Palliativmedizin

Chancen und Risiken des Off-Label-Use

Linderung belastender Symptome steht im Mittelpunkt am Ende des Lebens

In der palliativmedizinischen Betreuung stehen Erhalt und Verbesserung der Lebensqualität von Patienten mit fortgeschrittenen, lebenslimitierenden Erkrankungen an erster Stelle. Der medikamentösen Symptomkontrolle kommt dabei eine tragende Rolle zu. Allerdings stoßen Ärzte bei der Auswahl der Arzneimittel häufig an Grenzen, weshalb viele off label eingesetzt werden, das heißt außerhalb ihrer Zulassung. Obwohl Off-Label-Use im klinischen Alltag weit verbreitet ist, gibt es bei den Verschreibenden immer wieder Unsicherheiten zur Anwendung. Neben haftungsrechtlichen Fragen und Fragen zur Kostenübernahme muss vor allem auch eine mögliche Gefährdung der Patienten durch ein nicht oder nur unzureichend geprüftes Arzneimittel bedacht werden. | Von Stefanie Pügge

Bevor ein Arzneimittel auf den Markt kommt, bedarf es einer Zulassung durch die zuständigen Überwachungs­behörden. Wirksamkeit und Unbedenklichkeit des Arzneimittels müssen in klinischen Studien eingehend überprüft und vom pharmazeutischen Hersteller für die angestrebten Anwendungen belegt werden. Bestimmte Patientengruppen werden allerdings seltener in die zeit- und kostenintensiven Studien einbezogen. Dies gilt z. B. für Kinder, Schwangere, psychiatrische und auch Palliativpatienten. Die Ursachen sind vielfältig. Neben ethischen und organisatorischen Gründen (z. B. multimorbide und sehr heterogene Patientengruppe unter Einnahme verschiedener Medikamente im Falle der Palliativpatienten), spielt sicherlich die Attraktivität der Vermarktung eine Rolle. Insbesondere bei Substanzen mit abgelaufenem Patentschutz sind die Gewinnaussichten in den meisten Fällen nur noch gering.

Die Zulassungsstudien dienen in erster Linie der Sicherheit des Patienten. Gleichzeitig sagen sie nur begrenzt etwas darüber aus, ob es für ein Arzneimittel andere mögliche und sinnvolle Einsatzgebiete gibt bzw. ob eine andere Art der Anwendung ungeeignet ist oder negative Auswirkungen hat. Es ist damit zu rechnen, dass für viele etablierte Off-­Label-Einsatzgebiete niemals Bestrebungen unternommen werden, eine Zulassung zu beantragen.

In der Palliativmedizin steht im Unterschied zu anderen medizinischen Fachdisziplinen nicht die Heilung im Vordergrund. Es geht vor allem um eine Verbesserung der Lebensqualität der Betroffenen und die Linderung begleitender und belastender Krankheitszeichen (s. Kasten „Ein Fallbeispiel“). Häufig auftretende Symptome bei Palliativpatienten sind unter anderem Atemnot, Schmerzen, Fatigue, Übelkeit und Erbrechen, Obstipation, Angst und Depression [1].

Ein Fallbeispiel

Der 67-jährige Herr K. mit metastasiertem Lungenkarzinom stellte sich mit seit drei Wochen zunehmender Atemnot in der palliativmedizinischen Ambulanz vor. Die Sauerstoffsättigung (SO2) betrug 99%, in der Blutgasanalyse (BGA) zeigte sich bei normaler Sauerstoffspannung ein erniedrigter Kohlendioxidpartialdruck (pCO2; 35 mmHg). Ein thromboembolisches Ereignis oder ein akutes Koronarsyndrom konnten ausgeschlossen werden. Hinweise auf ein infektiöses oder autoimmunes Geschehen gab es nicht. Der Patient wünschte sich wieder mehr am sozialen Leben teilnehmen zu können. Dies war ihm durch die sich verschlechternde Symptomatik kaum noch möglich. Herr K. wurde zu möglichen nichtmedikamentösen Interventionen (Atemtherapie, Handventilator) informiert und über Opioide bei Atemnot aufgeklärt. Seine aufkommende Befürchtung, dass es schon „so weit“ sei, konnte ihm nicht ganz genommen werden. Schließlich stimmte er der Behandlung jedoch mit der Hoffnung auf Symptomlinderung zu. Herr K. bekam eine niedrig dosierte Opioidtherapie mit Morphin retard 10 mg zweimal pro Tag sowie Metoclopramid (MCP) 10 mg dreimal pro Tag für fünf Tage zur antiemetischen Prophylaxe (Off-Label-Use; Therapieempfehlung der S3-Leitlinie „Palliativmedizin für Patienten mit einer nicht heilbaren Krebserkrankung“ [1]). Zusätzlich bekam er dauerhaft Macrogol zur Obstipationsprophylaxe. Schon am folgenden Tag ging es ihm deutlich besser und er konnte wieder mit seiner Ehefrau spazieren gehen. Die Werte der Blutgasanalyse normalisierten sich.

