Pandemie Spezial

Beatmungsplätze gesichert – Sedativa und Narkotika Fehlanzeige?

Ein Gespräch zur Lieferengpass- und Versorgungssituation in deutschen Kliniken

du | Anästhesisten warnen medienstark in der Bild-Zeitung, dass das für die Beatmung von Patienten wichtige Propofol knapp wird, Klinikapotheken ringen um die Beschaffung von weiteren wichtigen Medikamenten wie Midazolam und Sufentanil. Darüber hinaus wurden öffentliche Apotheken von der Landesapothekerkammer Baden-Württemberg aufgefordert, sich ausreichend mit Morphin und sedierenden Medikamenten zu bevorraten, damit schwer erkrankte COVID-19-Patienten auch ambulant behandelt werden können. Der große Verteilungswettkampf eskaliert weiter. Wie lässt sich vor diesem Hintergrund die sowieso schon von Engpässen geplagte Arzneimittelversorgung in Krankenhäusern gewährleisten? Wie kann eine gerechte Verteilung sichergestellt werden?

Prof. Dr. rer. nat. Hans-Peter Lipp

Darüber haben wir mit Prof. Dr. Hans-Peter Lipp, Chefapotheker des Universitätsklinikums Tübingen, gesprochen. Er warnt vor unkontrollierten Bestellungen und Hamsterkäufen. Er sieht aber auch die Pharmazeutischen Hersteller in der Pflicht, zum einen Kontingentierungen in der Arzneimittelbelieferung vorzunehmen, zum anderen aber auch die Gegebenheiten vor Ort – insbesondere in den COVID-19-Behandlungszentren – besser zu verstehen und produktiv zu berücksichtigen.

DAZ: Herr Professor Lipp, die Sorge, dass das wichtige Kurzzeitnarkotikum Propofol und für die Beatmung notwendige Sedativa knapp werden, treibt Anästhesisten wie für die Versorgung zuständige Apotheker gleichermaßen um. Wie ist die Lage?
Lipp: Der Propofol-Markt ist schon seit Jahren angespannt. Dass nun in bestimmten Medien eine apokalyptische Dramatik inszeniert wird, schürt nur das Risiko immenser Bevorratungen, da unter diesen Vorzeichen jeder versucht, sich der Nächste zu sein. Am Ende entsteht dieselbe Situation, wie wir es vom Toilettenpapier her kennen. Die einen sehen einigermaßen beruhigt auf ihre gefüllten Lager, die anderen wissen nicht, wie sie ihre wöchentlichen Bestellmengen organisiert bekommen. In der COVID-19-Krise kommt erschwerend hinzu, dass in den Beatmungsplätzen ein deutlich ­erhöhter Propofol-Bedarf besteht, so dass die pharmazeutischen Hersteller bereits begonnen haben, die Produktionen für Propofol im Mehrschichtbetrieb hochzufahren. Allerdings ist jedem klar, dass dieser Prozess nicht nur kurzfristig einen höheren Bedarf an Propofol als Rohstoff, sondern auch an Fettemulsionen als Trägerlösung, Glasflaschen zur Abfüllung etc. bedeutet, und nicht von heute auf morgen umgesetzt werden kann.

Der Propofol-Markt ist schon seit Jahren angespannt. Dass nun in bestimmten Medien eine apokalyptische Dramatik inszeniert wird, schürt nur das Risiko immenser Bevorratungen, da unter diesen Vorzeichen jeder versucht, sich der nächste zu sein. Am Ende entsteht dieselbe Situation, wie wir es vom Toilettenpapier her kennen.

