Wirtschaft

Streit um den Sichtbezug

Wie soll die Leistung der Apotheke bezahlt werden? – Ein Schlagabtausch

Foto: imago images/Klaus Martin Höfer
Was viele Jahre als bevorzugte Regelversorgung durch den Arzt galt, ist bereits seit Längerem fester Bestandteil im Versorgungsalltag einiger Apotheken – der Sicht­bezug unter Aufsicht des Apothekers im Rahmen einer Substitutionstherapie. Doch das Thema wirft abrechnungstechnisch viele Fragen auf und führte in jüngster Vergangenheit auch zu Auseinandersetzungen zwischen Apothekerverbänden und Kostenträgern.

Die sinkende Zahl von Substitutionsärzten und das sucht­politische Ziel, die Patienten in ihrem gewohnten Umfeld zu integrieren, haben dazu geführt, dass die Versorgung von Opioid-Abhängigen durch Vor-Ort-Apotheken an Bedeutung gewonnen hat. Mittlerweile soll sich rund die Hälfte aller Versorgungsfälle in Apotheken abspielen.

„Klassische“ Abgabeformen in der Apotheke sind die Mit­gabe der Substitutionsmittel auf Take-Home- oder Z-Rezept. Eine weitere Variante ist der Sichtbezug in der Apotheke, bei dem der Patient das Substitutionsmittel zur unmittelbaren Einnahme erhält. Seit der letzten Novellierung der Betäubungsmittel-Verschreibungsverordnung (BtMVV) erlaubt sind auch sogenannte Mischrezepte. Das heißt, der Arzt verordnet auf einem Take-Home-Rezept zwar grundsätzlich die Mitgabe des Substitutionsmittels, ordnet aber zugleich für ein oder mehrere Tage den Sichtbezug in der Apotheke an. Was bei den Apothekern einerseits zur Freude über die (gefühlt) gewonnene Bedeutung im Versorgungsalltag geführt haben dürfte, wich auf der anderen Seite dem Frust über erste Retaxationen der erhofften Vergütung.

Die Honoraranpassung durch das GKV-Arzneimittelver­sorgungsstärkungsgesetz (AMVSG) vom 04.05.2017 für die Abgabe von Betäubungsmitteln nach § 7 Arzneimittelpreisverordnung (AM­PreisV) von vormals 0,26 Euro auf aktuell 2,91 Euro hätte eine annehmbare Vergütung je Sichtbezug nach § 5 Abs. 10 BTMVV darstellen können. Jedoch sehen die meisten gesetzlichen Krankenkassen lediglich die einmalige Abrechnung der BtM-Gebühr je verordneter Packung als rechtens an.

Der Deutsche Apothekerverband (DAV) und seine Mitgliedsverbände vertreten dagegen die Meinung, dass die Mehrfachabrechnung der BtM-­Gebühr im Sichtbezug aufgrund des entsprechend mehrfach anfallenden Dokumentationsaufwandes sachgerecht wäre.

Im folgenden Schlagabtausch möchten wir beide (mögliche) Sichtweisen – sowohl die der meisten Krankenkassen als auch die der Apothekerverbände zu Wort kommen lassen und die Argumentationen gegenüberstellen:

Autoren

Die mögliche Argumentation der meisten Krankenkassen hat für uns zusammengefasst :

» Dr. Dennis A. Effertz, LL. M.,Stu­dium der Pharmazie, Approbation als Apotheker, Promotion in Medizinwissenschaften, Masterstudium Medizinrecht, AMTS-Manager, www.dr-effertz.de






Die mögliche Argumentation der Apothekerverbände hat für uns zusammengefasst:

»Dr. Thomas Friedrich, Diplom-Jurist, seit 1999 Geschäftsführer des Apothekerverbandes Schleswig-Holstein und seit 2011 auch Geschäftsführer des Hamburger Apothekervereins

? In 50 Prozent der Versorgungsfälle verabreicht der Arzt dem Patienten das Substitutionsmittel, in den anderen rund 50 Prozent versorgt die Apotheke. Handelt es sich nun um eine ärztliche oder pharmazeutische (Dienst-)Leistung?

