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Wirtschaft
Pest oder Cholera?
Eine wirtschaftliche Analyse der Optionen nach dem EuGH-Urteil
Im Jahr 2013 wurde der Festzuschlag für verschreibungspflichtige Fertigarzneimittel um 25 Cent auf 8,35 € erhöht. Seitdem fordern die Apotheker höhere und möglichst regelmäßige Anpassungen. Mit dem Auftrag für ein Gutachten zur Fortentwicklung der Preisbildung hat auch das verantwortliche Bundeswirtschaftsministerium den Handlungsbedarf anerkannt. Offenbar ist den meisten Beteiligten klar, dass ein Fixum langfristig irgendwie an steigende Kosten und zusätzliche Anforderungen angepasst werden muss. Dafür wird eine praktikable und transparente Methode gesucht.
Einbuße statt Nachschlag
Doch während die Frage im Raum steht, wie viel mehr Geld die Apotheker langfristig brauchen, fällte der EuGH sein Urteil zur Preisbindung. Seitdem kursiert bei vielen Politikern, Krankenkassenvertretern und neutralen Beobachtern die Vorstellung, die Apotheken hätten noch Mittel zu verteilen. Die jahrelange Überzeugungsarbeit der Apotheker scheint plötzlich vergessen zu sein. Stattdessen wird die Frage gestellt, wie viel Boni die Apotheken geben können, ohne dass das bewährte Versorgungssystem allzu schweren Schaden nimmt. Doch allein der Verweis auf die Jahre andauernde Honorardebatte sollte diese Frage erübrigen. Seit der Einführung des Festzuschlags im Jahr 2004 auf der Grundlage der Wirtschaftsdaten von 2002 wurde dieser Zuschlag einmalig um magere drei Prozent erhöht. Zudem sinkt die Zahl der Apotheken seit 2008 beständig. Auch wenn einzelne Apotheken wirtschaftlich erfolgreich sind, kann ein solches System insgesamt nichts abzugeben haben.
Drei Szenarien
Mit der geplanten Beschränkung des Arzneimittelversandes auf OTC-Arzneimittel würde der Zustand vor dem Urteil wieder hergestellt. Wie wichtig das Gelingen dieses Gesetzesvorhabens ist, zeigt die Analyse der Szenarien, die anderenfalls eintreten könnten. Dies ist zugleich ein Beitrag zur politischen Debatte über die angedachten Alternativen zur Beschränkung des Versandes. Bei der Analyse der wirtschaftlichen Folgen sind zwei grundverschiedene Szenarien zu unterscheiden:
- Das erste Szenario ist die Fortschreibung der bestehenden Situation nach dem Urteil. Dabei unterliegen inländische Apotheken der Preisbindung und stehen im Preiswettbewerb mit ausländischen Versendern ohne Preisbindung.
- Für das zweite Szenario wird unterstellt, dass in Deutschland Boni in einer begrenzten Höhe zugelassen werden, sei es über das Sozial- oder das Wettbewerbsrecht oder über eine Änderung der Arzneimittelpreisverordnung.
Das dritte Szenario wäre die Einführung einer Höchstpreisverordnung. Damit würde der Preis praktisch zum alleinigen Instrument des Wettbewerbs unter Apotheken und der Staat würde jegliche Einflussmöglichkeiten auf die Entwicklung der Arzneimittelversorgung aus der Hand geben. Ob die Sparmaßnahmen auf Herstellerebene dann noch greifen würden, ist zumindest fragwürdig. Es erscheint unrealistisch, dass dieses Szenario im Bundestag eine Mehrheit findet. Es wird daher hier nicht weiter betrachtet.
