Pandemie Spezial

Rätselhafte Blutgerinnsel

Gibt es eine COVID-19-spezifische Koagulopathie?

Inzwischen werden venöse und arterielle Thromboembolien von COVID-19-Intensivstationen weltweit berichtet. Durch solche Komplikationen sind alle Intensivpatienten gefährdet, der Zusammenhang mit der SARS-CoV-2-Infektion ist noch unklar. Interessanterweise scheint die Heparinprophylaxe nur begrenzt zu wirken. Daher wird auch diskutiert, ob das Virus direkt Lungengefäße infiziert und dort Inflammation und Koagulopathie auslöst.
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Unter den klinischen Charakteristika von COVID-19 wurden schon aus China mehrfach Gerinnungsstörungen und Thrombosen beschrieben. So entwickelte auf einer Intensivstation des Union Hospital in Wuhan jeder vierte COVID-19-Patient eine venöse Thromboembolie (VTE), wobei, in China nicht unüblich, keine Thromboseprophylaxe erfolgt war [1]. In einer niederländischen Kohorte von 184 Intensivpatienten entwickelte während einer vier­wöchigen Beobachtungszeit fast jeder Dritte eine venöse oder arterielle Thromboembolie – der prophylaktischen Behandlung mit niedermolekularem Heparin zum Trotz. Es kam zu 25 Lungenembolien, drei venösen Thrombosen und drei Schlaganfällen; die kumulative Inzidenz von 31% bezeichneten die Ärzte als „bemerkenswert hoch“ [2]. Am Department of Haematology der Cambridge Univer­sity Hospitals sah man während nur acht Tagen bei 63 Intensivpatienten eine kumulative Inzidenz für venöse Thromboembolien von 27% und von 4% für arterielle Thrombosen [3]. In einer vierten Untersuchung an 150 französischen COVID-19-Patienten mit akutem respiratorischem Dyspnoe-Syndrom (ARDS) erreichte die Prävalenz von Thrombosen sogar 43%, trotz prophylaktischer oder therapeutischer Antikoagulation. Ein Vergleich mit Patienten mit akutem respiratorischem Dyspnoe-Syndrom ohne SARS-CoV-2-Infektion bestätigte eine signifikant höhere Rate thrombotischer Komplikationen bei COVID-19/ARDS-Patienten; bei Lungenembolien als häufigster Komplikation war das Verhältnis 11,7% zu 2,1% [4].

Wer ist besonders gefährdet?

Für Prof. Dr. James O’Donnell vom National Coagulation Centre, St. James’s Hospital, Dublin, sind die unterschiedlich großen Inzidenzraten in China und Europa kein Zufall. Im Vergleich zu Kaukasiern gehe man bei Chinesen von einem drei- bis vierfach niedrigeren Risiko für thromboembolische Komplikationen aus, bei Afroamerikanern indes von einem signifikant höheren Risiko [5]. Die Erkrankungsschwere selbst scheint mit dem Grad der Koagulopathie zu korrelieren, des Weiteren das Alter. Alle genannten Studien beschreiben schwer erkrankte Patienten auf Intensivstationen. Das starre Liegen begünstigt zwar die Entwicklung von Gerinnseln, erklärt aber nicht eine Exzessmorbidität bei COVID-19-Patienten im Vergleich zu anderen Intensivpatienten. O’Donnell verglich daher in seiner Dubliner Kohorte die Gerinnungsparameter während des Krankenhausaufenthalts bei Verstorbenen (n = 33) und Über­lebenden (n = 50). Er sah, dass insbesondere D-Dimere bei weniger schwer Erkrankten, die überlebten, stabil blieben, während sie bei den später Verstorbenen anstiegen (s. Kasten „Was sind D-Dimere“). D-Dimere sind Abbauprodukte des Fibrins, sie zeigen unspezifisch eine Gerinnungsaktivierung an. Auch ein hoher CRP-Wert korrelierte mit einer schlechten Pro­gnose. Außerdem waren die über­lebenden Patienten im Durchschnitt jünger (60 vs. 68 Jahre) und hatten seltener relevante Komorbiditäten (76% vs. 88%) [5]. Einen signifikanten Anstieg der D-Dimere, teils auch des Fibrinogens, beobachteten alle oben genannten Autoren bei COVID-19-Pneumonien. Cui und Mitarbeiter in Wuhan berechneten sogar einen Cut-off von 1,5 µg/l D-­Dimeren als Prädiktor für eine venöse Thromboembolie [1]. Klok und Mitarbeiter nennen explizit ein höheres Alter als Risikofaktor für Thromboembolien, auch dies ein Risikofaktor, den die anderen Studien bestätigen.

Was sind D-Dimere?

Bei Gerinnungsprozessen werden die D-Domänen der Fibrin-Moleküle durch den aktivierten Faktor XIII quervernetzt und es entstehen Fibrin-Polymere. Ein regulatorischer Gegenmechanismus ist die Spaltung der Fibrinpolymere durch die Peptidase Plasmin. Dabei entstehen unterschiedlich große Bruchstücke, deren gemeinsames Merkmal eine D=D-Bindung ist, sogenannte D-Dimere. D-Dimere zeigen unspezifisch eine Gerinnungsaktivierung an und werden bestimmt, um eine Thromboembolie auszuschließen.

Eine COVID-19-spezifische Koagulopathie?