DAZ: Wie sieht denn die Situation bei Ihnen am Uniklinikum Tübingen aus?
Lipp: Um in konkreten Zahlen zu sprechen: die Anästhesiologische Intensivstation benötigt üblicherweise ca. 200 Flaschen Propofol 1% 50 ml alle drei Tage. Im Rahmen der betreuten 35 Beatmungsplätze sind es mittlerweile ca. 1000 Fl. alle drei Tage! Zwar reduzierte sich durch die Verschiebung von elektiven Eingriffen an anderer Stelle der Propofol-Bedarf, jedoch kompensiert diese Senkung nicht den Mehrbedarf im Rahmen der Behandlung schwerer, lebensbedrohlicher COVID-19-Fälle. Im Vorfeld wurde gemeinsam mit den Anästhesiologen auch über Alternativen diskutiert, wie Sevofluran oder Thiopental, Propofol bleibt aber für viele Fälle Mittel der ersten Wahl. Solche Diskussionen wurden auch auf andere Arzneimittelgruppen ausgeweitet, wie z. B. Hydromorphon versus Morphin, oder Esketamin versus Ketamin, um nur einige Beispiele zu nennen.

DAZ: Schätzen Sie, dass die Arzneimittelvorräte in Krankenhäusern absehbar aufgebraucht sein werden?
Lipp: Diese Frage ist vielschichtig. Zunächst dürfen wir die Arzneimittellogistik in Krankenhäusern nicht mit der zu Schutzkleidungen und FFP-Masken vergleichen, da es sich hierbei nicht um eine präventive Versorgung vieler Beteiligter in der Breite handelt. Zum anderen haben wir es durch ein diszipliniertes Verhalten in der pharmazeutischen Logistik selbst in der Hand, die jetzige Situation weiter eskalieren zu lassen oder nicht. Inwieweit die Befürchtung eintreffen wird, dass Standorte wie Wuhan als Rohstoffzentren für z. B. Metamizol völlig wegbrechen werden, ist derzeit unklar, direkte Auswirkungen sind aktuell in der Versorgung nicht zu ­erkennen.

Die pharmazeutische Industrie muss mit Augenmaß die Steuerung von Bestellmengen und Mehrverbräuchen koordinieren, aber - wie am Beispiel Propofol – die Produktionen vorübergehend deutlich steigern, bis sich die ­COVID-19-Pandemie wieder anders darstellt.

DAZ: Nun hat ja das BfArM Maßnahmen angeordnet, um einer Ungleichverteilung von wichtigen Arzneimitteln entgegenzuwirken. In Klinikapotheken und Klinik-versorgenden Apotheken darf der Vorrat für spezielle COVID-19-Therapien den Bedarf von acht Wochen nicht überschreiten, der für andere Therapien nicht den von vier Wochen. Müssen Sie Ihre Planung umstellen?
Lipp: Zunächst ist diese Anordnung zu begrüßen, wenn dadurch tatsächlich auf beiden Seiten, den Apotheken einerseits und der pharmazeutischen Industrie andererseits, klar gemacht wird, dass es jetzt nicht an der Zeit ist, ohne Sinn und Verstand einen Bedarf an Medikamenten für mehrere Monate zu bestellen bzw. auszuliefern. Gerade bei kostengünstigeren Fertigarzneimitteln ist in diesem Zusammenhang die Versuchung besonders groß. Wie man sich bei entsprechenden Verstößen die „Bekanntgabe durch die Bundesoberbehörde“ vorzustellen hat, ist mir in der Durchdringung noch nicht ganz klar. Dass sich derzeit Firmen bei Kontingentierungen und Teillieferungen von z. B. Krebsmedikamenten (!) u. a. auf „BfArM-Kontingentierungen“ berufen, führt vor Ort zu erheblicher Verunsicherung, da in diszipliniert agierenden Häusern planbare Bestellrhythmen festgelegt wurden, so dass Abweichungen davon zunächst zu einer deutlichen Mehrarbeit vor Ort führen. Solche Aussagen werden deshalb in unserem Haus bis auf Weiteres dokumentiert.
Strikt abzulehnen ist ein Eingriff übergeordneter Behörden in das direkte operative Geschäft einer Krankenhausapotheke oder Krankenhaus-versorgenden Apotheke vor Ort (z. B. akute Streichung einer geplanten Bestellmenge). Eine solche Intervention könnte – ohne Hintergrundwissen – zu einer Patientengefährdung führen und ein juristisch und medienwirksames Organisationsverschulden nach sich ziehen, das der Verursacher zu verantworten hätte.

