunden wird nur akustisch angenommen.

Hinhören
Aufnehmen, was der Kunde sagt, ohne herauszufinden, was hinter seiner Botschaft steckt, was er außerdem noch meint.

Zuhören
Sich in den Kunden und seine Aussage hineinversetzen, ihm die volle Aufmerksamkeit schenken. Die indirekte Aussage wahrnehmen und darauf reagieren. Das Vier-Stufen-Modell (Abb.) hilft.

[aus AZ 26/2017]

Gesätes Vergessen

Nicht immer liegt die Ursache der Vergesslichkeit auf der Seite des Patienten. Auch Arzt und Apotheker sollten selbstkritisch hinterfragen, ob sie auf den Punkt und für den Patienten nachvollziehbar kommunizieren. Das beginnt schon mit dem richtigen Zuhören. Denn nur wer richtig zuhört, bekommt auch mit, ob seine Informationen bei Patienten ankommen. Manchmal fühlt sich der Patient einer Informationsflut ausgesetzt, die er gar nicht so schnell verarbeiten kann. Als Faustregel gilt:

Die Patienten erinnern sich nur an ein Drittel des Gesagten korrekt und geben es auch richtig wieder.

Zwei Drittel des Gesagten stellen somit verhallten Mehraufwand dar. Wiederholungen können, je nach Patient, nützlich sein. Wichtig ist zudem, den Patienten das Gesagte selbst zusammenfassen zu lassen. Und manchmal ist weniger einfach mehr. Also lieber wenige und kurze Sätze verwenden, aber dafür hoch relevante Aspekte anbringen und Denkpausen im Satz einbauen. Dann kann das Gehörte auch wirklich verarbeitet werden. Zu guter Letzt sollte man deutlich machen, dass eine Rücksprache jederzeit nicht nur möglich, sondern auch gewünscht ist. So hilft man dem Patienten nicht nur, sondern bindet ihn auch an die Apotheke. Ab einer gewissen Zahl von Medikamenten brauchen auch Patienten mit normalen kognitiven Fähigkeiten Merkhilfen, wie einen guten Medikationsplan. Hier stellt sich die Frage: Greift die bisherige Ausrollung des Medikationsplans in Deutschland? (Siehe auch DAZ 2017, Nr. 14, S. 72 „POP für die Praxis“.)

Vergessen oder noch nie gewusst?

Manchmal entscheiden sich Patienten bewusst gegen eine Therapie oder halten sie einfach nicht für besonders wichtig. Das geben sie aber nicht unbedingt zu. Deshalb ist es wichtig, den Sinn der Behandlung immer wieder zu erklären und zu bekräftigen. Denn vielleicht hat in einem solchen Fall ja der Arzt einmal vergessen, dem Patienten zu erläutern, warum er das Medikament dringend einnehmen sollte. Dann hat der Patient seine Medikamente nicht vergessen, sondern einfach noch nie gewusst, wie wichtig die regelmäßige Einnahme ist. Letztlich helfen Respekt und Freundlichkeit immer weiter. Denn ob der Patient vor einem dement ist, einfach mal einen schlechten Tag hat, intellektuell überfordert ist oder keine Lust hat sich zu konzentrieren, ist auf den ersten Blick nicht zu erkennen. |

Autoren

Apotheker Christian Schulz, Filialleiter der Bad Apotheke Horn-Bad Meinberg und zertifizierter AMTS-Manager



Apothekerin Diana Moll, hat in Tübingen Pharmazie studiert und ist seit Mai 2017 Redakteurin der Deutschen Apotheker Zeitung.

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