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Toxikologie
Die Struktur macht das Gift
Lässt sich die Hepatotoxizität der Pyrrolizidinalkaloide am Computer voraussagen?
Pyrrolizidinalkaloide (PA) sind immer wieder Gesprächsthema und Gegenstand von Gefahrenhinweisen, wie sie vom Bundesinstitut für Risikobewertung (BfR) zum Verzehr von Kräutertees herausgegeben wurden [2]. Die Europäische Arzneimittelbehörde (EMA) hat Grenzwerte festgelegt, um die PA-Kontaminationen von Phytopharmaka zu verringern. Mangels belastbarer Daten wurden die Grenzwerte allerdings auf Basis von Tierversuchsstudien mit nur sehr wenigen Modellsubstanzen wie Riddelliin, Lasiocarpin und Monocrotalin für alle PA festgelegt, die die Toxizität der einzelnen Verbindung nur unzureichend abdecken. Mithilfe von potenten Algorithmen wäre es möglich, Rangordnungen unter den PA zu bestimmen und gegebenenfalls Äquivalente zu bekannten Verbindungen festzulegen. Die mannigfaltigen Strukturen der PA sind ein wesentlicher Grund, weshalb eine differenzierte Kontrolle und Überwachung potenziell kontaminierter Lebensmittel erhebliche Schwierigkeiten bereitet.
Vorkommen und Chemie der PA
Pyrrolizidinalkaloide sind sekundäre Pflanzeninhaltsstoffe, die im Rahmen von Abwehrmechanismen synthetisiert werden. Dabei gibt es mit über 660 natürlich vorkommenden PA in mehr als 6000 Pflanzen eine nahezu unüberschaubar große Anzahl unterschiedlich wirkender Verbindungen [1]. Sie zählen zu den potentesten Phytotoxinen, die in Pflanzen synthetisiert werden. Intoxikationen kommen weltweit vor. Bislang wurde global von über 8000 Fällen einer akuten Vergiftung berichtet. Da die Intoxikation aber nicht meldepflichtig ist und entsprechend nur unzureichend registriert wird, ist die Dunkelziffer vermutlich weitaus höher [3].
Chemisch gesehen sind PA heterozyklische Esteralkaloide aus einem 1-Hydroxymethylpyrrolizidin (Necinbase) und einer oder zwei aliphatischen Carbonsäuren (Necinsäuren). Da die Necinbasen zwei Hydroxylgruppen besitzen, können die PA als Mono- oder Diester vorliegen. Bei vielen PA besteht eine ringförmige Verknüpfung mit einer Dicarbonsäure. Man unterscheidet im Wesentlichen die PA vom Retronecin-, Heliotridin-, Otonecin- und Platynecin-Typ.
Einige Zusammenhänge zwischen der Struktur und der Toxizität der PA sind schon seit Längerem bekannt. PA, die eine Doppelbindung in der Necinbase besitzen und mindestens mit einer verzweigten C5-Carbonsäure verestert sind, besitzen in der Regel hepatotoxische, mutagene und kanzerogene Wirkungen. PA vom Platynecin-Typ mit gesättigter Necinbase zeigen diese toxischen Wirkungen dagegen nicht. Ihre Bioverfügbarkeit nach oraler Aufnahme ist deutlich geringer als bei ungesättigten PA.
Die möglichen kanzerogenen Wirkungen von PA nach langfristiger Zufuhr geringer Dosen sind der Anlass für die Kontrollen der Hersteller und für behördliches Handeln, um die Exposition des Verbrauchers über Nahrungsmittel oder Arzneimittel zu vermeiden oder auf ein Minimum zu reduzieren.
Bei akuten PA-Intoxikationen steht die Schädigung der Leber im Mittelpunkt der Betrachtung. Der erste beschriebene Fall geht auf das Jahr 1920 zurück und wird mit belastetem Tee in Verbindung gebracht.
PA-Metabolismus und Lebertoxizität
Die Pyrrolizidinalkaloide werden von Pflanzen als hydrophile N-Oxide synthetisiert. Nach oraler Aufnahme werden die N-Oxide im Darm zu tertiären Aminen reduziert, bevor sie resorbiert werden (Abb. 1).