Strikt abzulehnen ist ein Eingriff übergeordneter Behörden in das direkte operative Geschäft einer Krankenhausapotheke oder Krankenhaus-versorgenden Apotheke vor Ort (z. B. akute Streichung einer geplanten Bestellmenge). Eine solche Intervention könnte – ohne Hintergrundwissen – zu einer Patientengefährdung führen und ein juristisch und medienwirksames Organisationsverschulden nach sich ziehen, das der Verursacher zu verantworten hätte.

DAZ: Noch einmal zu den speziellen, bei COVID-19 eingesetzten Arzneimitteln. Der Run auf schon in anderen Indikationen zugelassene Hoffnungsträger wie Chloroquin, Hydroxychloroquin oder auch Lopinavir/Ritonavir (Kaletra®) ist groß. Wie soll hier eine gerechte Verteilung gelingen?
Lipp: Durch den STAKOB (Ständiger Arbeitskreis der Kompetenz- und Behandlungszentren für Krankheiten durch hochpathogene Erreger) wurden bereits Lieferungen an Hydroxychloroquin- und Lopinavir/Ritonavir-haltigen Fertigarzneimitteln an Apotheken der entsprechenden STAKOB-Krankenhäuser – davon 16 Uniklinika – veranlasst (ca. 2500 Tabletten pro ­Lieferung). Beide Präparate stehen ­bekanntlich auch handelsüblich zur Verfügung. Zunächst ist aber festzuhalten, dass es sich nicht um „Wunderwaffen Gottes“, sondern vielmehr um Produkte handelt, von denen wir bisher nicht wissen, ob sie tatsächlich einen positiven Nutzen bei COVID-19 haben oder nicht bzw. ob sie sogar durch ihr Nebenwirkungsspektrum mehr schaden als nutzen. Die aktuellen Studienergebnisse zu Lopinavir/Ritonavir bei COVID-19 sind doch mehr als ernüchternd! Einige Klinik­apotheken sprechen sich deshalb für eine Weitergabe nur unter Studienbedingungen aus, da eine unkontrollierte Salvage-Therapie – um im Einzelfall nichts unversucht zu lassen – aufgrund des heterogenen Patientenkollektivs wenig Erkenntnisgewinn mit sich bringen dürfte. Aus übergeordneter Sicht will man aber Patienten solche Therapien wiederum nicht vorenthalten. Erwartet werden auch Importarzneimittel wie Foipan, Avigan oder Chloroquin, die aber allesamt die gleichen Fragen zur COVID-19-Behandlung aufwerfen!

Nicht über den normalen Bedarf hinaus

Maßnahmen des BfArM zur Sicher­stellung der Versorgung.

Gemäß den dem BfArM vorliegenden Informationen findet aktuell verstärkt eine übermäßige Bevorratung bei einzelnen Marktteilnehmern mit Arzneimitteln statt, die in direkter Folge zu einer Ungleichverteilung führt. Um dieser Ungleichverteilung entgegenzuwirken, werden die pharmazeutischen Unternehmer und der pharmazeutische Großhandel aufgefordert, Arzneimittel nicht über den normalen Bedarf hinaus zu beliefern.

Zur Sicherstellung einer bedarfsgerechten Arzneimittelversorgung ist eine Belieferung an öffentliche Apotheken, Krankenhausapotheken und Kranken­haus-versorgende Apotheken sowie an den pharmazeutischen Großhandel in dem nachfolgend beschriebenen Umfang einzuhalten:

Öffentliche Apotheken:

  • Durch den pharmazeutischen Großhändler (pharmazeutischen Großhandel bzw. pharmazeutischer Unternehmer) ist die ordnungsgemäße Versorgung der Apotheken in Deutschland zur gesetzlichen Mindestbevorratung von einer Woche (§ 15 Abs. 1 ApBetrO) sicherzustellen.
  • Die Belieferung mit Arzneimitteln soll auf der Basis der Abgabemengen des Vorjahres erfolgen.
  • In begründeten Fällen kann der pharmazeutische Großhändler auch von den Abgabemengen des Vorjahres abweichen, sofern dies zur Sicherstellung der gesetzlichen Mindestbevorratung der Apotheke gemäß § 15 Abs. 1 ApBetrO erfolgt und nicht der Überbevorratung dient.

