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Beratung

Es kribbelt und krabbelt

Was hinter Empfindungsstörungen stecken kann

Es stört und strapaziert unsere Nerven, wenn es irgendwo kribbelt, pickst, sich pelzig anfühlt, brennt oder taub ist. Oft sind diese Empfindungen harmlos. Hinter dem unangenehmen, manchmal auch schmerzhaften Gefühl kann jedoch eine ernst­-hafte Erkrankung oder eine Arzneimittelnebenwirkung stecken. | Von Daniela Leopoldt 

Unter dem Begriff Empfindungsstörungen (Sensibilitätsstörungen, Missempfindungen) werden in der Regel Taubheitsgefühle, Störungen des Berührungs- und Druckempfindens, des Hitze- oder Kälteempfindens, des Schmerzempfindens oder auch des Vibrationsempfindens zusammengefasst. Insbesondere bei länger anhaltenden und häufig wiederkehrenden Missempfindungen kann sich, meist zur Beunruhigung der Betroffenen, eine ernsthafte Erkrankung dahinter verbergen. Das muss aber nicht so sein, denn es gibt zahlreiche Ursachen für diese Störungen (siehe Kasten „Mögliche Ursachen“).

Mögliche Ursachen

Zu den zahlreichen Ursachen von Empfindungsstörungen gehören zum Beispiel:

  • Polyneuropathien z. B. infolge von Diabetes mellitus, Alkoholmissbrauch, Vitamin-B-Mangel oder -Überschüsse, Arzneimittelnebenwirkungen oder Vergiftungen
  • infektiöse Nervenschädigungen z. B. bei Gürtelrose, Herpes, Borreliose, Lepra
  • mechanische Nervenschädigungen z. B. durch Verletzung oder Einengung wie beim Karpaltunnelsyndrom, Bandscheibenvorfall oder raumfordernde Tumore
  • Verbrennungen der Haut mit Nervenschädigungen
  • Durchblutungsstörungen
  • Schlaganfall
  • Anämie
  • Migräne
  • Allergien
  • Restless-Legs-Syndrom
  • psychische Erkrankungen wie Angst- und Panikstörungen
  • neurologisch degenerative Erkrankungen z. B. multiple Sklerose, Morbus Parkinson
  • andere Erkrankungen des ZNS z. B. Epilepsien
  • Störungen des Elektrolythaushaltes (z. B. Calcium- oder Magnesium-Mangel)

Empfindungs- oder Sensibilitätsstörungen gehen vielmals von peripheren Nerven aus. Sie können ihren Ursprung aber auch im Zentralnervensystem haben oder psychischer Natur sein. Je nach Art, Lokalisation und/oder Verteilungsmuster der Sensibilitätsstörung lassen sich in der Regel Rückschlüsse auf die Ursache der Störung ziehen.

Nicht selten führen Empfindungsstörungen zu Einschränkungen im Alltag und zu einer verminderten Lebensqualität. So kommt es z. B. bei Taubheitsgefühlen in Füßen und Beinen zu Gangunsicherheit und eingeschränkter Beweglichkeit. Ein gestörtes Temperaturempfinden oder ein verminderter Tastsinn führen dazu, dass bestimmte Signale der Umwelt einschließlich kleinerer Verletzungen nicht mehr wahrgenommen werden können. Das erhöht das Risiko für zusätzliche Verletzungen bzw. für eine unbemerkte Verschlimmerung kleinerer Läsionen. Schmerzhafte und nicht schmerzhafte unangenehme Missempfindungen führen zudem oft zu Unruhe und Schlafproblemen. Das wiederum hat eine zusätzlich psychische Belastung zur Folge.

Polyneuropathien als Ursache

Eine der zahlreichen Ursachen für Empfindungsstörungen sind Polyneuropathien, bei denen es sich um generalisierte Erkrankungen des peripheren Nervensystems handelt [1]. Ihnen wiederum liegen mehr als 500 Ursachen zugrunde. Polyneuropathien gehören zu den häufigsten Erkrankungen des peripheren Nervensystems, insbesondere bei älteren Menschen. Dabei spielen auch altersassoziierte Veränderungen des peripheren Nervensystems eine große Rolle. So zeigt z. B. das Berührungsempfinden im Alter eine zunehmend höhere Schwelle und die Wahrnehmung von Körperlage und -bewegung im Raum (Propiozeption) lässt aufgrund reduzierter Mechanorezeptoren in Gelenken und Haut nach [2]. Als Folge erreichen weniger Schmerzsignale das Gehirn. Viele Polyneuropathien treten jedoch altersunabhängig im Rahmen von Systemerkrankungen wie z. B. Diabetes mellitus, Alkoholmissbrauch, chronische Niereninsuffizienz, Tumorerkrankungen, Virusinfektionen, Vitaminmangel oder -überdosierung oder auch im Rahmen von Arzneimittel­nebenwirkungen auf. Lässt sich keine Ursache feststellen, wie in etwa bei einem Drittel aller Fälle, spricht man von einer kryptogenen sensiblen (Poly-)Neuropathie.