» Effertz: Das Betäubungsmittelrecht geht unstrittig vom Arzt als Verantwortlichen im Rahmen der Substitutionstherapie aus. Dies gilt für alle Varianten der Substitution (Sichtbezug, Take Home, Mischverordnungen). Die Apotheke wird nur ausnahmsweise unter den Voraussetzungen des § 5 Abs. 10 S. 2 Punkt 2 BtMVV (Sichtbezug) und § 5 Abs. 9 S. 8 BtMVV (Take Home und Mischform) in die direkte Versorgung des Patienten mit einbezogen. Der Regelfall – und vormalige Normalzustand – ist somit eine einmalige Abgabe des Betäubungsmittels durch den Arzt.

»Friedrich: Die betäubungsmittelrechtliche Erlaubnis für den Arzt zur Übertragung auf die Apotheke ändert nichts an der Tatsache, dass die Apotheke es ist, die den Patienten im sozialrechtlichen Sinne mit der Sach- und Dienstleistung des Sichtbezugs versorgt. Dazu hat sie die erforderliche Tagesdosis abzuteilen oder zuzubereiten und dem Patienten zu verabreichen sowie die Einnahmevoraussetzungen zu prüfen und die ordnungsgemäße Einnahme zu beaufsichtigen. Ein immanenter Bestandteil des Sichtbezugs ist die Dokumentation. Sie umfasst – wie bei jeder BtM-Abgabe – die Bestandsführung in der BtM-Kartei. Zusätzlich ist eine patientenbezogene Dokumentation über jede einzelne Sichtvergabe erforderlich, zu der auch das Abzeichnen durch den Patienten für die erhaltene Dosis gehört. Die Vergabepraxis in der Apotheke zeigt, wie wichtig diese Einnahmebestätigung ist.

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?Wie oft soll im Rahmen des Sichtbezuges denn die BtM-Gebühr durch die Apotheke abgerechnet werden dürfen?

» Effertz: Der GKV-Spitzenverband vertritt die Auffassung, dass die BtM-Gebühr im Sichtbezug lediglich einmalig abgerechnet werden darf, da die Gesamtzahl aller Einzel­abgaben als ein verordnetes Arzneimittel zu betrachten sei. Aufgrund der kürzlich erfolgten Anhebung der Honorierung sei dies jedenfalls angemessen. Auch handele es sich bei der Überwachung des Sichtbezuges durch den Apotheker um eine freiwillige Leistung, bei der der Arzt den Sichtbezug und die damit verbundene Dokumentation an den Apotheker auf Grundlage der notwendigen Vereinbarung nach § 5 Abs. 10 S. 2 Nr. 2 BtMVV delegiere. Eine mögliche Vergütung sei daher zwischen Arzt und Apotheker zu klären.

» Friedrich: Die etwas verkürzte Bezeichnung als BtM-Zuschlag oder auch BtM-Gebühr rührt daher, dass diese Vergütung in § 7 AMPreisV unter der Überschrift „Betäubungsmittel“ geregelt wird und lange Zeit nur für die Abgabe von Betäubungsmitteln und zwar in Höhe von 0,26 Euro galt. Mit der Anhebung der Vergütung 2017 auf 2,91 Euro wurde zugleich der Anwendungsbereich auf Verschreibungen auf T-Rezepten nach § 3a AMVV erweitert. Die AMPreisV in der vorherigen Fassung regelte im Übrigen die Vergütung für die Abgabe eines Betäubungsmittels, dessen Verbleib nach § 15 BtMVV nachzuweisen ist. Seit der Novelle heißt es an gleicher Stelle: dessen Verbleib nach § 1 Abs. 3 BtMVV nachzuweisen ist. § 15 BtMVV bezieht sich auf die Verwendung der amtlichen Formblätter, für die Apotheken die BtM-Kartei. Der nunmehr referenzierte § 1 BtMVV verlangt unter der Überschrift „Grundsätze“ in Absatz 3: „Der Verbleib und der Bestand der Betäubungsmittel sind lückenlos nachzuweisen: 1. in Apotheken …“ Die Tatsache, dass die AMPreisV nicht mehr nur auf die amtlichen Formulare verweist, sondern an den Grundsatz des lückenlosen Nachweises an sich anknüpft, ist bereits das entscheidende Indiz. Damit wird deutlich, dass jede Bestandsänderung, also auch die durch die tägliche Sichtvergabe, lückenlos, also einzeln, nachzuweisen ist.

? Was wird denn durch die BtM-Gebühr genau erfasst?