Krankenhausapotheken und Krankenhaus-versorgende Apotheken:

  • Bei Arzneimitteln, die im Zusammenhang mit der Corona-Pandemie angewendet werden, soll die Bevorratung den durchschnittlichen Bedarf von acht Wochen nicht überschreiten.
  • Für alle anderen Arzneimittel soll die Bevorratung den durchschnittlichen Bedarf von vier Wochen nicht überschreiten.

Pharmazeutischer Großhandel:

  • Von den pharmazeutischen Unternehmern ist die ordnungsgemäße Versorgung des pharmazeutischen Großhandels zur gesetzlichen Mindestbevorratung von zwei Wochen gemäß § 52b Abs. 2 AMG sicherzustellen.
  • Die Belieferung des pharmazeutischen Großhandels mit Arzneimitteln soll auf der Basis der Liefermengen des Vorjahres erfolgen.
  • In begründeten Fällen kann die Belieferung des pharmazeutischen Großhandels auch von den Abgabemengen des Vorjahres abweichen, sofern dies zur Sicherstellung der gesetzlichen Mindestbevorratung des pharmazeutischen Großhandels gemäß § 52b Abs. 2 AMG erfolgt und nicht der Überbevorratung dient.

Die gewählten Beschränkungen, insbesondere die gewählten Bevorratungszeiträume sind notwendig und angemessen. Diese Anordnung berücksichtigt zum einen die aktuell stark erhöhte Nachfrage und zum anderen die Notwendigkeit der prioritären Versorgung von Krankenhäusern und Krankenhaus-versorgenden Apotheken mit Arzneimitteln in dem erforderlichen Umfang. Abweichungen von dieser allgemeinen Anordnung können zur Sicherstellung der ordnungsgemäßen Arzneimittelversorgung von den zuständigen Bundesoberbehörden bekannt gegeben werden.

Die vorgenannten Maßnahmen unterstützen die vom Bundesministerium für Gesundheit bereits eingeleiteten Maßnahmen zu einer bedarfsgerechten Verordnung und Abgabe von Arzneimitteln.

Das BfArM behält sich vor, zusätzlich zu dieser allgemeinen Anordnung auch noch spezifische Regelungen zu treffen, wenn dieses für die bedarfsgerechte Arzneimittelversorgung in Deutschland erforderlich ist.

Die vorgenannten Maßnahmen gelten für den Zeitraum der Corona-Pandemie und enden automatisch mit dem Ende der Corona-Pandemie. Der Zeitpunkt der Beendigung der Anordnung wird vom BfArM mitgeteilt.

DAZ: Herr Professor Lipp, kurz zusammengefasst, was ist Ihr Appell an die Politik und Ihre Kollegen in Kliniken und den Apotheken vor Ort?
Lipp: Hamsterkäufe wie beim Toilettenpapier darf es im Arzneimittelmarkt nicht geben! Als Angehörige eines Heilberufs müssen sich alle Beteiligte ihrer Verantwortung für eine angemessene Arzneimittelversorgung aller Patienten im Klaren sein. Die Anordnungen des BfArM sind nachvollziehbar, müssen aber auch gelebt werden. Weitergehende Eingriffe des BfArM bis hin in das operative Geschäft eines jeden Krankenhauses sind nicht hilfreich. Die pharmazeutische Industrie muss mit Augenmaß die Steuerung von Bestellmengen und Mehrverbräuchen koordinieren, aber – wie am Beispiel Propofol – die Produktionen vorübergehend deutlich steigern, bis sich die COVID-19-Pandemie wieder anders darstellt. In diesem Zusammenhang wäre es dann angebracht, auch die vorbildlichen Akteure der pharmazeutischen Industrie in die Riege der Heldinnen und Helden mit aufzunehmen. ­Ihnen allen an dieser Stelle frohe und gesegnete Ostertage!

DAZ: Herr Professor Lipp, wir danken Ihnen für das Gespräch! |

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