Minus- und Plussymptome

Neben autonomen und motorischen Leitsymptomen sind Polyneuropathien durch sensible Leitsymptome gekennzeichnet, die häufig auch die ersten Symptome der Neuropathien darstellen. Dazu gehören Missempfindungen wie Pelzigkeits- und Taubheitsgefühle, Kribbeln („Ameisenlaufen“), Wärme- und Kälteparästhesien, Brennschmerz, Stechen und Elektrisieren. Aufgrund der gestörten Wahrnehmung bestimmter Reize können sie mit Ungeschicklichkeiten und Koordinationsstörungen verbunden sein. Häufiges Stolpern zum Beispiel könnte ein erstes Anzeichen für eine Polyneuropathie sein. Meist geht eine Polyneuropathie mit reduzierten Eigenreflexen einher, und in Kombination mit einer Sensibilitätsminderung für Vibrationen oder Nadelstiche ist dies ein sensitives und spezifisches Zeichen für die Diagnose einer Polyneuropathie. In der Fachwelt unterscheidet man zwischen sogenannten Negativ- bzw. Minussymptomen, die mit sensiblen Defiziten einhergehen und Positiv- bzw. Plussymptomen, die sich durch (brennende) Schmerzen, plötzlich einschießende Schmerzattacken oder gesteigerte Schmerzempfindungen äußern (siehe Kasten „Unterscheidung negativer und positiver sensibler Symptome“) [3].

Unterscheidung negativer und positiver sensibler Symptome

Negativsymptome mit reduzierter Empfindung:

  • Hypästhesie: reduzierte Empfindung nicht schmerzhafter Reize
  • Pallhypästhesie: reduzierte Empfindung von Vibrationsreizen
  • Hypalgesie: reduzierte Empfindung schmerzhafter Reize
  • Thermhypästhesie: reduzierte Empfindung von Wärme- oder Kältereizen

Positivsymptome: spontane Empfindungen

  • Parästhesie: nicht schmerzhafte, anhaltende kribbelnde Empfindung
  • Dysästhesie: unangenehme Missempfindung
  • einschießende Schmerzattacke: sekundenlang anhaltende elektrisierende Schocks
  • oberflächlicher Schmerz: schmerzhafte, anhaltende oft brennende Empfindung

Positivsymptome: evozierter Schmerz

  • mechanisch-dynamische Allodynie: normalerweise nicht schmerzhafter, leichter Reiz auf der Haut löst Schmerz aus (s. Abb. 1)
  • mechanisch-statische Allodynie: normalerweise nicht schmerzhafter, leichter statischer Druck auf der Haut löst Schmerz aus
  • mechanische Pin-Prick-Allodynie (Hyperalgesie): normalerweise leicht stechender, nicht oder nur leicht schmerz­hafter Reiz auf der Haut löst (stärkeren) Schmerz aus (s. Abb. 2)
  • Kälte-Allodynie (Hyperalgesie): normalerweise nicht oder nur leicht schmerzhafter Kältereiz auf der Haut löst (stärkeren) Schmerz aus
  • Hitze-Allodynie (Hyperalgesie): normalerweise nicht oder nur leicht schmerzhafter Wärmereiz auf der Haut löst (stärkeren) Schmerz aus

nach der Leitlinie „Diagnose und nicht interventionelle Therapie neuropathischer Schmerzen“, DGN 2019 [3]

Foto: Deutscher Forschungsverbund Neuropathischer Schmerz DFNS

Abb. 1: Gestörte Berührungswahrnehmung Schon leichteste Berührungsreize z. B. mit einem Wattebausch oder einem Pinsel, die beim Gesunden keinen Schmerz auslösen, werden bei einer Allodynie als schmerzhaft empfunden.

Foto: Deutscher Forschungsverbund Neuropathischer Schmerz DFNS

Abb. 2: Beim Pin-Prick-Verfahren werden Nadelreize mithilfe stumpfer Nadeln verabreicht. Die stumpfen Nadeln können durch ihr variables Gewicht unterschiedliche Reizempfindungen bis hin zum spitzen piksenden Schmerz erzeugen, ohne die Haut zu verletzen. Auf diese Weise lassen sich die mechanische Schmerzschwelle und Schmerzsensitivität untersuchen.