Szenario 1: Ungleicher Wettbewerb
Beim ersten Szenario hängen die Folgen davon ab, welche und wie viele Patienten zu ausländischen Versendern abwandern. Dazu bestehen sehr divergierende Vorstellungen. Für den Umsatzanteil der Versender bei Rx-Arzneimitteln gibt es unterschiedliche Angaben im niedrigen einstelligen Prozentbereich. Auch vor 2012, als über Jahre Boni gewährt wurden, lag der Anteil in dieser Größenordnung. Anders als damals haben die ausländischen Versender nun jedoch Rechtssicherheit für ihre abweichenden Preise. Die ganz große Unbekannte bei den Prognosen ist die Reaktion der Krankenversicherungen. Wenn Krankenversicherungen Verträge mit ausländischen Versendern schließen und sich die Boni mit ihren Versicherten teilen, könnten starke Anreize entstehen, die sehr große Umsatzanteile zu den Versendern verschieben würden. Mit jedem verloren gehenden Kundenkontakt sinkt auch die Chance der Apotheken auf Umsätze mit OTC-Arzneimitteln und Waren des Ergänzungssortiments. Der Effekt auf die Apotheken wäre daher größer als die Veränderung des Marktanteils bei Rx-Arzneimitteln.
Gefährliches Rosinenpicken
Die eindringlichste Warnung zu diesem Szenario stammt wohl von Dr. Peter Froese, dem Vorsitzenden des Apothekerverbandes Schleswig-Holstein. Er habe anhand seiner Daten festgestellt, dass 10 Prozent seiner Patienten 50 Prozent seines Betriebsergebnisses generieren. Diese Analyse macht einen wichtigen Zusammenhang deutlich: Verschiedene Umsätze wirken nicht gleichermaßen auf das Betriebsergebnis. Privatpatienten und andere Selbstzahler bieten bessere Spannen, weil der Kassenabschlag entfällt. Stammkunden mit planbarem Bedarf, der nicht einzeln nachbestellt werden muss, verursachen geringere Kosten als Kunden, bei denen Nachbestellungen mit einem Boten zugestellt werden müssen. Rezepte mit mehreren Positionen bieten Kostenvorteile gegenüber Einzelverordnungen. Bei Neuverordnungen ist der Beratungsaufwand besonders groß. Für finanzstarke Apotheken, in denen sich aufgrund der Nähe zu bestimmten Ärzten einzelne Hochpreiser häufen, können diese lukrativ sein. In anderen Konstellationen erhöhen sie eher die Risiken.
Diese Vielfalt macht Prognosen sehr schwer. Doch es muss befürchtet werden, dass gerade die lukrativen Selbstzahler und Chroniker mit hohem Bedarf besonders preissensitiv reagieren. Akutfälle können dagegen naturgemäß nicht auf den Versand warten. Damit würden sich nicht nur die Umsätze der Apotheken verringern, sondern auch die Kostenstrukturen verschlechtern. Die durchschnittlichen Kosten pro Packung würden steigen. Daher unterschätzen Szenarioanalysen auf der Grundlage der bisherigen Kostendaten die Einbußen der Apotheken. Dies gilt auch für die Betrachtungen in diesem Beitrag.
Negativer Extremfall
Würden gemäß der obigen Extremannahme 50 Prozent des Betriebsergebnisses wegfallen, hätte eine Durchschnittsapotheke noch 70.500 € zu versteuern (50 Prozent von 131.000 € plus unveränderte 5000 € aus dem Notdienstfonds; ausgehend von den Daten der ABDA für 2015 wie alle folgenden Szenarioanalysen in diesem Beitrag). Das ist wenig mehr als der Betrag, den eine Apotheke für einen Approbierten in der höchsten Gehaltsstufe bei einigen Notdiensten und einschließlich Sozialversicherungsbeiträgen erwirtschaften muss. Dies wäre die Entlohnung für die Arbeit des Apothekenleiters. Seine Überstunden, das Kapital und das wirtschaftliche Risiko würden nicht mehr honoriert. Der Betrieb einer Durchschnittsapotheke würde damit wirtschaftlich sinnlos. Apotheken unter dem heutigen Durchschnittsumsatz - und damit etwa 60 Prozent aller Apotheken - wären dann in ihrer Existenz bedroht. Bevor so viele Apotheken schließen, würde die Politik jedoch höchstwahrscheinlich gegensteuern. Außerdem würden nach vielen Schließungen die verbleibenden Apotheken wiederum profitieren, sodass voraussichtlich deutlich mehr als 40 Prozent der Apotheken verbleiben würden (siehe unten im Abschnitt „Zynische Logik“).