Der PA-Metabolismus findet in der Leber statt; drei verschiedene Stoffwechselwege für ungesättigte PA gelten als relevant*:
- Hydrolyse durch Esterasen. Die entstehenden Metaboliten unterliegen anschließend einem Phase-II-Metabolismus.
- Detoxifizierung der Necinbasen mittels N-Oxidation und anschließendem Phase-II-Metabolismus der N-Oxide.
- Metabolische Aktivierung der PA durch Oxidation oder Demethylierung durch die Cytochrom-P450-Enzyme CYP2B und CYP3A [1].
*Diese Stelle unterscheidet sich von der Printausgabe. Leider ist uns dort ein Fehler unterlaufen, den wir zu entschuldigen bitten. Da wir nicht möchten, dass sich die falsche Version weiter verbreitet, haben wir den Satz in dieser Online-Version korrigiert. Die DAZ-Redaktion.
Die metabolische Aktivierung der PA bedingt ihre Lebertoxizität, denn es werden reaktive Dehydropyrrolizidinalkaloide (DHPA) erzeugt, die rasch an Makromoleküle wie zelluläre Proteine binden und Proteinaddukte bilden können (Abb. 1). In der Folge sterben die Zellen ab. Die reaktiven DHPA können zwar durch Glutathion abgefangen werden, jedoch gehen die Vorräte schnell zur Neige. Die Glutathiondepletion der Endothelzellen ist ein häufiger Befund bei einer akuten Intoxikation. Durch Zufuhr von Glutathion oder N-Acetylcystein kann die Bildung der reaktiven DHPA und der damit einhergehende Zelltod vermieden werden [4].
In Tierversuchen konnte die Hepatotoxizität der PA reproduzierbar und dosisabhängig ausgelöst und im Detail untersucht werden. Sie verschließen die venösen Lebersinusoide und verursachen das hepatische sinusoidale Obstruktionssyndrom (HSOS) [3]. Das Krankheitsbild ist auch im Zusammenhang mit einer Cyclophosphamid-Therapie bekannt. Dieser Arzneistoff wirkt nach metabolischer Aktivierung über Cytochrome ebenfalls zytotoxisch, indem er zelluläre Proteine und Nucleinsäuren alkyliert. In verschiedenen Studien konnte nachgewiesen werden, dass PA und andere Stoffe, die ein HSOS auslösen können, ihre Wirkung eher an hepatischen sinusoidalen Endothelzellen entfalten als an Hepatozyten.
Symptomatik des HSOS
Im Unterschied zu anderen Formen der Hepatotoxizität kommt es bei einem hepatischen sinusoidalen Obstruktionssyndrom (HSOS) zu einer portalen Hypertension mit einer anschließenden parenchymalen Dysfunktion der Leber. Klinisch zeigen sich eine Gewichtszunahme durch Flüssigkeitseinlagerungen und Aszites sowie eine leichte Hepatomegalie, Hyperbilirubinämie und hämorrhagische Nekrose [6]. Bei der akuten Form sind erhöhte Werte der Aminotransferasen im Serum feststellbar, bei der chronischen Form kann hingegen eine Leberzirrhose auftreten. Die Erkrankung kann einen verzögerten Verlauf nehmen. So erkrankte ein Neugeborenes an einem HSOS, dessen Mutter während der Schwangerschaft PA-belastete Pflanzenprodukte zu sich genommen hatte [6].
Patienten mit einer bestehenden oder früheren Lebererkrankung gelten als besonders HSOS-gefährdet. Insbesondere Hepatitis C, Leberfibrose oder -zirrhose oder ein vormaliges HSOS gelten als Risikofaktoren. Die Therapie ist in erster Linie rein symptomatisch, da eine Heilung bei 70 bis 80% der Patienten spontan erfolgt. Bei einem sehr schweren HSOS kann ein Leberversagen eintreten. In diesem Fall gilt eine Lebertransplantation als indiziert [4, 5].
Obwohl die Bildung der Proteinaddukte von DHPA ausschlaggebend für das HSOS ist, existierte lange Zeit keine Methode, sie in biologischen Proben nachzuweisen. Die Diagnose stützte sich auf retrospektive Datenerhebungen, bis vor wenigen Jahren neue analytische Methoden die Verdachtsfälle bestätigen konnten [6].