Therapieerfolge abhängig von Ursachen und frühzeitiger Diagnose

Je nach Ursache kann eine Polyneuropathie akut (≤ vier Wochen, z. B. Guillain-Barré-Syndrom) oder subakut (vier bis acht Wochen, z. B. Vaskulitis) verlaufen und zu den neurologischen Notfällen gehören. Zu den chronischen Verlaufsformen (> acht Wochen) gehören z. B. die diabetischen und alkohol-assoziierten Polyneuropathien wie auch hereditäre Neuropathien. Polyneuropathien sind meist behandelbar, aber Therapieerfolge und therapeutische Optionen hängen in großem Maße von den Ursachen und einer rechtzeitigen Diagnose ab. Die Prüfung aller sensiblen Qualitäten im Rahmen einer gründlichen Diagnostik ermöglicht eine Beurteilung der Funktionen der Nervenfasern und Eingrenzung geschädigter Areale. Während Schmerz und Temperatur über dünn- und unmyelinisierte Fasern geleitet werden, sind myelinisierte Fasern bei der Weiterleitung taktiler Reize, Lagesinn, Vibration und Muskeleigenreflexe verantwortlich. Bei den meisten Formen der Polyneuropathien sind sowohl die myelinisierten als auch die unmyelinisierten Fasern betroffen [4, 5].

Diabetische Polyneuropathie

Der Diabetes mellitus, bei dem periphere Nerven durch einen zu hohen Zuckergehalt bzw. Zuckerabbauprodukte im Blut geschädigt werden, stellt eine der häufigsten Ursachen von Polyneuropathien dar. Besonders oft sind die Füße betroffen. Die Prävalenz von Polyneuropathien bei Diabetikern nimmt mit dem Alter zu und mehr als die Hälfte der Diabetiker, die über 60 Jahre alt sind, leidet an einer diabetischen Polyneuropathie. Diese kann sich in unterschiedlichen Erscheinungs- und Ausprägungsformen äußern. Bei der am häufigsten auftretenden distalen symmetrischen sensibel betonten Neuropathie kommt es anfangs zu strumpfförmigen Parästhesien und infolge oft zu einer verminderten Wahrnehmung von Vibration, Berührung und Druck sowie zu einer reduzierten Schmerzwahrnehmung. Nicht selten kommt es zu Läsionen, weil der Druck der Schuhe nicht mehr wahrgenommen werden kann. Später können motorische Ausfälle bis hin zu Lähmungen sowie autonome Störungen (z. B. orthostatische Dysregulation, ausbleibende Schweißsekretion) hinzukommen [2].

Arzneimittel und Toxine als Auslöser von Polyneuropathien

Die Liste neurotoxischer Arzneimittel ist lang (Beispiele siehe Tabelle). Medikamentös ausgelöste Neuropathien können langsam und zunächst unbemerkt einsetzen oder aber rasch und heftig. In der Regel sind sie abhängig von Dosis und Dauer der Therapie. Oft, aber nicht in allen Fällen, bessern sich die Symptome nach Absetzen der auslösenden Arzneimittel oder verschwinden ganz wieder. Der zugrunde liegende Mechanismus der Schädigung ist meistens unbekannt [6].