Bevor man die hohe Rate an Thrombosen bei COVID-19-Patienten dem neuartigen Virus zuschreibt, sollte man bedenken, dass die Inzidenz nicht unbedingt höher ist als bei anderen Intensivpatienten. Dr. Will Thomas und Kollegen vom Department of Haematology, Cambridge University Hospitals, UK, erinnern daran, dass 10 bis 30% aller kritisch Kranken nach ein bis zwei Wochen auf der Intensivstation eine venöse Thromboembolie entwickeln [3]; abhängig von individuellen Charakteristika liege die Rate bei bis zu 80%, sofern nicht antikoaguliert wird [6]. Was also ist das Spezifische an der COVID-19-Koagulopathie, wenn es sie gibt? Handelt es sich um eine bloße Assoziation oder um eine pathophysiologische Verbindung? Interessanterweise lässt sich die Thromboseneigung durch Heparin-Gabe nicht immer kontrollieren, erklärt Professor O’Donnel. Der Ire postuliert eine lungen­spezifische Vasculopathie, die er Pulmonary Intravascular Coagulopathy (PIC) nennt, im Unterschied zur bekannten, disseminierten intravasalen Koagulopathie (DIC) [5]. Diese ist durch eine generalisierte intravasale Aktivierung der Blutgerinnung gekennzeichnet und entsteht z. B. infolge systemischer Infektion, Vergiftung oder Schock. Die lungenspezifische Vasculopathie sei hingegen dadurch charakterisiert, dass SARS-CoV-2 lokal in der Lunge das Gefäßendothel direkt infiziere. Denn nicht nur Pneumozyten, sondern auch Endothelzellen in verschiedenen Organen tragen den ACE2-Rezeptor, über den sich das Virus Eingang in die Zellen verschafft. Eine gerade im „Lancet“ publizierte Arbeit beschreibt bei einigen COVID-19-Patienten die direkte virale Infektion von Endothelzellen in Gefäßen von Lungen, Nieren und Darm mit Zeichen von Entzündung. Die COVID-19-Endothe­liitis bedinge eine gestörte Mikrozirkulation, Ischämie und Gerinnungsneigung [7]. In der Lunge würde, folgert OʼDonnel, der durch COVID-19 ausgelöste „Zytokinsturm“ die Bildung von Thrombin steigern, welches Fibrinogen spalte mit der Folge von Fibrinablagerungen. So erkläre sich, dass man in Lungengewebe von COVID-19-Verstorbenen Mikrothromben und hämorrhagische Nekrosen gefunden hat. Die besondere Hartnäckigkeit des COVID-19-typischen ARDS sei unterm Strich in dem „Doppelschlag“ begründet, den das Virus gegen die Ventilation und gegen die Perfusion in der Lunge führen könne.

Welche spezifische Therapie ist möglich?

Am Ende der meisten Studien steht ein Plädoyer für eine intensive Anti­koagulation von COVID-19-Patienten auf Intensivstation. Die niederländischen Ärzte um F. Klok empfehlen angesichts der 31%igen Inzidenz von thrombotischen Komplikationen bei ihren Intensivpatienten eine strikte, tendenziell hochdosierte Thromboseprophylaxe bei allen COVID-19-Patienten, die auf die Intensivstation verlegt werden. Auch ohne randomisierte Evidenz raten sie zur Gabe von 40 mg Enoxaparin ein- bis zweimal täglich. Denn ist ein Patient erst intubiert und isoliert, gestalte sich eine Bildgebung zur Diagnose venöser Thrombosen schwierig [2]. Thomas und Kollegen gaben prophylaktisch 5000 IE Dalteparin, bei eingeschränkter Nierenfunktion die Hälfte [3]. In der Dubliner Kohorte erhielten die Patienten Enoxaparin (40 mg/Tag bei einem Körpergewicht von 50 bis 100 kg). Studienleiter O’Donnell betont, dass niedermolekulare Heparine in Standarddosen den Anstieg der D-Dimere und der Koagulationsneigung bei schwerer Ausprägung von COVID-19 nicht signifikant bremsen könnten [5]. Randomisierte Studien müssten klären, ob eine intensivere Antikoagulation und/oder gezielte entzündungshemmende Pharmaka bei COVID-19-Patienten mit Koagulopathie hilfreich seien. Varga und Kollegen sehen in der von ihnen beschriebenen Endotheliitis eine Rationale für den Einsatz antiinflammatorischer, insbesondere Zytokin-hemmender Substanzen, von ACE-Inhibitoren und Statinen zur „Stabilisierung des Endothels“ [7]. |
 

Literatur

[1] Cui S et al. Prevalence of venous thromboembolism in patients with severe novel coronavirus pneumonia. J Thromb Haemost. April 9. 2020; https://doi.org/10.1111/jth.14830

[2] Klok FA et al. Incidence of thrombotic complications in critically ill ICU patients with COVID-19. Thrombosis Research. April 10, 2020, DOI: https://doi.org/10.1016/j.thromres.2020.04.013

[3] Thomas W et al. Thrombotic complications of patients admitted to intensive care with COVID-19 at a teaching hospital in the United Kingdom, Thrombosis Research 2020, https://doi.org/10.1016/j.thromres.2020.04.028

[4] Helms J et al. High risk of thrombosis in patients in severe SARS-CoV-2 infection. Intensive Care Medicine 2020, www.esicm.org/wpcontent/uploads/2020/04/863_author_proof.pdf

[5] OʼDonnell J. COVID-19 Coagulopathy in Caucasian patients. https://onlinelibrary.wiley.com/doi/epdf/10.1111/bjh.16749, Abruf 6. Mai 2020

[6] Attia J et al. Deep vein thrombosis and its prevention in critically ill adults. Arch Intern Med 2001;161:1268-79

[7] Varga Z et al. Endothelial cell infection and endotheliitis in COVID-19. Lancet. 2020;395:1417-1418, Published online 21. April 2020, doi: 10.1016/S0140-6736(20)30937-5

Apotheker Ralf Schlenger

 

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