Feuilleton

Der Schlafmittel-Skandal im Nachtwächterstaat

Vor 60 Jahren: Contergan wird verschreibungspflichtig

Seit Anfang 1961 hatten mehrere Experten auf Fachvorträgen vor dem Schlaf- und Beruhigungs­mittel Contergan gewarnt und auf ernste Nebenwirkungen hingewiesen. Was Ärzte, Apotheker und Medizinalbeamte nicht wussten: Dem Hersteller von Contergan, der Chemie Grünenthal GmbH, lagen zu diesem Zeitpunkt über 1200 Meldungen über Nervenschädigungen vor. Am 26. Mai 1961 stellte die Firma schließlich einen Antrag auf Rezeptpflicht. Doch warum dauerte es so lange bis zur Rezeptpflicht und warum war es der Hersteller selbst, der sie beantragte?

Mitte des Jahres 1961 rumorte es im Arzneimittelwesen. Am 16. Mai 1961 war das erste Arzneimittelgesetz (AMG) Deutschlands verabschiedet worden. Ab August 1961 würde es, so viel war klar, schrittweise in Kraft treten. Wie dieser rechtliche Meilenstein die Arzneimittelregulierung konkret prägen und welche Probleme er aufwerfen würde, war noch nicht ganz abzusehen, zumal das neue Gesetz erst mit Leben gefüllt werden musste und viele Begriffe und Bestimmungen bewusst vage gefasst waren (etwa „zuständige Behörde“). Eine wichtige Neuerung war die zentrale Registrierung aller Arzneispezialitäten, die nunmehr das alleinige Erfordernis für die Markteinführung bildete. Doch eine Prüfung auf Verkehrsfähigkeit erfolgte nicht, was dem wirtschafts­liberalen Zeitgeist entsprach, der auf die industrielle Eigenverantwortung setzte und den Pharmastandort Deutschland nach 1945 wieder zur „Apotheke der Welt“ machen sollte. Erst das zweite Arzneimittelgesetz von 1976 fokussierte wieder mehr den Sicherheitsaspekt und führte erstmals das noch heute geltende Zulassungsverfahren ein.

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Der Pharmahersteller Grünenthal in Stolberg bei Aachen brachte Contergan 1957 auf den bundesdeutschen Markt. Der kommerzielle Erfolg fußte wesentlich auf einer aggressiven Vermarktung, die das Mittel als „gefahrlos“ und „völlig ungiftig“ bewarb.

Contergan-Hersteller registriert Fälle über Nebenwirkungen

Doch Anfang der 1960er-Jahre machte sich zunächst hektische Betriebsamkeit, gepaart mit einer Spur Ungewissheit bei den Gesundheitsbehörden und den Herstellern, aber auch in den Apotheken und Fachverbänden breit. Zur gleichen Zeit kursierten Gerüchte, dass mit einem der bekanntesten Arzneimittel etwas nicht stimmte. Seit Anfang 1961 hatten mehrere Ärzte öffentlich vor dem Schlaf- und Beruhigungsmittel Contergan mit dem Wirkstoff Thalidomid gewarnt und auf ernste Nebenwirkungen hingewiesen. Bereits im Mai folgten erste Fachpublikationen, die über schwere und teils irreversible Nervenschäden berichteten, die nach längerem Gebrauch von Contergan beobachtet worden waren (von der rasanten Zunahme an Fehlbildungen war indes noch keine Rede). Tatsächlich lagen dem Hersteller von Contergan, der Chemie Grünenthal GmbH, zu diesem Zeitpunkt bereits mehr als 1200 Meldungen über Nervenschädigungen vor. Doch dies blieb der Öffentlichkeit verborgen. Ein Umstand, der dem damaligen Arzneimittelrecht geschuldet war, denn bis in die 1970er-Jahre spielte sich die westdeutsche Arzneimittelregulierung vor allem im nichtstaatlichen Raum ab.

Der Staat in einer passiven Rolle

Es waren vor allem die medizinischen, wissenschaftlichen und wirtschaftlichen Akteure, also insbesondere Ärzte, Apotheker und Arzneimittelhersteller, denen die Entscheidungskompetenz über Status, Verfügbarkeit und Verwendung von Arzneimitteln zufiel. Diese Rollenverteilung war zum einen wirtschaftspolitisch motiviert. Der einstigen „Apotheke der Welt“ sollten beim industriellen Wiederaufbau nach 1945 möglichst wenig Schranken auferlegt werden (DAZ 2018, Nr. 44, S. 57).

Zum anderen nahm die traditionell stark positionierte Ärzteschaft für sich in Anspruch, selbst am besten entscheiden zu können, wann welche Arzneimittel wie zu verwenden seien. Damit verbunden war meist das Votum für eine frühzeitige Verfügbarkeit neuer Mittel statt eines langwierigen amtlichen Prüfungs- und Zulassungsverfahrens. Dem Staat war dagegen eine passive Rolle zugedacht. Er sollte Anträge und Anregungen aus dem medizinisch-pharmazeutischen Sektor umsetzen, sich aber selbstständiger Eingriffe weitgehend enthalten.