Tab.: Beispiele für Arzneimittel, die Empfindungsstörungen auslösen können [Sommer c et al., Galeazzi R, Fachinformationen]
Wirkstoffgruppe
Wirkstoff
Präparat (Beispiel)
beschriebene Nebenwirkung
Häufigkeit laut Fachinformation
Antiinfekta (Antibiotika, Virostatika, Antimykotika)
Chloroquin
Resochin® Tabletten
Par- und Dysästhesien
gelegentlich
periphere Neuropathie und Polyneuropathie, Juckreiz
selten
Dapson
Dapson-Tillomed® Tabletten
periphere Neuropathie
gelegentlich
Thalidomid
Thalidomide Celgene®Hartkapseln
periphere Neuropathie, Parästhesie, Dysästhesie
sehr häufig
Isoniazid
Isozid® Tabletten
periphere Polyneuropathie mit Parästhesien, Sensibilitätsstörungen
häufig
Metronidazol
Arilin® Tabletten
periphere Neuropathien
gelegentlich
Nitrofurantoin
Uro-Tablinen®
periphere Polyneuropathie mit Parästhesien, Sensibilitätsminderung (Hypästhesie, Hypothermästhesie)
sehr selten
Ciprofloxacin und andere (Fluor-) Chinolone
Ciprobeta® Filmtabletten
Par- und Dysästhesie, Hypästhesie
selten
Gangunsicherheit
sehr selten
periphere Neuropathie und Polyneuropathie
nicht bekannt
Ethambutol
EMB-Fatol® Tabletten
Parästhesien, Juckreiz
häufig
Ganciclovir
Cymeven® Pulver zur Herstellung einer Injektionslösung
periphere Neuropathie, Parästhesie, Hypästhesie
häufig
Foscarnet
Triapten® Antiviralcreme
Kribbeln, Juckreiz, leichtes Brennen
selten
Griseofulvin
Griseo-CT® Tabletten (außer Vertrieb)
Parästhesien, periphere Neuritiden
häufig
Amphotericin B
Amphotericin B® Pulver zur Herstellung einer Injektionslösung
neurologische Symptome, periphere Neuropathie, Juckreiz
nicht bekannt
Ritonavir und andere antiretrovirale Medikamente
Ritonavir Mylan® Filmtabletten
orale und periphere Parästhesien, periphere Neuropathie, Juckreiz
sehr häufig bis häufig
Immunsuppressiva/Immunmodulatoren (einschließlich Immuncheckpoint-Inhibitoren und andere Chemotherapeutika)
Vinblastin, Vincristin und andere Vinca-­Alkaloide
Vinblastinsulfat Teva®Injektionslösung
Parästhesien
häufig
Taubheitsgefühle, periphere Neuritis
selten
neurogene Schmerzen, periphere Neuropathie
nicht bekannt
Cisplatin
PlatiCept® Pulver
periphere Neuropathie
selten
Oxaliplatin
Oxaliplatin Hexal® Konzentrat zur Herstellung einer Injektionslösung
periphere sensorische Neuropathie, sensorische Störungen
sehr häufig
Tacrolimus
Protopic® Salbe
Tacrolimus® Hartkapseln
Parästhesie, Dysästhesie (Hyper­ästhesie, Brennen)
häufig
Lenalidomid
Revlimid® Hartkapseln
Parästhesie
sehr häufig
periphere (sensorische) Neuropathien einschließlich Polyneuropathien
häufig
Bortezomib
Velcade® Pulver zur Herstellung einer Injektionslösung
periphere Neuropathien einschließlich sensorischer Neuropathien, Dysästhesie, Neuralgie
sehr häufig
Methotrexat
Methotrexat-Gry® Injektionslösung
Metex® Tabletten
Parästhesie, Juckreiz
häufig
Nivolumab
Opdivo® Konzentrat zur Herstellung einer Infusionslösung
periphere Neuropathie, Polyneuropathie,
häufig bis gelegentlich
Juckreiz
sehr häufig
Ipilimumab und andere
Yervoy® Konzentrat zur Herstellung einer Infusionslösung
periphere sensorische Neuropathie
häufig bis gelegentlich
Antirheumatika
Leflunomid
Leflunomid Aristo®Film­tabletten
Parästhesie, periphere Neuropathie
häufig
Penicillamin
Metalcaptase® magensaftresistente Tabletten
Vitamin-B6-Mangelzustände
nach länger dauernder Therapie
Gichtmittel
Allopurinol
Zyloric® Tabletten
periphere Neuritis, Neuropathie, Parästhesie
Einzelfälle
Colchicin
Colchicum-Dispert®über­zogene Tabletten
brennende Haut
gelegentlich
kardiovaskuläre Arzneimittel
Amiodaron
Amiodaron-Stada® Tabletten
periphere sensorische Neuropathie, Parästhesie
gelegentlich
Flecainid
Flecainid-1A-Pharma®Tabletten
Parästhesien, Hypästhesien, periphere Neuropathie
selten
Dronedaron
Multaq® Filmtabletten
Juckreiz
häufig
Hydralazin
Tri-Normin® Filmtabletten (Kombinationspräparat)
Corvo® Tabletten, Captohexal®Tabletten
häufig
Enalapril, Captopril und andere ACE-Hemmer
Corvo® Tabletten, Captohexal® Tabletten
Parästhesien
gelegentlich
Amlodipin, Nifedipin und andere Calcium-­Antagonisten
Amlo Tad Besilat®, Adalat®retard, Retardtabletten
Hypästhesien, Parästhesien, Dysästhesien
gelegentlich
periphere Neuropathien
sehr selten
Simvastatin, Atorvastatin und andere Statine
Zocor® Filmtabletten, Atoris® Filmtabletten
Parästhesien, Hypästhesien, periphere Neuropathien
gelegentlich bis selten
ZNS-wirksame Medikamente
Phenytoin
Phenhydan® Injektionslösung, Infusionskonzentrat, Tabletten
Polyneuropathien
dosisabhängig, bei Langzeittherapie
Lithium
Quilonum® retard Retard­tabletten
herabgesetzte periphere Nerven­leitungsgeschwindigkeit (sensorisch und motorisch)
nicht bekannt
Amitriptylin
Amitriptylin-neuraxpharm® überzogene Tabletten
Polyneuropathien
sehr selten
Imipramin
Imipramin-neuraxpharm® Filmtabletten
Parästhesien (Taubheitsgefühl, Kribbeln)
gelegentlich
Polyneuropathien
Einzelfälle
Levodopa (L-Dopa)
Dopadura® Tabletten
Parästhesien (z. B. Kribbeln und Einschlafen der Glieder)
häufig
Taubheitsgefühl
nicht bekannt
Vitamine
Vitamin B6
Milgamma® Filmtabletten
periphere sensorische Neuropathie
nicht bekannt, bei Langzeittherapie (über sechs Monate)
nichtsteroidale Antiphlogistika
Diclofenac
Voltaren® Dolo Filmtabletten
Empfindungsstörungen
sehr selten
Celecoxib
Celebrex® Hartkapseln
Parästhesien
gelegentlich
Protonenpumpeninhibitoren
Omeprazol
Antra Mups® magensaftresistente Tabletten
Parästhesien
gelegentlich
Pantoprazol
Rifun® magensaftresistente Tabletten
Parästhesien
nicht bekannt