Vorhersage mittels Struktur-Wirkungs-Beziehungen
Trotz zahlreicher In-vitro- und In-vivo-Studien mit Pyrrolizidinalkaloiden ist die Stoffgruppe zu groß, um die inhärente Toxikologie über die üblichen Vorgehensweisen zu untersuchen. Angesichts der Vielfalt der PA und vor dem Hintergrund des Mangels an Daten ist es sinnvoll, Struktur-Wirkungs-Beziehungen zu ermitteln, um Tierexperimente zu vermeiden oder zumindest zu reduzieren. Einen neuen Weg zur Analyse der Struktur-Wirkungs-Beziehungen ging ein Team von Wissenschaftlern aus Deutschland und der Schweiz, die ihre Ergebnisse vor einigen Monaten publiziert haben [1].
Die Autoren überprüften zunächst, ob anhand der strukturellen Unterschiede der PA Rückschlüsse auf deren hepatotoxische Wirkung gezogen werden können. Hierfür wurde mittels umfangreicher Literaturrecherche ein großer Datensatz aus 602 Strukturen von Vertretern der Stoffgruppe erstellt und analysiert. Duplikate und Isomere wurden entfernt, künstliche PA, die in der Natur wahrscheinlich nicht vorkommen, wurden jedoch berücksichtigt. Zunächst wurden Modelle mithilfe von Trainingsdatensätzen erstellt, zu denen hepatotoxische Wirkungen beim Menschen bekannt waren. So konnten molekulare Prädiktoren für das hepatotoxische Potenzial jedes einzelnen Stoffes im Datensatz ermittelt werden. Der Datensatz wurde zunächst standardisiert, wobei z. B. Salze aus den Strukturen entfernt wurden. Mittels PaDEL-Descriptor, einer Open-Source-Software zur Berechnung von Deskriptoren, wurden anschließend für jeden Stoff im Datensatz entsprechende Deskriptoren ermittelt.
Auf der anderen Seite wurde ein Datensatz mit Informationen über arzneimittelverursachte Leberschäden (Drug-induced liver injury, DILI) erstellt. Die Informationen wurden aus verschiedenen Quellen zusammengetragen und dienten dazu, QSAR-Modelle (quantitative Struktur-Wirkungs-Beziehungen) mit Substrukturen bekannter Lebertoxizität zu trainieren. Dieser Trainingsdatensatz enthielt 721 Substanzen. Analog zum PA-Datensatz wurden für jede dieser Substanzen 1444 molekulare Deskriptoren berechnet, von denen 1062 als relevant für die Toxizität erachtet wurden.
Auf dieser Grundlage wurden dann zwei verschiedene QSAR-Modelle entworfen, die auf üblichen Algorithmen zur Klassifikation und Regression großer Datenmengen mittels „machine learning“ basieren, nämlich auf
- Random-Forest(RF)-Algorithmen und
- künstlichen neuronalen Netzen (artificial Neural Network, aNN).
Ein RF beschreibt ein Klassifikationsverfahren, das aus verschiedenen Entscheidungsbäumen besteht. Für die Aufstellung des verwendeten aNN stützten sich die Autoren auf bereits publizierte Modelle in der Programmiersprache R, die sie an ihre Zielsetzung anpassten.
Mit den QSAR-Modellen wurden anschließend für die Stoffe im PA-Datensatz die Wahrscheinlichkeiten einer Hepatotoxizität vorhergesagt. Jeder Substanz wurde ein prozentualer Wert zugeteilt, wobei ein höherer Wert nicht eine höhere Toxizität bedeutet, sondern eine höhere Wahrscheinlichkeit, toxisch zu wirken. Die Stoffe wurden dann in zehn Wahrscheinlichkeitsklassen (jeweils 10%-Bereiche) sortiert, und die strukturellen Eigenschaften der Stoffe in jeder Klasse wurden verglichen, um Substrukturen zu identifizieren, die besonders hohe oder niedrige Wahrscheinlichkeiten einer Hepatotoxizität besitzen.