Entsprechend war auch die Gefahrenprävention institutionalisiert. Das zentrale Instrument, um stark wirksame Arzneimittel vom Verbraucher fernzuhalten, war die Verschreibungspflicht.

Nicht der Staat (durch Verbote), sondern der Arzt (durch Rezepte) sollte entscheiden, ob ein Arzneimittel sinnvoll war und wann es an die Patienten gelangen sollte. Seit dem späten 19. Jahrhundert erließen die Länder Vorschriften, die jene Arzneistoffe auflisteten, die nur auf ärztliche Verschreibung abgegeben werden durften. Diese Listen nahmen aber meist nur bereits eingeführte Stoffe auf, gegen die Bedenken von Medizinern vorgebracht worden waren. Dieses Prozedere war ebenso schwerfällig wie langsam. Da die Listen ab den 1950er-Jahren per Rechtsverordnung eingeführt wurden, beschränkten sich die Länder darauf, jährlich eine turnusmäßige Anpassung vorzunehmen. Da die Rezeptpflicht Ländersache war, musste das Verfahren zudem in jedem Land durchlaufen werden [1].

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Anders als bei den damals gebräuchlichen Schlafmitteln, wie den berüchtigten Barbituraten, war es mit dem Contergan-Wirkstoff Thalidomid kaum möglich, eine letale Dosis zu verabreichen.

Das System der Expertenregulierung unterlag einer fatalen Schieflage: In ihm dominierte ein Denken, nach dem Nutzen und Risiko von Arzneimitteln exklusive Fragen der medizinischen Fachwelt waren. Diese Fragen sollten nach den Regeln des wissenschaftlichen Diskurses geklärt werden, ohne Einbeziehung staatlicher und anderer öffentlicher Instanzen. Dies hatte erhebliche Konsequenzen: Bei der Beobachtung von Nebenwirkungen wurden diese fast immer nur in der Fachwelt verhandelt, indem Ärzte und Apotheker in einen bilateralen Austausch mit dem jeweiligen Hersteller traten, sich aber nur in absoluten Ausnahmen an Behörden, Medien oder andere öffentliche Stellen wandten. Daher konnte ein Hersteller das Wissen über Nebenwirkungen seiner Präparate in hohem Maße monopolisieren – so auch bei Contergan.

NRW-Ministerium bemüht sich um Rezeptpflicht

Contergan galt zu diesem Zeitpunkt als Erfolgsgeschichte. 1957 auf den Markt gebracht, war das Schlaf- und Beruhigungsmittel seit dem Frühjahr 1960 zu einem pharmazeutischen Bestseller sondergleichen avanciert. Der Erfolg lag nicht zuletzt in einer Werbestrategie begründet, die rezeptfreie Mittel als „unschädlich“ und „völlig ungefährlich“ anpries und bei verschiedensten Unpässlichkeiten empfahl: von Schlafproblemen über Lampenfieber bis hin zur Examensvorbereitung. Um als Mittel für solche Anwendungsgebiete zu funktionieren, musste Contergan auf den rezeptfreien Handverkauf ausgerichtet sein.

Die Chemie Grünenthal sah die blendenden Verkaufszahlen in Gefahr, als ab 1960 sich Stimmen mehrten, die das Mittel mit neuralen Nebenwirkungen in Verbindung brachten und eine Rezeptpflicht forderten. Die Firmenleitung konzentrierte sich nun auf die „Sicherung des rezeptfreien Verkaufs von Contergan“, indem Bedenken zerstreut und Kritiker mundtot gemacht werden sollten. Am 3. Juni 1960 wurden etwa der Außendienst angewiesen, „in sehr vorsichtiger Weise“ zu erkunden, „ob von irgendeiner Seite Anregungen vorliegen, Contergan der Rezeptpflicht zu unterstellen.“ Um dabei „nicht unnötig Staub aufzuwirbeln“, sollte das Wort Contergan nach Möglichkeit gar nicht erst verwendet werden [2].

In der Folgezeit wurden Besuche bei den zuständigen Gesundheitsbehörden der Länder durchgeführt, die, wie es firmenintern hieß, eine „gezielte Beeinflussung“ der Beamten bezweckten [3]. Dass die Firma mit dieser Verschleierungstaktik zunächst relativ erfolgreich war, lag vor allem an den erwähnten Problemen. Während sich kaum Ärzte und Apotheken an die Behörden wandten, die ihre Beobachtungen mitteilten, fehlte es auch an staatlichen Stellen, die selbstständig nach Nebenwirkungen nachforschten oder diese gar zentral erfassten. Der zähe Informationsfluss zwischen den Ländern, aber auch in den Behördenhierarchien, erschwerte es den Ministerien zusätzlich, ein klares Bild über die tatsächliche Lage zu gewinnen.