Effertz: Der Abverkauf aus der Warenwirtschaft im Rahmen des Arzneimittelversorgungsauftrages erfolgt auch im Falle eines Sichtbezuges in der Apotheke nur einmalig - nicht materiell an den Arzt, sondern fiktiv in den Patientenbestand unter der (Lagerungs-)Verantwortung des Arztes. Rein faktisch ist das Betäubungsmittel bereits nicht mehr Eigentum, sondern nur im Besitz des Apothekers. Vergütet wird somit die Dokumentation von Zu- und Abgang einer BtM-­Packungseinheit, da die vergütungsfähige Abgabe im Ergebnis auch im Sichtbezug nur einmalig erfolgt.

» Friedrich: Der Abrechnung pro tatsächlicher Abgabe eines Betäubungsmittels steht auch nicht die Fiktion entgegen, mit Beginn des Sichtbezugs werde das Substitutionsmittel in der Apotheke in den Patientenbestand überführt und dort gemäß § 5 Abs. 10 Satz 5 BtMVV unter der Verantwortung des Arztes gelagert. Allein die damit verbundene Bestandsänderung werde in der BtM-Kartei dokumentiert, und nur für sie gäbe es eine verbindliche Vorgabe. Sowohl das vom Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizin­produkte (BfArM) zur Verfügung gestellte Formular der „Patientenbezogenen Betäubungsmittel-Dokumentation“ als auch das entsprechende BAK-Formular sehen vor, dass jede erfolgte Sichtvergabe und damit Bestandsänderung in der Apotheke nachzuweisen ist, wie es § 13 Abs. 1 Satz 4 BtMVV ausdrücklich verlangt. Nur darauf kommt es nach dem Wortlaut der AMPreisV an.

? Wer ist für die Durchführung des Sichtbezuges verantwortlich und sollte dafür auch vergütet werden – Arzt oder Apotheker?

» Effertz: In der Praxis führt die zuvor vorgestellte „Abgabefiktion“ an dieser Stelle zur Notwendigkeit der Separierung der Ware vom Bestand i. V. m. der betäubungsmittelrechtlichen Dokumentation und der Abrechnung der Verordnung. Bei der anschließenden Überlassung und Beaufsichtigung im Sicht­bezug durch pharmazeutisches Fachpersonal nach Punkt 4 der (Muster)Vereinbarung zur Überlassung von Substitutionsmitteln zum unmittelbaren Verbrauch (Sichtbezug) im Rahmen der Substitutionstherapie in der Apotheke (s. Kasten) handelt es sich somit keinesfalls um die gebührenrelevante Abgabe eines Betäubungsmittels, da der formale Abgabeprozess bereits durch den warenwirtschaftlichen Abverkauf und den damit verbundenen Eigentumsübergang abgeschlossen ist. Vielmehr wird deutlich, dass die nun zusätzlich erforderliche betäubungsmittelrechtliche Dokumentation diejenige ist, die der Arzt nach § 13 Abs. 1 BtMVV patientenindividuell durchzuführen hätte und vorliegend vertragsbedingt auf den Apotheker übergegangen ist. Eben deshalb überträgt die o. g. Vereinbarung über Punkt 8 die Dokumentationspflicht des Arztes auf den Apotheker und enthält in Punkt 9 eine Regelung dazu, ob der Arzt die originär ihm obliegende und nun unter seiner Verantwortung vorgenommene Dokumentation selbst prüfen soll, oder die Apotheke ihm dies monatlich nachweisen muss. Eine Vermischung dieser zwar betäubungsmittelrechtlich vorgeschriebenen aber aufgrund des abweichenden Adressatenkreises zu differenzierenden Dokumentationsschritte wird zur Eskalation der gegenständlichen Streitigkeit beigetragen haben. Eine solch prozessorientierte Betrachtung steht auch nicht im Widerspruch zur Gesetzessystematik, da diese gemäß § 7 AMPreisV die Abgabe eines Betäubungsmittels aufgrund der betäubungsrechtlich erforderlichen Dokumentationsbemühungen zusätzlich mit 2,91 EUR vergütet, nicht jedoch die Überlassung „zum unmittelbaren Verbrauch“ nach § 5 Abs. 9 Satz 8 BtMVV. Bei dieser Differenzierung handelt es sich keineswegs um eine Bedeutungslosigkeit. Vielmehr trägt dies der oben geschilderten Prozessunterscheidung – gewollt oder ungewollt – Rechnung. Denn eine Vergütung für das eine hat grundsätzlich nicht die Vergütung auch für das andere zur Folge. Vielmehr entspricht es der ständigen Rechtsprechung des Bundessozialgerichts, wonach Abrechnungsvorschriften immer eng am Wortlaut unter Zuhilfenahme der Systematik auszulegen sind.