 

Chemotherapie-induzierte Neuropathien stehen unter anderem aufgrund der steigenden Anzahl an Tumorerkrankungen und vieler neuartiger Substanzen in der Tumorbehandlung im Vordergrund. So handelt es sich beispielsweise bei den Immun-Checkpoint-Inhibitoren (z. B. Ipilimumab, Nivolumab und Pembrolizumab) um eine völlig neue Substanzklasse, deren Vertreter mitunter zu einer unkontrollierten Immunantwort führen können. Schwere Polyneuropathien einschließlich dem lebensbedrohlichen Guillain-Barré-­Syndrom sind beschrieben worden. Während die durch Chemotherapeutika induzierten Polyneuropathien lange bekannt sind, wurde in der jüngeren Vergangenheit aber auch über diverse andere Arzneimittel berichtet, die Polyneuropathien auslösen können. Das betrifft z. B. die vielfach eingesetzten Statine, die nach Langzeitanwendung in seltenen Fällen reversible sensible und sensomotorische Polyneuropathien hervorrufen können. Generelle Vorsicht ist geboten, wenn beim Patienten bereits Nervenschädigungen bestehen und/oder bestimmte Risikofaktoren wie z. B. Diabetes mellitus, Alkoholismus oder eine chronische Nierenerkrankung vorliegen. Hier sollte eine engmaschige Überwachung insbesondere bei langfristigen Therapien und bei Neueinführung oder Dosisanpassung einer Medikation erfolgen. Vor allem bei einer Multimedikation, die insbesondere bei älteren, schwer und chronisch kranken Personen häufig vorkommt, ist auf Arzneimittelwechsel­wirkungen zu achten. Neben zahlreichen Arzneimitteln ver­ursachen auch viele Umweltgifte wie z. B. Arsen, Blei, Quecksilber, Thallium, Lösungsmittel, z. B. Trichlorethylen, und Pestizide Polyneuropathien [1, 5, 6, 7].

Medikamentös induzierter Vitamin-B-Mangel

Sowohl Mangel als auch Überdosierung von B-Vitaminen können Parästhesien auslösen. Hier spielen in erster Linie die Vitamine B1 (Thiamin), B6 (Pyridoxin) und B12 (Cobalamin) eine Rolle. Insbesondere bei älteren Patienten kommt es vor, dass aufgrund von Mangelernährung oder Resorptionsstörungen eine Hypovitaminose mit Empfindungs­störungen auftritt. Darüber hinaus können einige Arzneimittel den Bedarf an B-Vitaminen erhöhen und auf diesem Wege zu Empfindungsstörungen führen. Pyridoxin-Antagonisten wie Hydralazin und Isoniazid beispielsweise führen zu einem erhöhten Bedarf an Vitamin B6, weshalb Vitamin B6 häufig substituierend verordnet wird. Drei bis vier Prozent aller unklaren Neuropathien lassen sich auf einen Vitamin-B12-Mangel zurückführen. Selbst Vitamin-B12-­Spiegel im niedrig-normalen Bereich können Neuro­pathien auslösen (funktioneller Vitamin-B12-Mangel). Ein Vit­amin-B12-Mangel kann z. B. bei Parkinsonpatienten auftreten, die über längere Zeit L-Dopa einnehmen. Hier ist gezeigt worden, dass die Höhe der L-Dopa-Dosierung mit dem Schweregrad der Polyneuropathie korreliert [2, 4, 7].

