Arzneimittel und Therapie

Lidocain statt Glucose

Wie der Natrium-Kanalblocker bei oraler Einnahme gefährlich werden konnte

dm/cst | Lidocainhydrochlorid – mit dieser Substanz scheint die Glucose-Abfüllung aus einer Kölner Apo­theke, die zum tragischen Tod einer Schwangeren und ihres per Not­kaiserschnitt geborenen Kindes geführt hat, verunreinigt gewesen zu sein. Doch wie konnte der als Lokalanästhetikum bekannte Wirkstoff trotz seiner schlechten oralen Bioverfügbarkeit solch dramatische Auswirkungen haben?

Im Fall der mit Lidocainhydrochlorid verunreinigten Glucose-Abfüllung für einen Test auf Schwangerschafts­diabetes beim Gynäkologen wurde die Mischung aufgelöst in Wasser getrunken, das enthaltene Lidocain also oral eingenommen. Lidocain ist in Apotheken gut bekannt – mit Gefahr verknüpft man den Wirkstoff, der die spannungsabhängigen Natrium-Kanäle in den Zellmembranen von Nervenzellen blockiert, aber nicht unbedingt sofort. Denn die meisten dürften zunächst an seinen Einsatz als Lokalanästhetikum denken – also nicht an eine systemische Aufnahme.

Allerdings lässt sich Lidocain auch den Antiarrhythmika der Klasse Ib zuordnen, was einen ersten Hinweis auf seine (potenziell toxische) systemische Wirkung liefert. In dieser Indikation kommt Lidocain jedoch nicht oral, sondern intravenös zum Einsatz: Grund ist der hohe First-Pass-Effekt.

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Antiarrhythmikum mit arrhythmogenem Potenzial

Lidocain ist bei schwerwiegenden symptomatischen ventrikulären tachykarden Herzrhythmusstörungen indiziert, wenn diese lebensbedrohend sind (z. B. Xylocain® 2% Injektionslösung). Initial bewegt man sich dabei in einem Dosisbereich von 50 bis 100 mg Lidocainhydrochlorid i. v. Pro Stunde sollten nicht mehr als 200 bis 300 mg verabreicht werden. Lidocain-Dosierungen in diesem Bereich sollten bei ansonsten Gesunden also eher nicht toxisch sein. Allerdings bedarf die Einstellung einer sorgfältigen kardiologischen Überwachung und darf nur bei Vorhandensein einer kardiologischen Notfallausrüstung sowie der Möglichkeit einer Monitorkontrolle erfolgen, denn Lidocain kann Arrhythmien auch verstärken.

Vielseitiges Lokalanästhetikum

Tatsächlich ist Lidocain in öffentlichen Apotheken in seiner Anwendung als Lokalanästhetikum deutlich gängiger als in seinem Einsatzgebiet als intravenös verabreichtes Antiarrhythmikum. Der Wirkstoff ist in zahlreichen topischen (Creme, Gel, Salbe, Pflaster, Spray) sowie rektalen Darreichungsformen enthalten. Auch in oral angewendeten Präparaten wie Lutschtabletten und Pastillen ist Lidocain zu finden. Die Indikationen sind äußerst vielseitig. So wird Lidocain beispielsweise zur Oberflächenanästhesie vor operativen Eingriffen oder Nadeleinstichen (z. B. Emla® Pflaster, Lido­Galen® Creme) eingesetzt. Auch zur Behandlung von Hämorrhoiden (z. B. Jelliproct® Salbe/Zäpfchen) und der Ejaculatio praecox (z. B. Fortacin® Spray) kommt es infrage. In Präparaten zur Behandlung von Schmerzen im Mundbereich (z. B. Dynexan® Mundgel), als Zahnungshilfe (z. B. Dentinox®-Gel N Zahnungshilfe) und in Halsschmerz­tabletten (z. B. Trachilid®, Lemocin®, Loca­stad®) ist das Lokalanästhetikum in der Selbstmedikation beliebt. In Trachi­lid® Halsschmerztabletten sind beispiels­weise 8 mg Lidocainhydrochlorid enthalten. Als Tageshöchst­dosis für Erwachsene werden hier sechs Tabletten (= 48 mg) angegeben.

Wann wird es toxisch?