Scheinbar moderate Version
Doch was wäre, wenn „nur“ 10 Prozent der Umsätze wegfallen und die Kostenstruktur (unrealistischerweise, aber zur Vereinfachung der Rechnung) erhalten bleibt? Dazu soll eine Apotheke betrachtet werden, die gerade am Rand des betriebswirtschaftlich kritischen Bereiches liegt. Diesen setzt die Steuerberatungsgesellschaft Treuhand Hannover bei einem Betriebsergebnis an, das 4 Prozent des Umsatzes oder weniger beträgt. Wenn der Umsatz und der Rohertrag den Durchschnittswerten gemäß ABDA entsprechen (Umsatz: 2.110.000 Euro; Rohertrag: 517.000 Euro), wäre das ein Betriebsergebnis von nur 84.400 Euro. Diese Apotheke hätte überdurchschnittlich hohe Kosten von 432.600 Euro (statt 386.000 Euro in der Durchschnittsapotheke), möglicherweise begründet durch eine besonders hohe Miete und hohe Personalkosten aufgrund langer Öffnungszeiten. Wenn sich diese Kosten im gleichen Verhältnis wie in der Durchschnittsapotheke auf Personalkosten und sonstige Kosten verteilen, ergeben sich 252.200 Euro Personalkosten und 180.400 Euro sonstige Kosten. Dabei soll für eine grobe Abschätzung angenommen werden, dass die Personalkosten durch Stundenreduzierungen um 10 Prozent auf 227.000 Euro sinken, weil weniger Kunden zu versorgen sind. Die übrigen Kosten sollen jedoch bestehen bleiben, weil Mieten, Energie und Abschreibungen für die Einrichtung mittelfristig nicht zu verändern sind. Der Rohertrag würde dann auf 465.300 Euro und die Kosten würden auf 407.400 Euro sinken. Das Betriebsergebnis betrüge nur noch 57.900 Euro oder 3 Prozent vom verminderten Umsatz und damit weniger als die Ausgaben einer Apotheke für einen Approbierten. Die zu erwartenden Verschlechterungen der Kostenstruktur sind dabei noch nicht einmal berücksichtigt.
Noch viel stärker wären die Apotheken betroffen, die schon heute ein geringeres Betriebsergebnis erwirtschaften. Nach Angaben der Treuhand Hannover hatten 9,4 Prozent der Apotheken im Jahr 2015 ein Betriebsergebnis von höchstens 2 Prozent des Umsatzes. Diese Apotheken vertragen praktisch gar keine Verschlechterung ihrer Situation mehr.
Daher kann gefolgert werden, dass bei einem Umsatzverlust von „nur“ 10 Prozent etwa zwischen 9 und 22 Prozent der Apotheken kurz- oder mittelfristig aufgeben müssten. Das sind 1800 bis 4400 Apotheken! Dadurch würden vielerorts Versorgungslücken entstehen. Wenn Politiker heute neue Honorierungsformen für Apotheken an besonders versorgungsrelevanten Standorten fordern, bereiten sie den Boden für das dann notwendige Subventionssystem. Wenn 1000 Apotheken jeweils mit 2 Prozent eines durchschnittlichen (heutigen) Apothekenumsatzes subventioniert werden müssten, wären dafür 42,2 Millionen Euro jährlich erforderlich. Eine Apotheke im wirtschaftlichen Grenzbereich könnte sich nach den oben ermittelten Einbußen dann wieder oberhalb der kritischen Grenze stabilisieren. Für das Gesamtsystem wäre der Betrag politisch akzeptabel, weil er kaum mehr als ein Drittel des Volumens des Nachtdienstfonds umfasst. Die größte Herausforderung wäre, die empfangsbedürftigen Apotheken zu definieren. Doch ökonomisch kann diese Vorgehensweise nicht überzeugen: Beim angenommenen