Durchblutungsstörungen

Eine mit Empfindungsstörungen in Zusammenhang stehende ernsthafte Erkrankung stellt die periphere arterielle Verschlusskrankheit dar, bei der es sich um eine Atherosklerose der meist unteren Extremitäten handelt. Bei der auch als „Schaufensterkrankheit“ bezeichneten Erkrankung ist die Versorgung der Beine mit Sauerstoff und Nährstoffen nicht mehr gewährleistet, was unter anderem unangenehme bis schmerzhaft brennende Gefühle in den Beinen zur Folge hat. Auch Tumore können auf Blutgefäße drücken und so Durchblutungsstörungen und damit verbundene Empfindungsstörungen auslösen. Eine eher harmlose Störung, die fast jeder schon einmal erfahren hat, liegt bei sogenannten „eingeschlafenen“ Gliedmaßen vor. Früher hat man dafür Durchblutungsstörungen verantwortlich gemacht. Nach neueren Erkenntnissen sind es eher abgeklemmte Nerven, die für das Kribbeln und Taubheitsgefühl sowie die nadelstichartigen Schmerzen beim „Erwachen“ zuständig sind [8]. Verharrt man zu lange in einer bestimmten Position, kann es passieren, dass Blutgefäße und/oder Nerven „abgeklemmt“ werden. Eine Unterversorgung der entsprechenden Region ist die Folge. Ein Lagewechsel ermöglicht ein Wiedereinsetzen der Reizweiterleitung und eventuell auch eine verbesserte Durchblutung, die Symptome verschwinden. Kommen eingeschlafene Gliedmaßen häufiger vor, halten länger an oder lassen sich nicht auf eine bestimmte Körperhaltung zurückführen, sollte die Ursache auf jeden Fall ärztlich abgeklärt werden.

Mechanische Nervenschädigungen

Gequetschte, eingeklemmte oder anderweitig mechanisch beschädigte Nerven sorgen für eine Unterbrechung oder Einschränkung der Reizweiterleitung in die durch diese Nerven innervierten Regionen. Das ist z. B. bei einem Karpaltunnelsyndrom oder einem Bandscheibenvorfall der Fall. Diese sind oftmals mit starken Schmerzen, mitunter sogar mit Lähmungserscheinungen verbunden. Auch ein sich ausbreitender Tumor kann zunehmend hohen Druck auf ihn umgebende Nerven ausüben und diese schädigen. Weitere mögliche Ursachen für Nervenschädigungen sind Sportverletzungen oder Unfälle, bei denen es auch zu einer Durchtrennung bestimmter Nerven kommen kann. Dies hat dann Taubheitsgefühle und/oder andere Missempfindungen in den betroffenen Regionen zur Folge.

Infektiöse Nervenschädigungen

Bei den viralen Nervenschädigungen nimmt z. B. die Familie der Herpesviren mit Herpes simplex Typ 1 (Lippenherpes) und Typ 2 (Genitalherpes) oder Varizella zoster (Windpocken und Gürtelrose) eine große Rolle ein. Einmal infiziert, lauern die Viren in den Nervenendigungen und warten auf eine Reaktivierung. Die Gründe für einen Ausbruch sind nicht immer klar, aber in der Regel wird zumindest teilweise ein geschwächtes Immunsystem dafür verantwortlich gemacht. Missempfindungen wie Kribbeln, Jucken oder Brennen gehören zu den ersten Anzeichen eines erneuten Virenausbruchs. Auch viele HIV-positive Patienten leiden aufgrund von viralen Nervenschädigungen unter Schmerzen, Kribbeln und Taubheitsgefühlen bis hin zu Lähmungs­erscheinungen. Sowohl Hepatitis-E- als auch Zika-Viren können das gefährliche Guillain-Barré-Syndrom verursachen. Andere Viren mit potenziell nervenschädigenden Eigenschaften sind z. B. Grippe-Viren, Hepatitis-A- und -C-Viren sowie Paramyxo-Viren, die Masern und Mumps auslösen.

Von den bakteriellen Erregern sind beispielsweise die durch Zecken auf den Menschen übertragbaren Borrelien zu nennen, das Corynebacterium diphteriae (Erreger der Diphtherie), einige Salmonellen-Arten oder auch das Mycobacterium leprae, der Erreger von Lepra, bei der unter anderem Taubheitsgefühle in Fingern und Füßen erste Zeichen einer Erkrankung sind. Im fortgeschrittenen Stadium verlieren Leprakranke dann auch das Gefühl für Kälte, Wärme und Schmerz [1].

Dissoziierte und dissoziative Sensibilitätsstörungen

Neben den quantitativen (z. B. Anästhesie, Hypästhesie, Hyperästhesie) und qualitativen (z. B. Parästhesie, Dys­ästhesie) gibt es noch die dissoziierten und dissoziativen Sensibilitätsstörungen [9]. Die beiden letzteren, sehr unterschiedlichen Arten von Empfindungsstörungen sind nicht zu verwechseln. Während dissoziierte Sensibilitätsstörungen rein physisch verursacht sind und eindeutig auf eine Erkrankung des Hirnstamms oder des Rückenmarks hinweisen, handelt es sich bei den dissoziativen Sensibilitätsstörungen um rein psychische Erkrankungen.