Obwohl es sich bei den Pyrrolizidinalkaloiden um eine relativ homogene Substanzklasse handelt, konnten mit den QSAR-Modellen Substrukturen mit unterschiedlichen hepatotoxischen Wirkungen ermittelt werden: Von den 602 PA wurden 105 mittels RF-Modell und 496 mittels aNN-Modell als hepatotoxisch mit einer Wahrscheinlichkeit von jeweils mindestens 50% eingestuft. Trotz dieser Unterschiede führten beide Modelle jedoch zu einer ähnlichen Bewertung der kritischen Strukturmerkmale und zeigten damit insgesamt eine vergleichbar gute Vorhersagequalität. Demnach unterschieden sich die PA-Typen folgendermaßen:
- Bezüglich der Necinbasen wurde den PA vom Otonecin-Typ (mit methyliertem Stickstoff) in beiden Modellen ein signifikant höheres toxisches Potenzial zugeordnet als den PA vom Retronecin-Typ und Platynecin-Typ (Abb. 1), sodass sich diese Reihung ergab: Otonecin > Retronecin > Platynecin (Abb. 2A).
- Modifikationen der Necinbasen beeinflussen die Toxizität ebenfalls erheblich. So haben nur wenige Dehydropyrrolizidinalkaloide (DHPA) eine geringe Toxizität, wohl aber zahlreiche N-Oxide und tertiäre Amine (Abb. 2B).
- Bezüglich der Necinsäuren wurde die folgende Reihung der Toxizität identifiziert: makrozyklische Diester > Diester mit geöffnetem Ring > Monoester (Abb. 2C).
Fazit
Eine aktuelle systematische Analyse der Beziehungen zwischen der Struktur von Pyrrolizidinalkaloiden und ihrer Hepatotoxizität mithilfe von zwei Methoden der In-silico-Toxikologie konnte die bisher bekannten Zusammenhänge weitgehend bestätigen und brachte darüber hinaus einige neue Aspekte hervor.
Insgesamt ergaben die Analysen, dass die Necinsäuren einen deutlich höheren Einfluss auf das hepatotoxische Potenzial der PA entfalten als die (unmodifizierten) Necinbasen. Bei den modifizierten Basen konnte bestätigt werden, dass die Dehydroderivate toxischer sind als die Ausgangsverbindungen. Die Autoren erklären daher, dass unterschiedliche Stoffwechselwege der PA, bei denen verschiedene Mengen an DHPA entstehen, entscheidend an der Toxizität beteiligt sind. Sie empfehlen, in einem nächsten Schritt zu überprüfen, ob Strukturelemente der Stoffe den Metabolismus beeinflussen könnten. Des Weiteren sollten weitergehende In-silico-Methoden die genauen Zusammenhänge zwischen Struktur und Wirkung hinsichtlich der chronischen Toxizität und Kanzerogenität der PA mit genotoxischer Wirkung ergründen.
Leider können die Modelle noch nicht so präzise Vorhersagen treffen, dass experimentelle Ansätze völlig überflüssig sind. Dennoch helfen sie weiter und sollten als Ergänzung zu in vitro und tierexperimentell generierten Daten berücksichtigt werden. In Zukunft werden wir sicherlich Weiterentwicklungen auf diesem Gebiet sehen. Solange allerdings die biologischen Grundlagen der toxischen Wirkungen kaum verstanden werden, können auch die leistungsfähigsten Computer keine Wunder vollbringen. |
Literatur
[1] Schöning V et al. Identification of any structure-specific hepatotoxic potential of different pyrrolizidine alkaloids using Random Forest and artificial Neural Network. Toxicol Sci 2017;160(2):361-370
[2] Bundesinstitut für Risikobewertung (BfR). Pyrrolizidinalkaloide in Kräutertees und Tees. Stellungnahme 018/2013 vom 5. Juli 2013
[3] Yang M et al. First evidence of pyrrolizidine alkaloid N-oxide-induced hepatic sinusoidal obstruction syndrome in humans. Arch Toxicol 2017;91(12):3913-3925
[4] Helmy A. Review article: updates in the pathogenesis and therapy of hepatic sinusoidal obstruction syndrome. Aliment Pharmacol Ther 2006;23(1):11-25
[5] Larrey D, Faure S. Herbal medicine hepatotoxicity: a new step with development of specific biomarkers. J Hepatol 2011;54(4):599-601
[6] Lin G et al. Hepatic sinusoidal obstruction syndrome associated with consumption of Gynura segetum. J Hepatol 2011;54(4):666-673
[7] Gao H et al. Blood pyrrole-protein adducts as a diagnostic and prognostic index in pyrrolizidine alkaloid-hepatic sinusoidal obstruction syndrome. Drug Des Devel Ther 2015;9:4861-4868
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