Umsatzrückgang von 10 Prozent mögen etwa 9 Prozent der Umsätze mit Rx-Arzneimitteln abwandern. Der Rest würde sich aus den weiteren Umsätzen dieser Patienten ergeben. Bei insgesamt jährlich 749 Millionen abgegebenen Rx-Packungen und damit 67 Millionen angenommenen Rx-Packungen mit Boni müssten die zahlenden Kunden (GKV, PKV und Selbstzahler) pro Packung 0,75 Euro Bonus (0,63 Euro plus Mehrwertsteuer) erzielen, um die Belastung auszugleichen, die der Gesetzgeber ihnen künftig auferlegen würde. Denn die hier kalkulierte Subvention würde vermutlich nach dem Vorbild des Nachtdienstfonds finanziert. Wenn im Versand vorrangig teurere Packungen geordert werden, wäre der nötige Betrag pro Packung (bei gleichem Umsatz) sogar noch höher. Ein beträchtlicher Teil des „eingesparten“ Geldes müsste also gleich wieder abgezogen werden. Das wäre fast ein Nullsummenspiel und zeigt ein weiteres Mal, auf wie elegante Weise die geltende Preisbindung das gewünschte Versorgungsziel ohne umständliche und kartellrechtlich problematische Subventionen erreicht. Der EuGH hat dies allerdings nicht erkannt.
Zynische Logik
Die hier angenommene Schließung von Tausenden Apotheken wäre jedoch durch die zynische Logik des Systems ein wirtschaftlicher Vorteil für die weiter bestehenden Apotheken. Auch wenn voraussichtlich eher kleine Apotheken schließen müssten, würde ein Verlust von etwa 20 Prozent der Apotheken den Verlust von 10 Prozent des Umsatzes bei den meisten verbleibenden Apotheken ungefähr kompensieren. Die heute erfolgreichen Apotheken hätten bei diesem Szenario daher im Durchschnitt keinen Schaden. Politiker könnten zynischerweise darauf setzen, dass die Apotheker, die dann ihre freiberufliche Existenz einbüßen, wenig Gehör finden würden, solange Apotheken an zwingend versorgungsrelevanten Standorten durch geeignete Kompensationsmaßnahmen erhalten blieben.
Wenn in den Vor-Ort-Apotheken deutlich mehr als 10 Prozent des Umsatzes verloren gingen, würde sich das Problem jedoch ausweiten. Außerdem wird ein System mit einer so massiven Inländerdiskriminierung, wie sie hier angenommen wird, kaum langfristig bestehen können. Dies leitet über zum zweiten Szenario.
Szenario 2: Boni im Inland
Beim zweiten Szenario wird unterstellt, dass in Deutschland Boni in begrenzter Höhe zugelassen werden. Diese Grenze festzulegen, dürfte sich als großes Problem erweisen. Denn eine niedrige Grenze würde die Inländerdiskriminierung nicht beseitigen und eine hohe Grenze hätte keine Schutzwirkung für die Strukturen in Deutschland. Vielmehr ist zu bestreiten, ob irgendeine realistische Grenze überhaupt noch stabilisierend auf die Versorgungsstruktur wirken würde. Dazu soll hier ein maximaler Bonus von 1 Euro betrachtet werden. Dieser Betrag gilt im Wettbewerbsrecht als Geringfügigkeitsgrenze für Zugaben. Hier wird unterstellt, dass alle Apotheken einen solchen maximalen Bonus geben. Denn sobald auch nur einige (Versand-)Apotheken im Inland einen solchen Bonus gewähren, würden die anderen Apotheken ohne einen solchen Bonus vermutlich mindestens 10 Prozent ihres Umsatzes verlieren. Wie dramatisch dies wirken würde, hat die Betrachtung des ersten Szenarios gezeigt.