Laut Fachinformation der Xylocain® 2% Injektionslösung kann Lidocain bei eingeschränkter Leber- oder Nierenfunktion kumulieren und so das Risiko von toxischen Wirkungen erhöhen. Lidocain wird hauptsächlich in der

Leber metabolisiert und über die Nieren ausgeschieden. Eine gleichzeitige Behandlung mit Arzneimitteln, die Substrate, Inhibitoren oder Induktoren von Cytochrom-P-450 1A2 (CYP1A2) oder Cytochrom-P-450 3A4 (CYP3A4) sind, kann die Metabolisierung und damit die Plasmakonzentration von Lido­cain und dessen Wirkung ebenso beeinflussen. So kann die gleichzeitige Behandlung von Patienten mit Xylocain 2% und Propranolol beispielsweise zu einem Anstieg des Lidocain-Plasmaspiegels um circa 30% führen. Welcher Dosisbereich toxisch wirkt, kann sich von Patient zu Patient also durchaus unterscheiden. Zudem sind in seltenen Fällen auch immer allergische Reaktionen (in den schwersten Fällen ein anaphylaktischer Schock) auf ein Lokalanästhetikum vom Amidtyp möglich.

Verwechslungsgefahr?

Eigenschaften von Lidocainhydrochlorid und Glucose nach Europäischem Arzneibuch:

Lidocainhydrochlorid-Monohydrat:

  • weißes bis fast weißes, kristallines Pulver
  • sehr leicht löslich in Wasser
  • leicht löslich in Ethanol 96%

Glucose bzw. Glucose-Monohydrat:

  • weißes bis fast weißes, kristallines Pulver
  • leicht löslich in Wasser
  • sehr schwer löslich in Ethanol 96%

Wie viel Lidocain müsste in die Glucose gelangt sein?

Erste toxische Effekte auf das zentrale Nervensystem wurden laut Fachinformation nach intravenösen Dosierungen von 3 bis 5 mg/kg und subkutanen Dosierungen von 30 bis 50 mg/kg gesehen. Als Grenzdosis, unterhalb derer die Anwendung als sicher gilt, wird für Lidocain bei i. m.-Injektion 4 mg/kg Körpergewicht angegeben.

Bei einer 60 kg schweren Frau könnten also zwischen 180 mg und 300 mg – die im Blut ankommen – toxisch wirken. Bei einem ungeborenen Kind müssten – angenommen es wog bereits 3000 g – zwischen 9 und 15 mg Lidocain im Kreislauf angekommen sein.

Vom Gastrointestinaltrakt an sich wird Lidocain gut absorbiert. Allerdings nimmt die Konzentration des Wirkstoffs bereits bei der ersten Leber­passage stark ab („First-Pass­Effekt“). Das Lidocain, das in den Blutkreislauf gelangt, verteilt sich rasch in Lunge, Leber, Gehirn und Herz. Später erfolgt eine Speicherung im Muskel- und Fettgewebe.

Die orale Bioverfügbarkeit von Lidocain wird bei Personen zwischen 20 und 34 Jahren mit 13% (4 bis 21%) angegeben. Im Alter von 73 bis 87 Jahren soll sie 27% (12 bis 52%) betragen. Informationen des Pharmakovigilanz- und Beratungszentrums für Embryonaltoxikologie der Charité-Universitätsmedizin Berlin zufolge liegt die orale Bioverfügbarkeit von Lidocain bei 35%. Angenommen, in die Glucose-Abfüllung aus der Kölner Apotheke wären 900 mg Lidocain gelangt, wären bei dieser Bioverfügbarkeit 315 mg Lidocain im Blutkreislauf der Mutter angekommen, also eine potenziell toxische Dosis. Da in Glucose-Toleranztests 50 oder 75 g Glucose enthalten sind, erscheint eine Kontamination in dieser Größenordnung durchaus vorstellbar. Hinzu kommt, dass Schwangere besonders anfällig gegenüber Lokalanästhetika sein können. Dies legen Studien zu Bupivacain nahe. Die Plasma­eiweißbindung soll sich für Bupivacain in der Schwangerschaft verringern und so der Anteil des freien Pharmakons steigen. Der Wirkstoff soll allerdings erheblich stärker kardiotoxisch sein als beispielsweise Lidocain.