» Friedrich: Die BtMVV als Gesetz sowie die Formularvorschläge des BfArM und der BAK nehmen den Apotheker für die Dokumentation des Sichtbezuges in der Apotheke in die Pflicht. Dafür hat er den in § 7 AMPreisV geregelten Vergütungsanspruch in Höhe von 2,91 Euro. Daneben entsteht für die Dienstleistung der Sichtvergabe als Sachleistung durch den Apotheker ein weiterer, davon unabhängiger Vergütungsanspruch. Darum geht es, nicht um die Vermengung beider Vergütungsansprüche.

? Wie sollte die Vergütung der Apotheke für den geleisteten Sichtbezug denn aussehen?

» Effertz: Solange es sich beim Sichtbezug in der Apotheke um eine freiwillige Leistung der Apotheke – im Prinzip für den Arzt, der diese Leistung dem Patienten gegenüber schuldet – handelt, scheidet eine Vergütung über die einmalige Betäubungsmittelgebühr hinaus aus. Sofern durch die Leistungen der Apotheke Einsparungen auf der Ausgabenseite für das ärztliche Honorar bei gleichbleibender Versorgungsqualität ersichtlich würden, bedarf es eines entsprechenden Versorgungsvertrages über den Sichtbezug in Apotheken, über dessen Vergütungshöhe verhandelt werden muss.

» Friedrich: Notwendige Bestandteile einer Vergütung für die Apotheke sind die Vergütungen der Ware, gegebenenfalls der Zubereitung, der Abgabe und der Dokumentation. Für den eher seltenen Fall der Abgabe eines Substitutionsmittels als Fertigarzneimittelpackung gilt die AMPreisV wie für alle Rx-Arzneimittel. Weitaus häufiger sind Verschreibungen als Rezepturen, sei es als Lösung oder als ausgeeinzelte Tabletten. Für Teilbereiche dieser Versorgung haben der GKV-Spitzenverband und der DAV in den Anlagen 4 bis 7 der Hilfstaxe Vergütungs­tableaus vereinbart. Zwar bedarf auch dieser Bereich dringend der Nachbesserung, doch das soll hier nicht weiter vertieft werden. Nicht in der Hilfstaxe geregelt ist die Vergütung des Sichtbezugs in der Apotheke, sie bedarf also der gesonderten vertraglichen Regelung.

Foto: addiCare

? Wie ist zu bewerten, dass es eine vertragliche Vereinbarung zwischen Arzt und Apotheker über den Sichtbezug geben muss und diese auch von der Bundesapothekerkammer als Arbeitshilfe bereitgestellt wird?

» Effertz: Im Falle des Ausnahmetatbestandes nach § 5 Abs. 10 S. 2 Punkt 2 BtMVV übernimmt der Apotheker – vertraglich zwischen Arzt und Apotheker legitimiert – die Aufgabe des Arztes, den Sichtbezug zu überwachen und zu dokumentieren, wobei Letzterer in der Verantwortung bleibt. So spricht die Ärzteschaft folgerichtig von der Delegation des Sichtbezuges. Man sollte gedanklich von einer klassischen Delegation einer ärzt­lichen Leistung ausgehen, denn eine solche ist regelmäßig durch die Aufgaben-, nicht aber die Verantwortungsdelegation gekennzeichnet. Jedenfalls handelt es sich bei der Über­wachung des Sichtbezuges nicht um eine pharmazeutische Tätigkeit nach § 1a Abs. 3 ApBetrO. Denn bei letzteren pharmazeutischen Kompetenzen fallen Handeln und Haften (Verantwortung) zusammen.

Der notwendige Vertrag nach § 5 Abs. 10 S. 2 Nr. 2 BtMVV zwischen Arzt und Apotheker räumt dem Arzt konsequenterweise Kontrollmöglichkeiten bzgl. der Durchführung und Dokumentation ein bzw. der Apotheker übernimmt gegenüber dem Arzt die Gewähr für die ordnungsgemäße Erfüllung. Die klassischerweise notwendige Weisungs­befugnis im Delegationsverhältnis wird somit vertraglich substituiert.