Eine Durchschnittsapotheke mit einem jährlichen Rohertrag von 517.000 Euro gibt 37.500 Rx-Packungen ab. 1 Euro Bonus pro Rx-Packung entspricht 0,84 Euro netto (ohne Mehrwertsteuer). Damit ginge der Rohertrag um 31.500 Euro zurück. Dies liegt in der Größenordnung der Ausgaben für eine PTA. Da die übrigen Teammitglieder eine fehlende PTA bei unverändertem Arbeitsaufkommen nicht kompensieren können, würde das durchschnittliche Betriebsergebnis von 136.000 Euro auf 104.500 Euro sinken und damit in den Bereich der Tiefststände von 2007 und 2012 (104.200 bzw. 105.100 Euro). Die weitaus meisten Apotheken könnten sich dann nur noch mit einer Desinvestitionsstrategie retten. Auf Tariferhöhungen müssten sie mit Stundenkürzungen reagieren, für Investitionen wäre kein Spielraum. Dies ist langfristig nicht durchzuhalten. In einer Apotheke, die beim Durchschnittsumsatz schon jetzt am wirtschaftlichen Grenzbereich liegt und nur eine Rendite von 4 Prozent vom Umsatz erwirtschaftet, würde das Betriebsergebnis von 84.400 Euro auf 52.900 Euro sinken. Dies wäre weniger als der Apothekenleiter als Angestellter ohne wirtschaftliches Risiko verdienen könnte. Demnach wären schon bei 1 Euro Bonus mittelfristig mehr als 22 Prozent der Apotheken in ihrer Existenz bedroht. Doch 1 Euro gilt gerade als Spürbarkeitsgrenze für Boni. Demnach ist überhaupt kein sinnvoller Betrag denkbar, der als Boni-Grenze in Betracht käme.
Variante: Boni nur für Selbstzahler
Eine Variante des zweiten Szenarios wäre eine Boni-Grenze für Rx-Arzneimittel außerhalb der GKV in Verbindung mit einer sozialrechtlichen Verankerung der strikten Preisbindung allein für die GKV. Die Einbußen für die Apotheken wären dann deutlich geringer und für die weitaus meisten Apotheken daher wohl nicht existenziell bedrohlich. Doch der Wettbewerb würde die Apotheken dann dazu animieren, Boni zu gewähren, bis die bonifizierten Umsätze gerade noch die Grenzkosten erwirtschaften. Die GKV-Umsätze müssten dann allein die Gemeinkosten der Infrastruktur tragen. Die Solidargemeinschaft der GKV würde dann die Infrastruktur für Produkte mitfinanzieren, die nicht erstattet werden sollen. In anderen Bereichen des Gesundheitswesens sorgen dagegen gerade die wirtschaftlich stärkeren Selbstzahler überproportional für die Finanzierung des Systems. Dies wird immer wieder als wichtige gesellschaftliche Aufgabe der PKV angeführt. Daher wäre es systemwidrig, in der Arzneimittelversorgung umgekehrt vorzugehen.
Langfristige Belastung des Systems
Doch zurück zur Grundidee des zweiten Szenarios, einer Boni-Grenze von 1 Euro für alle Rx-Arzneimittel: Die langfristigen Probleme in diesem Fall sind noch größer, als die bisherigen kurzfristig angelegten Betrachtungen zeigen. Wie beim ersten Szenario würden sich die Umsätze der schließenden Apotheken auf die verbleibenden Apotheken verteilen. Anders als beim ersten Szenario könnten sich die verbleibenden Apotheken darüber jedoch nicht wirklich freuen. Denn anders als beim ersten Szenario hätten auch die verbleibenden Apotheken Einbußen durch den zu gewährenden Bonus. Wenn 22 Prozent der Apotheken schließen und die Umsätze der verbleibenden Apotheken um 10 Prozent steigen, hätte eine überlebende (bisherige) Durchschnittsapotheke einen Rohertrag von 568.700 Euro abzüglich 34.650 Euro Boni (37.500 Rx-Packungen plus 10 Prozent Mehrumsatz; 0,84 Euro Netto-Bonus pro Rx-Packung), also 534.050 Euro. Wenn wegen der steigenden Kundenzahl auch die Personalkosten um 10 Prozent auf 247.500 Euro steigen und die übrigen Kosten konstant bleiben, würde das Betriebsergebnis von 131.000 Euro auf 125.550 Euro (beide Beträge ohne Zuschüsse aus dem Notdienstfonds) sinken. So würden auch die verbleibenden Apotheken geschwächt. Sie hätten mehr Arbeit, könnten aber weniger investieren, um ihre Kapazitäten zukunftsfähig auszubauen. Stattdessen müssten dafür Serviceleistungen abgebaut werden. Das erscheint realistisch, weil weniger (Konkurrenz-)Apotheken existieren würden und statt des Qualitäts- ein Preiswettbewerb stattfände.