Lidocain passiert die Plazenta rasch – wahrscheinlich, wie die Blut-Hirn-Schranke, durch passive Diffusion. Das Verhältnis der embryofetalen Dosis gegenüber der mütterlichen Serum­konzentration beträgt 0,4 bis 1,3. Bei Neugeborenen mit hohen Plasmakonzentrationen kann Lidocain eine Dämpfung des zentralen Nervensystems (ZNS) bewirken. Aufgrund der geringen Enzymaktivität besteht bei Neugeborenen zudem die Gefahr einer Methämoglobinämie. Daten über eine begrenzte Anzahl von exponierten Schwangeren liefern keinen Hinweis auf kongenitale Effekte durch Lidocain. Tierexperimentelle Studien haben aber Reproduktionstoxizität gezeigt.

Symptome einer Lidocain-Intoxikation

Bei einer Überdosierung von Lidocain kann es zu folgenden Symptomen kommen:

  • schwere Hypotension
  • Asystolie
  • Apnoe
  • Krampfanfälle
  • Koma

Ein tödlicher Verlauf ist nicht auszuschließen.

Die kardiovaskuläre Toxizität gilt als die am meisten gefürchtete Komplikation bei der Anwendung als Lokalanästhetikum. Die zentralnervösen Nebenwirkungen (Unruhe, Verwirrtheit, Schwindel, Ohren­sausen, Somnolenz, Bewusst­losigkeit, Krämpfe) sollen den kardialen aber grundsätzlich vorausgehen und so als Warnsignale dienen. Herzstillstände durch Intoxikation gelten als schwer reanimierbar, weil Pharmaka aus dem Myokard nur sehr langsam ausgewaschen werden.

Gefahren bei lokaler Anwendung

Könnten auch lokale Darreichungs­formen wie das Dynexan Mundgel® gefährlich werden? Laut Fachinformation können systemische Wirkungen bei sehr ungünstigen Resorptionsverhältnissen wie einer stark traumatisierten Mundschleimhaut nicht völlig ausgeschlossen werden. Bisher seien aber keine Intoxikationen nach Anwendung des Mundgels bekannt. Bedingt durch die verzögerte Freisetzung aus der Gel-Grundlage und die rasche Metabolisierung des Lidocains sei bei der empfohlenen Anwendungshäufigkeit und Menge nicht mit einer systemischen oder gar toxischen Wirkung zu rechnen.

Und doch: Gerade bei Kindern gab es in der Vergangenheit bereits Hinweise auf (tödliche) Gefahren durch Lido­cain, allerdings im Ausland.

2014 warnte die US-amerikanische Arzneimittelbehörde FDA davor, viskose, 2%-ige Lidocain-Lösungen gegen Zahnungsbeschwerden bei Babys und Kleinkindern einzusetzen. Bei Überdosierungen und durch versehentliches Verschlucken kann Lidocain laut FDA zu Krampfanfällen, schweren Hirnschäden und Herzproblemen führen. Von insgesamt 22 analysierten Zwischenfällen endeten damals sechs mit dem Tod, drei weitere wurden als lebensbedrohlich eingestuft, elf führten zur Hospitalisierung, zwei konnten ambulant behandelt werden. |

Literatur

Aktories K et al. Allgemeine und spezielle Pharmakologie und Toxikologie: Begründet von W. Forth, D. Henschler, W. Rummel. 11. Auflage, 2013. Urban Fischer Verlag

Fachinformation Xylocain® (Lidocain) 2% Injektionslösung. Stand November 2017

Fachinfo Xylocain® (Lidocain) Pumpspray dental. Stand November 2017

Marquardt H, Schäfer SG, Barth H. Toxikologie. 4. Auflage, 2019. Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft Stuttgart

Lidocain. www.embryotox.de

Fachinformation Emla® (Lidocain, Prilocain) Creme. Stand November 2017

Stahl V. Methämoglobinämie durch Lokalanästhetika: Todesfälle durch unsachgemäße Anwendung. DAZ 2012, Nr. 39, S. 42

Fachinformation Trachilid® (Lidocain) Halsschmerztabletten. Stand November 2014

Rote Liste. www.rote-liste.de

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