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Bis zum Frühjahr 1960 entwickelte sich Contergan zum meistverkauften Schlaf­mittel in der Bundesrepublik, zumal es rezeptfrei in den Apotheken erhältlich war. Schätzungsweise fünf Millionen Bundesbürger hatten das Mittel bis 1961 konsumiert. Für die Ärzteschaft und vor allem für die Konsumenten blieb jedoch bis zur Marktrücknahme weitgehend unbekannt, dass Contergan gravierende Nebenwirkungen besaß wie Nervenschädigungen und Fehlbildungen bei Neugeborenen, wenn die Mütter in der Schwangerschaft Contergan eingenommen hatten.

Nachdem renommierte Ärzte ab Februar 1961 auf fachinternen Vorträgen vor Contergan zu warnen begannen, zeichnete sich für die Chemie Grünenthal ab, dass die Diskussion nicht mehr einzuhegen war. Allen weiteren Bemühungen der Firma, durch Desinformationsversuche die Verordnung der Rezeptpflicht zu verzögern, war spätestens Mitte Mai 1961 jede Grundlage entzogen, als erste fundierte Fachpublikationen über Contergan-Nervenschäden erschienen waren. Indes verharrten die Behörden in ihrer passiven Rolle und warteten darauf, dass die Firma selbst tätig wurde. Diese übergab daher am 26. Mai 1961 einen Rezeptpflichtantrag für Contergan. Dieser Antrag setzte die Ablenkungsstrategie der Firma in gewisser Weise fort, da er sich über Nebenwirkungen ausschwieg und nur von etwaigen „Diskreditierungen, die durch ärztlich nicht indizierte Einnahme möglicherweise eintreten können“, sprach [4].

Das zuständige NRW-Innenministerium reagierte auf den Antrag, indem es zunächst ein Gutachten vom Bundes­gesundheitsamt (BGA) erbat. Dieses gesetzlich nicht vorgeschriebene, inhaltlich nicht bindende und im Regelfall zeitaufwendige Verfahren sollte recht­liche Risiken abfedern, aber auch eine Entscheidungsgrundlage für die anderen Länder bilden. Dass das Gutachten des BGA bereits am 24. Juni 1961 vorlag, war ungewöhnlich schnell. Man bemühte sich nämlich, eine Rezeptpflicht noch vor dem Inkrafttreten des AMG am 1. August zu verordnen. Nachdem das BGA die Rezeptpflicht für Contergan empfohlen hatte, wurde diese nach entsprechenden Verordnungen am 29. Juli in Hessen und am 31. Juli in Baden-Württemberg und Nordrhein-Westfalen wirksam.

In den meisten anderen Ländern geschah dies erst nach mehrmonatiger Verzögerung, zumal verfassungsrechtliche Bedenken laut wurden, neue Rezeptpflichten landesrechtlich zu verordnen, nachdem das AMG als Bundesgesetz wirksam geworden war. In Bayern etwa trat die Rezeptpflicht für Contergan erst Anfang 1962 in Kraft, also erst Wochen, nachdem das Mittel Ende ­November 1961 vom Markt genommen worden war. Der Contergan-Skandal, der fortan die Schlagzeilen dominierte, bezog sich nun kaum noch auf die Nervenschäden oder die Rezeptpflicht, sondern in erster Linie auf Tausende von Fehlbildungen, die das Arzneimittel verursacht hatte – doch dies ist eine andere Geschichte (DAZ 2017, Nr. 49, S. 53).

Heute steht fest: Die teratogenen und therapeu­tischen Wirkungen vom Contergan-Wirkstoff Thalidomid sind eng miteinander verknüpft. Obwohl die zugrunde liegenden ­molekularen und zellulären Mechanismen noch nicht in allen Einzelheiten aufgeklärt sind, weiß man um die zentrale Rolle der Apoptose­induktion und Angiogenesehemmung. Als orale Tumortherapeu­tika und Immunmodulatoren besitzen Thalidomid sowie Lenalidomid und Pomalidomid inzwischen ihre Bedeutung bei seltenen Erkrankungen. Aufgrund ihres Nebenwirkungsprofils gibt die Europäische Kommission allerdings vor, dass ausschließlich spezielle Rezeptformulare verwendet werden dürfen. Außerdem erfolgt ihre Abgabe in den Apotheken strengen Dokumentationspflichten (DAZ 2016, Nr. 6, S. 22) – eine „Rezeptpflicht plus“ gewissermaßen, deren Ursprung genau 60 Jahre zurückliegt. |

Literatur

[1] Siehe weiterführend Niklas Lenhard-Schramm, Das Land Nordrhein-Westfalen und der Contergan-Skandal. Gesundheitsaufsicht und Strafjustiz in den „langen sechziger Jahren“. Göttingen 2016, S. 115 – 123.

[2] LAV NRW R, Gerichte Rep. 139, Nr. 24, Bl. 203.

[3] Ebd., Nr. 28, Bl. 78f.

[4] Ebd., Nr. 54, Bl. 238.

Dr. Niklas Lenhard-Schramm, 
Universität Hamburg, Fakultät für Geistes­wissenschaften, 
Fachbereich Geschichte, 
autor@deutsche-apotheker-zeitung.de

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