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Recht
Kulanz versus Null-Retax
Gericht verurteilt Krankenkasse zu ermessensfehlerfreier Entscheidung
Worum ging es? Eine Apothekerin aus Thüringen versorgte seit Oktober 2013 eine GKV-versicherte Patientin mit dem Arzneimittel Palexia® (Tapentadol). Zumindest ab September 2016 wurde das Opioidanalgetikum in der Dosierung 250 mg zu 100 Stück als Retardtabletten verordnet – unter Überschreitung der zulässigen Höchstmengen (§ 2 Abs. 2 Satz 2 Betäubungsmittel-Verschreibungsverordnung – BtMVV). Das Rezept musste also mit einem „A“ gekennzeichnet sein. Doch das war es nicht immer. Was der Apothekerin nicht auffiel, merkte die Krankenkasse bei einer stichprobenartigen Überprüfung. Zunächst monierte sie zwei solcher Verordnungen vom September und Oktober 2016, später zwei weitere vom Januar und März 2017. Sie retaxierte jeweils den zunächst verauslagten Preis von 649,25 Euro je Packung und rechnete die Summe entsprechend mit späteren Forderungen der Apothekerin auf.
Die Pharmazeutin erhob daraufhin Einspruch und beantragte, die Retaxierung aus Kulanzgründen zurückzunehmen. Die Verantwortung über die Angabe „A“ auf einem BtM-Rezept liege beim verschreibenden Arzt, argumentierte sie. Zudem habe die Ärztin ihr gegenüber nochmals den Verordnungswunsch ausdrücklich bestätigt – allerdings erst, nachdem sie die Rezepte bedient hatte.
Die Kasse half dem Einspruch nicht ab. Die erforderliche Kennzeichnung sei nicht vorgenommen worden, und es handele sich auch nicht um einen unbedeutenden formalen Fehler, hielt sie der Apothekerin entgegen. Es gehöre zur Prüfungs- und Sorgfaltspflicht der Apotheke, die Verordnungen bei Vorlage und Belieferung auf ordnungsgemäße Ausstellung und stimmige Angaben zu überprüfen. Eine Unstimmigkeit, die von der Apotheke erst durch ihre Abrechnungskorrektur erkannt worden sei, könne nicht durch eine nachträglich ausgestellte Ersatzverordnung oder Bestätigung der verordnenden Ärztin behoben werden. Auch der Rahmenvertrag sehe eine nachträgliche Heilung dieses Mangels nicht vor, so die Kasse.
Das trieb die Apothekerin zu einer Klage, in der sie die Zahlung von 2597 Euro zzgl. Verzugszinsen verlangte. Vor Gericht führte sie ergänzend aus, dass es sich beim vergessenen „A“ um einen unbedeutenden Fehler handele, da die Arzneimittelsicherheit und auch die Wirtschaftlichkeit der Versorgung nicht wesentlich tangiert seien. Die Retaxierung sei daher rechtswidrig. Zudem gebe es im Rahmenvertrag vom Juni 2016 die Regelung, wonach die Krankenkasse aus Kulanzgründen von der Retaxierung Abstand nehmen könne. Doch eine solche Kulanzentscheidung, die die genauen Umstände des Falls berücksichtigt, sei niemals erfolgt.
Mit ihrer Klage vor dem Sozialgericht Nordhausen konnte die Apothekerin ihr Zahlungsbegehren jedoch nicht durchsetzen. Tatsächlich lägen Verstöße gegen die BtMVV sowie die Apothekenbetriebsordnung (§ 17 Abs. 5 Satz 2) vor, urteilte das Gericht. Die Apothekerin hätte mit der Ärztin Rücksprache nehmen müssen. Auch der Rahmenvertrag helfe nicht weiter: Die genannten Verstöße seien keine unbedeutenden formalen Fehler.
Dafür hatte die Apothekerin Erfolg mit ihrem hilfsweise gestellten Antrag: Die Richter verurteilten die Kasse, über den Kulanzantrag der Klägerin ermessensfehlerfrei neu zu entscheiden. Denn der Rahmenvertrag besagt, dass der Vergütungsanspruch der Apotheke auch entstehen kann, wenn die Kasse im Einzelfall entscheidet, die Apotheke trotz eines Formfehlers ganz oder teilweise zu vergüten. Diese Regelung erkläre zwar nicht ausdrücklich, in welcher Form und in welchen Fällen eine solche Einzelfallentscheidung zu erfolgen habe oder erfolgen könne. Doch das Gericht legt sie nach ihrer Entstehungsgeschichte und ihrem Sinn und Zweck aus: Demnach hat eine Apotheke einen vertraglichen Anspruch auf ermessensfehlerfreie Einzelfallentscheidung der Krankenkasse. Denn im Hinblick auf die bislang strenge Rechtsprechung der Sozialgerichte bis zum Jahr 2016 sollte diese Regelung im Rahmenvertrag nach dem Willen von DAV und GKV-Spitzenverband die Möglichkeit eröffnen, im Einzelfall von einer Beanstandung abzusehen, obwohl sie dazu gemäß vertraglicher Vorgaben berechtigt wären.
Würde man die Regelung anders verstehen, könnten Kassen ohne Überprüfungsmöglichkeit durch die Gerichte nahezu willkürlich entscheiden, ob sie von einer Retaxierung ganz oder teilweise Abstand nehmen. Das könne von den Vertragsparteien „kaum so gewollt gewesen sein“ und würde letztlich auch zu einem Leerlaufen und damit zu einer Sinnentfremdung der Vorschrift führen, so das Gericht.
Im vorliegenden Fall sieht das Gericht einen „eindeutigen Ermessensfehler in Form eines sog. Ermessensnichtgebrauchs“. Nun muss die Kasse bei der Ermessensentscheidung laut Gericht berücksichtigen, dass die Patientin seit 2013 durchgängig mit Palexia® versorgt wurde, kein wirtschaftlicher Schaden entstanden ist und keine unsachgemäße oder falsche Behandlung erfolgte. |
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