Bei der dissoziierten Sensibilitätsstörung sind lediglich Schmerz- und Temperaturempfindungen an einer Körperstelle – meist auf einer Körperhälfte – gestört. Das Berührungsempfinden ist dabei intakt, kann jedoch auf der anderen Körperhälfte (der Seite des eigentlichen Schadens) beeinträchtigt sein. Es entsteht eine Dissoziation zwischen Oberflächensensibilitätsstörungen auf der Seite des Schadens und einer Störung des Schmerz- und Temperaturempfindens auf der Gegenseite. Da sie häufig auf der körperlichen Gegenseite zu einer motorischen Störung (kontralateral) lokalisiert sind und oft nur zufällig bemerkt werden, muss nach den dissoziierten Empfindungsstörungen gezielt gesucht werden. Ansonsten besteht die Gefahr von Verbrennungen, Verbrühungen, Erfrierungen oder anderen Verletzungen, da Betroffene die warnenden Schmerzsignale nicht wahrnehmen [10].

Patienten mit dissoziativen Sensibilitätsstörungen dagegen haben ein vermindertes Empfindungsvermögen auf der Haut und/oder der Seh-, Hör- oder Riechsinn ist eingeschränkt. Dem Verlust der Hautempfindung liegt in dem Fall keine organische Ursache wie z. B. eine Nervenschädigung zugrunde, sondern er ist ausschließlich psychisch bedingt. Die Ursache dafür sind meist unverarbeitete traumatische Erlebnisse [11].

Therapie von Empfindungsstörungen und neuropathischen Schmerzen

Treten Missempfindungen dauerhaft oder des Öfteren auf, sollte dies unbedingt ärztlich abgeklärt werden. Der Hausarzt ist hierbei die erste Adresse. Eine gründliche und zielgerichtete Diagnostik ist essenziell, da sich die spezifische Therapie nach den Ursachen richtet. Dabei sollten alle Möglichkeiten einer kurativen/kausalen Therapie ausgeschöpft werden, wie z. B. optimale Diabeteseinstellung im Fall einer diabetischen Neuropathie. Aufgrund der zahlreichen Arzneimittel, die Empfindungsstörungen auslösen können, muss auch eine ausführliche Arzneimittelanamnese durchgeführt werden. Darüber hinaus ist die Erfassung des Alkohol- und Drogenkonsums wichtig.

Bei der symptomatischen Therapie stehen vor allem die neuropathischen Schmerzen im Vordergrund. Das Ziel der Behandlung ist eine Reduktion der Schmerzintensität, eine Verbesserung der Schlaf- und Lebensqualität sowie die Erhaltung der Arbeitsfähigkeit und sozialer Aktivitäten [3, 4].

Für die Therapie neuropathischer Schmerzen stehen verschiedene Arzneimittel zur Verfügung. In der aktuellen Leitlinie „Diagnose und nicht interventionelle Therapie neuropathischer Schmerzen“ werden empfohlen:

  • Mittel der 1. Wahl: Antikonvulsiva mit Wirkung auf neuronale Calciumkanäle (Gabapentin, Pregabalin), tri- und tetrazyklische Antidepressiva (z. B. Amitriptylin, Imipramin und Clomipramin) und der selektive Serotonin-/Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmer Duloxetin (zugelassen nur zur Behandlung diabetischer Neuropathien)
  • Mittel der 2. Wahl: topische Therapien bei umschriebenen Schmerzarealen mit Lidocain-5%- oder Capsaicin-8%-Pflastern
  • Mittel der 3. Wahl: schwach wirksame µ-Opioid-Rezeptor­agonisten und Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmer wie Tramadol sowie hochpotente Opioide (Vorsicht: Gewöhnung und Missbrauch), bei fokal begrenzten Beschwerden in spezialisierten Zentren und im Off-Label-Einsatz auch Botulinumtoxin.

Auf einen Blick

  • Kribbeln (Ameisenlaufen), Brennen, Jucken, Pelzigkeit und Taubheitsgefühl sind Ausdruck von Empfindungs- bzw. Sensibilitätsstörungen.
  • Der Ausgangspunkt der Missempfindungen kann im zentralen oder peripheren Nerven­system liegen.
  • Manchmal sind Empfindungsstörungen auch psychisch bedingt.
  • Zu den zahlreichen Ursachen gehören Polyneuropathien, z. B. infolge von Diabetes mellitus, Alkoholismus, Arzneimittelnebenwirkungen, Vitaminmangel oder -überdosierung.
  • Arzneimittel aus diversen Wirkstoffgruppen können Empfindungsstörungen auslösen.
  • Neben der spezifischen Therapie orientiert sich die Therapie an den Symptomen.