Regionaler Versorgungsvertrag in Ba-Wü

In Baden-Württemberg existiert seit 2013 ein regionaler Versorgungsvertrag zwischen dem Landesapothekerverband (LAV) und den Primär- sowie Ersatzkassen zur Vergütung der Apotheken im Rahmen des Sichtbezuges. Über eine Sonder-PZN können für den entstehenden Mehraufwand 3,24 Euro zzgl. MwSt. je Sichtvergabe und Dokumentation unabhängig von der ärztlichen Vergütung mit der GKV abgerechnet werden. Damit liegt die vertragliche Vergütung über der BtM-Gebühr von 2,91 Euro.

» Friedrich: Gesetzlich Krankenversicherten wird der Anspruch auf suchtmedizinische Behandlung gemäß § 2 Abs. 2 Satz 1 SGB V grundsätzlich als Sach- und Dienstleistungsanspruch gewährt. An derselben Stelle heißt es in Satz 3: „Über die Erbringung der Sach­ und Dienstleistungen schließen die Krankenkassen … Verträge mit den Leistungserbringern.“ Solche Verträge sind stets öffentlich-rechtliche Verträge. Deshalb ist die Inpflichtnahme, dass Arzt und Apotheker in einem (zivilrechtlichen) Vertrag über die Durchführung des Sichtbezugs auch dessen Vergütung regeln sollen, systemwidrig. Ihnen stehen auf diesem Wege auch keine finanziellen Mittel der GKV zur Verfügung. Denn der Arzt darf seine Gebühren nach dem einheitlichen Bewertungsmaßstab (EBM, Tab. 1) nur geltend machen, wenn er die Leistung selbst im direkten Patientenkontakt erbringt. Schulungsunterlagen für die Erlangung der erforderlichen suchtmedizinischen Zusatzqualifikation weisen ausdrücklich darauf hin, dass selbst die Übertragung des Sichtbezuges auf die eigene medizinische Fachangestellte zur Folge hat, dass der Arzt die entsprechende Gebührenposition nicht abrechnen darf. Das gilt ebenso für die Übertragung an die Apotheke. Und dass der Arzt sie quasi aus seiner eigenen Tasche bezahlt, wird wohl niemand ernsthaft erwägen. Warum dasselbe aber vom Apotheker „erwartet“ wird, erschließt sich nicht. Auch die Tatsache, dass der Apotheker mit der betäubungsmittelrechtlichen Übernahme der Sichtvergabe einverstanden sein muss und sie in diesem Sinne freiwillig ausführt, ändert nichts an seinem eigenständigen sozialrechtlichen Vergütungsanspruch.

Tab. 1: Gebührenordnungspositionen nach dem einheitlichen Bewertungsmaßstab (EBM)
EBM 01949
EBM 01950
EBM 01951
EBM 01952
Take-Home-Vergabe
je Behandlungstag, max. 2 pro Woche
Sichtvergabe
je Behandlungstag
Zuschlag, Wochenende, Feiertage
je Behandlungstag
Zuschlag Therapiegespräch
max. viermal im Behandlungsfall
7,47 Euro
4,22 Euro
+ 8,98 Euro
+ 12,99 Euro

? Woher könnte das Geld zur Finanzierung kommen, wenn nicht über die BtM-Gebühr?

» Effertz: Unstrittig entsteht im Rahmen der Substitutionstherapie ein Mehraufwand. Dieser beschränkt sich jedoch nicht auf den derzeit streitgegenständlichen Dokumentationsaufwand, sondern auf alle vertraglich dem Patient/Arzt geschuldeten Leistungen. Beim Sichtbezug nach § 5 Abs. 9 Satz 8 BtMVV handelt es sich um eine freiwillige pharmazeutische Leistung, für die ein Honorar verlangt werden darf. Das Honorar ist nach Punkt 11 der Mustervereinbarung zwischen Arzt und Apotheker festzulegen. Damit hat bereits die Standesvertretung zum Ausdruck gebracht, woher die Vergütung eigentlich kommen müsste. Auch will die Verankerung der Vergütung im Innenverhältnis der Leistungserbringer und nicht im Außenverhältnis mit der GKV aufgrund der Vergütungssystematik einleuchten. Denn der beschriebene patientenindividuelle Dokumentationsaufwand der Einzelüberlassungen geht durch die Delegation der ärztlichen Leistung vom Arzt auf den Apotheker über. Für diese Behandlung (inkl. Sichtbezug und Dokumentation) erhält der Arzt eine EBM-Pauschale i. H. v. 4,22 Euro je Behandlungstag; ggf. zzgl. Wochenendzuschlag von 8,98 Euro (EBM-Ziffer ist 01950 bzw. 01951). Diese Werte können – unter Berücksichtigung des verbleibenden ärzt­lichen Aufwandes und seiner verbleibenden Verantwortung – als Orientierungswerte dienen. Außerdem zeigt der in Baden-Württemberg 2013 vom Landesapothekerverband (LAV) mit allen Krankenkassen geschlossene Vertrag, dass sich – zumindest in diesem Bundesland – Apotheker und Krankenkassen einig waren, dass eine Vereinbarung erforderlich sein dürfte, um die Leistung der Apotheke beim Sichtbezug rechtssicher vergüten zu können (s. Kasten). Dies bestätigt die Zweifelhaftigkeit der derzeitigen Forderungen zur Mehrfachabrechnung der BtM-Gebühr. Andererseits zeigt dieses Beispiel, wie sinnvoll und effektiv eine vertrauenswürdige Zusammenarbeit der Vertragspartner sein kann. So erspart diese Vereinbarung womöglich unangenehme Vertragsverhandlungen mit dem Arzt, die allerdings – nebenbei bemerkt – um den fehlenden gesetzlichen Vergütungs­anspruch der Apotheken wissen.