Zusätzlich würden auch bei diesem Szenario Umsätze an die ausländischen Versender abwandern, deren Boni durch keine Vorschrift gedeckelt wären. Wenn hingegen in Deutschland höhere Boni zugelassen würden, fielen auch die Einbußen größer aus als oben ermittelt. Wenn die Margen zu gering sind, können auch Mehrumsätze die Situation nicht verbessern. Denn ein unrentables Geschäft wird auch durch Skaleneffekte nicht besser.
Boni als Systemkiller
Boni in Deutschland zuzulassen, würde daher die Leistungsfähigkeit des deutschen Apothekensystems noch stärker belasten als der unfaire Wettbewerb mit ausländischen Versendern, für die keine Preisbindung gilt. Es ist daher festzuhalten, dass eine solche Boni-Grenze mehr Probleme aufwerfen würde, als vorläufig überhaupt nicht auf das EuGH-Urteil zu reagieren. Wenn deutsche Apotheken im Wettbewerb gezwungen würden, Boni zu gewähren, müssten bald nicht nur einige kleine Apotheken an besonders versorgungsrelevanten Standorten subventioniert werden, sondern es müssten neue Honorarkomponenten für praktisch alle Apotheken entwickelt werden, um das System zu stabilisieren. Da die dafür erforderlichen Mittel von den zahlenden Kunden (GKV, PKV und Selbstzahler) in ähnlicher Weise wie für den Notdienstfonds erhoben werden müssten, liefe dies praktisch auf ein Nullsummenspiel heraus.
Boni als Nullsummenspiel
Dass die nötige Kompensation für die systemschädigende Wirkung von Boni auf Arzneimittel in der Größenordnung der möglichen Boni liegt, ist kein Zufall und nicht das Ergebnis geschickt gewählter Annahmen. Vielmehr liegt dies an der Effizienz des bisherigen Versorgungssystems. Das System kann mit den derzeit verfügbaren Mitteln gerade halbwegs akzeptabel funktionieren. Einige Apotheken erwirtschaften genug, um mit Investitionen Wege in die Zukunft zu erproben. Andere stehen an der Rentabilitätsschwelle oder sogar darunter, halten sich aber, solange eine Aussicht auf Besserung besteht. Doch schon scheinbar überschaubare Verschlechterungen wie 10 Prozent Umsatzverlust oder 1 Euro Bonus pro Rx-Packung könnten sehr viele Apotheken nicht verkraften, wie die obigen Analysen zeigen. Dabei ginge es für etwa jede fünfte Apotheke um die Existenz. Wenn dem System Boni entzogen werden, fehlen diese Mittel zwangsläufig irgendwo. Wenn Versender, die mit geringeren Kosten als Rosinenpicker arbeiten, zusätzliche Umsätze erhalten und Boni zu verteilen haben, fehlt dieses Geld bei Apotheken, die für die flächendeckende Infrastruktur sorgen. Das würde auch gelten, wenn die Apotheken in einem ruinösen Wettbewerb nur wählen könnten, ob sie Umsätze abgeben oder selbst Boni gewähren. In allen diesen Fällen müsste der Staat die Boni abschöpfen, um die Versorgung an kritischen Standorten zu sichern. Einfacher und ökonomisch eleganter geht das mit der seit über 100 Jahren bewährten Preisbindung. |
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