Aufgrund des eher gering ausgeprägten Effekts und einer hohen Nebenwirkungsrate werden Cannabinoide nicht empfohlen. Ebenso wenig sollten Nicht-Opioidanalgetika (NSAR, COX-2-Inhibitoren, Paracetamol, Metamizol) eingesetzt werden, da diese bei neuropathischen Schmerzen kaum wirksam sind. Andere Wirkstoffe wie z. B. Carbam­azepin, Oxcarbazepin, Lamotrigen (off label) und Venlafaxin (off label) können aufgrund geringer Evidenz und/oder häufiger Nebenwirkungen nicht generell empfohlen, jedoch im Einzelfall erwogen werden. Auch für eine generelle Empfehlung der Alpha-Liponsäure ist die Evidenzlage nicht ausreichend. Ein Effekt bei der diabetischen Polyneuropathie kann jedoch nicht ausgeschlossen werden. Kombinationstherapien ermöglichen dabei die Reduktion von Einzeldosen und synergistische Effekte [3].

Während Taubheitsgefühle medikamentös in der Regel nicht beeinflusst werden können, werden gegen das unangenehme Kribbeln in den Apotheken diverse Produkte im Rahmen der Selbstmedikation angeboten. Dazu gehören unter anderem Vitamin-B-Präparate. Insbesondere bei Vitamin-B6-haltigen Präparaten ist jedoch auf das mit Vitamin B6 assoziierte Neuropathierisiko zu achten.

Ein in den Medien derzeit stark umworbenes homöopatisches Präparat ist Restaxil®, das bei Neuralgien (Nervenschmerzen) angewendet werden kann. Daneben sind auch diverse andere homöopathische Mittel zur Behandlung von Neuritiden (Nervenentzündungen) und Neuralgien auf dem Markt (z. B. Aconit® Schmerzöl) [7].

Neben einer gezielten pharmakologischen Therapie sind auch nichtmedikamentöse Therapien wie Kälte- und Wärmebehandlungen geeignet, neuropathische Schmerzen positiv zu beeinflussen. Funktionelle Defizite können oftmals durch Physio- und Ergotherapie ausgeglichen werden. Ist ein „eingeklemmter“ Nerv die Ursache, dann verschwindet die Störung mitunter auch von selbst oder nach physiotherapeutischer Behandlung mit geeigneten Übungen, wie sie z. B. bei Wirbelblockaden und Bandscheibenvorfällen verordnet werden. Im Rahmen einer multimodalen (Schmerz-)Therapie können auch psychotherapeutische Behandlungsansätze erwogen werden [3]. |

Literatur

 [1] Heuß D et al. Diagnostik bei Polyneuropathien, S1-Leitlinie 2019, in: Deutsche Gesellschaft für Neurologie (Hrsg.), Leitlinien für Diagnostik und Therapie in der Neurologie, AWMF-Registernummer: 030/067

 [2] Löscher W, Iglseder B. Polyneuropathie im Alter. Zeitschrift für Gerontologie und Geriatrie 2017;4:347-359

 [3] Schlereth T et al. Diagnose und nicht interventionelle Therapie neuropathischer Schmerzen. S2k-Leitlinie, 2019, in: Deutsche Gesellschaft für Neurologie (Hrsg.), Leitlinien für Diagnostik und Therapie in der Neurologie. Online: www.dgn.org/leitlinien), AWMF-Registernummer: 030/114

 [4] Löscher W. Periphere Neuropathien. Österreichische Ärztezeitung 2014;11:18-26

 [5] Sommer C et al. Polyneuropathien. Ursachen, Diagnostik und Therapieoptionen. Deutsches Ärzteblatt 2018;115:83-90

 [6] Galeazzi R. Medikamentös induzierte periphere Neuropathien, pharma-kritik 2013;35:PK917, www.infomed.ch

 [7] Fachinformationen der Arzneimittel, www.gelbe-liste.de

 [8] Traub R. Assistant Professor of Neurology, Columbia University, USA in BusinessInsider www.businessinsider.com/why-does-your-foot-fall-asleep-2017

 [9] Pschyrembel Online. www.pschyrembel.de

[10] Mayer KC. Facharzt für Neurologie, Psychiatrie und Psychotherapeutische Medizin, www.neuro24.de

[11] Stahlschmidt S. Traumatherapiepraxis. www.posttraumatische-belastungsstörung.de

Autorin

Dr. Daniela Leopoldt ist Apothekerin und Pharmakologin. Nach ihrer Promotion an der FU Berlin war sie mehrere Jahre als wissenschaftliche Mitarbeiterin in den USA und anschließend in der öffentlichen Apotheke sowie der pharmazeutischen Industrie tätig. Seit 2017 schreibt sie als freie Medizinjournalistin unter anderem Beiträge für die DAZ.

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