Download der Mustervereinbarung

Die Mustervereinbarung der Bundesapothekerkammer zum Sichtbezug finden Sie auf DAZ.online, wenn Sie im Suchfeld den Webcode Z4UX9 eingeben.

» Friedrich: Lange Zeit war eine Vergütung für den Sichtbezug in der Apotheke nirgends geregelt. Bisher gibt es nur in Baden-Württemberg den vom dortigen LAV mit allen Krankenkassen geschlossenen „Vertrag über die Abrechnung des Sichtbezuges in Apotheken“. Gleichgerichtete Verhandlungen mit den Primärkassen in Schleswig-Holstein treten dagegen seit Jahren auf der Stelle. Als Gegenargument bekommt man zu hören: „Dann würde das ja doppelt bezahlt“. Auf den Hinweis, dass es wohl ein Leichtes sei festzustellen, wer die Leistung tatsächlich erbracht hat, erfolgt das Eingeständnis: „Wir sind ja froh, wenn es die Ärzte überhaupt machen.“ Ach so? Ärzte dürfen auch abrechnen, wenn sie die Leistung nicht erbringen, Apotheken aber gar nicht! Schwerer wiegt dann schon das Argument, die Krankenkassen seien hier nicht in der Verantwortung, denn auch die BAK-Leitlinie sehe vor, dass in der Vereinbarung über die Übertragung der Sichtvergabe vom Arzt auf die Apotheke auch die Vergütung zu regeln sei. Doch dieses Argument verfängt nur auf den ersten Blick. Fragt man bei den Autoren der Leitlinie nach, erfährt man, dass dieser Hinweis nur darauf aufmerksam machen wolle, dass die Sichtvergabe durch den Apotheker überhaupt vergütet werden müsse. Das ist zwar gut gemeint, aber falsch adressiert und deshalb nur bedingt sachdienlich. Ebenfalls nur bedingt sachgerecht, obwohl im Ergebnis ein erfreulicher Schritt in die richtige Richtung, ist auch das Einlenken der AOK NordWest im Streit um die Häufigkeit der Geltendmachung des BtM-Zuschlags. „Ohne Anerkennung eines Rechtsgrundes“ hat sie in der Auseinandersetzung mit den Apothekerverbänden Westfalen-Lippe und Schleswig-Holstein erklärt, dass sie alle darauf bezogenen Retaxationen zurückzieht. Das Motiv scheint zu sein, dass der BtM-Dokumentationszuschlag in Höhe von 2,91 Euro als Surrogat für die Sichtvergabeleistung gedeutet wird, für die Ärzte mindestens 4,22 Euro erhalten. Hier wird ein gesetzlich verpflichtender Zuschlag gegen eine sozialrechtlich gebotene Vergütung „getauscht“. Da, wie bereits nachgewiesen, Ärzte ihre Vergütung bei Delegation nicht abrechnen dürfen, steht also mindestens die eingesparte Differenz für Vertragsverhandlungen zwischen den Krankenkassen und den Apothekerverbänden zur Verfügung. Im Ergebnis kann in einem solchen Vertrag dann vereinbart werden, dass pauschal mit der Vergütung der Sichtvergabe auch die patientenbezogene Dokumentation abgegolten wird. |

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