Medizin

Nicht vorschnell den Goldstandard verlassen

Interview mit Prof. Dr. Dr. Peter Schmittenbecher

Beim therapeutischen Vorgehen bei einer Blinddarmentzündung sind die Bücher noch nicht geschlossen. Die Hintergründe der Frage, ob und wann eine antibiotische Behandlung statt einer sofortigen Operation gerechtfertigt ist, erläutert Prof. Dr. Dr. Peter Schmittenbecher, Direktor der Kinderchirurgischen Klinik am Klinikum Karlsruhe und Präsident der Deutschen Gesellschaft für Kinderchirurgie.
Prof. Dr. Dr. Peter Schmittenbecher

DAZ: Herr Professor Schmittenbecher, wieso macht das Thema „Antibiotika bei der Appendizitis“ derzeit Schlagzeilen?

Schmittenbecher: Das Thema ist eigentlich nicht neu, wir behandeln schon seit Langem Patienten mit einer Blinddarmentzündung, denen es sehr schlecht geht und bei denen man sich fragen muss, ob die Operation zum aktuellen Zeitpunkt sinnvoll ist, zunächst mit Antibiotika. Denn diese Patienten haben oftmals kein lokales Blinddarmproblem, sondern bereits eine Bauchfellentzündung. Gelingt es, die Situation zu stabilisieren, kann dann im nächsten Schritt der Blinddarm operativ entfernt werden. In einer schwedischen Studie wurde vor einigen Jahren gezeigt, dass dieses Vorgehen sicher und effektiv ist, und in einer Metaanalyse wurde dies im vergangenen Jahr auch bei Kindern bestätigt. Wir haben das zum Anlass genommen, die Problematik beim diesjährigen Kongress der Deutschen Gesellschaft für Chirurgie zu diskutieren. Denn bislang gibt es nur Untersuchungen an vergleichsweise kleinen Kollektiven. Es besteht damit kein Grund, das bisherige Vorgehen, bei dem die Operation der Goldstandard ist, voreilig zu ändern.

DAZ: Was spricht dagegen, die Antibiotika-Gabe stärker zu propagieren, um den Kindern und Erwachsenen möglicherweise eine Operation zu ersparen?

Schmittenbecher: Die Datenlage ist derzeit für eine solche Empfehlung nicht ausreichend. Es kommt hinzu, dass die antibiotische Behandlung das Problem keineswegs bei allen Patienten löst. So bleibt bei etwa einem Drittel der Patienten der erwartete Behandlungserfolg aus, und bei einem weiteren Drittel kommt es nach anfänglicher Besserung im Verlauf weniger Monate zu einem Rezidiv und es muss dann doch operiert werden. Es ist auch zu bedenken, dass nicht jedes Bauchweh durch eine Blinddarmentzündung bedingt ist und in jedem Fall die Diagnose gut abgesichert sein muss.

DAZ: Wie gehen Sie derzeit bei Patienten mit akuter Appendizitis vor?

Schmittenbecher: Patienten mit unkomplizierter Blinddarmentzündung werden in aller Regel operiert, der Blinddarm wird entfernt, und die Patienten können nach wenigen Tagen die Klinik verlassen. Bei komplizierter Appendizitis wird primär antibiotisch behandelt, wenn das medizinisch vertretbar ist. Im weiteren Verlauf wird dann entschieden, ob sich eine Operation anschließen sollte oder ob darauf verzichtet werden kann.

DAZ: Bedeutet das zugleich, dass das derzeitige therapeutische Vorgehen im Fluss ist?

Schmittenbecher: Davon ist auszugehen. Die wissenschaftliche Lage hat sich durch die neuen Studienergebnisse verändert, aber die Daten sind noch nicht abgesichert. Es gibt deshalb derzeit noch keinen Grund, die bislang übliche Strategie zu ändern. Dies gilt umso mehr, als wir nicht durch einen breiten Antibiotika-Einsatz die Problematik der resistenten und multiresistenten Keime in den Kliniken noch verschärfen möchten.

DAZ: Wie sollten Eltern in dieser Hinsicht beraten werden, wenn sie beispielsweise in der Apotheke das Thema ansprechen?

Schmittenbecher: Die Entscheidung, ob operiert oder zunächst mit Antibiotika behandelt wird, kann nur der Kinderchirurg treffen. Er kennt die Laborbefunde und die Befunde der Bildgebung und kann die klinische Situation beurteilen. Es geht nicht darum, prinzipiell zu operieren oder Antibiotika zu geben. Vielmehr ist die Therapieentscheidung in jedem Einzelfall sorgfältig und mit kinderchirurgischer Kompetenz zu fällen.

DAZ: Herr Professor Schmittenbecher, vielen Dank für das Gespräch. |

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