In vielen Fällen sind die zugelassenen Optionen für die Behandlung dieser Symptome bei Palliativpatienten nicht geeignet oder nicht ausreichend wirksam. Schätzungen zufolge erfolgen bis zu 50% aller Verordnungen außerhalb der zugelassenen Indikationen [2]. Dies betrifft neben der Indikation selbst auch die Anwendungsdauer, die Dosierung oder den Applikationsweg. Zwischen In- und Off-Label-­Anwendungen liegt oft nur ein schmaler Grat, der jedoch relevant für die Patientensicherheit sein könnte. Weitere Begrifflichkeiten, die den Zusammenhang zwischen Zu­lassungsstatus und Arzneimittelanwendung beschreiben, sind in Tabelle 1 beschrieben.

Tab. 1: Definitionen, die den Zusammenhang von Zulassungsstatus und Arzneimittelanwendung beschreiben [3]
Art der Anwendung
Erklärung
Compassionate Use
Kostenlose (= vom pharmazeutischen Unternehmen zur Verfügung gestellte) Versorgung der Behandelten mit Arzneimitteln, die noch nicht zugelassen sind (im Rahmen eines Härtefallprogramms). Voraussetzung ist eine schwere oder lebensbedrohliche Erkrankung, die mit zugelassenen Arzneimitteln nicht ausreichend behandelt werden kann.
Unlicensed Use
Verwendung (noch) nicht oder zugelassener Arzneimittel
Off-Label-Use
Anwendung eines zugelassenen Arzneimittels außerhalb der Zulassung
individueller Heilversuch
Anwendung im Einzelfall; das Arzneimittel ist entweder noch nicht zugelassen oder für ein anderes Einsatzgebiet zugelassen

Grundsätzlich erfordert jeder Off-Label-Use eine sorgfältige und individuelle Nutzen-Risiko-Analyse im aktuellen Kontext des zu behandelnden Patienten. Die Entscheidung für eine Anwendung eines zugelassenen Arzneimittels außerhalb der Zulassung sollte immer gemäß den anerkannten Empfehlungen zur evidenzbasierten Medizin stattfinden. Für eine ausführliche Recherche bleibt im klinischen Alltag aber nur selten Zeit. Ganz allgemein ist eine Anwendung eines zugelassenen Arzneimittels außerhalb der Zulassung in der Regel gerechtfertigt, wenn

  • zugelassene Behandlungsoptionen bei noch unzureichender Symptomkontrolle ausgeschöpft sind oder
  • diese aufgrund von Neben- oder Wechselwirkungen oder sonstigen, die Therapie gefährdenden Aspekten nicht infrage kommen oder
  • das außerhalb der Zulassung einzusetzende Medikament die wissenschaftlich belegbar bessere Therapieoption darstellt sowie
  • die begründbare Aussicht auf den gewünschten Therapieeffekt besteht und das Risiko für Komplikationen gering ist [2].

Bei der Therapieentscheidung sollten z. B. Alter, Organfunktion, Komorbiditäten, Ansprechen und Verträglichkeit von bisherigen Therapien ebenso mitberücksichtigt werden wie die derzeitige Krankheitssituation. Dies zeigt auch, dass sich die Einschätzung jederzeit ändern kann und eine Therapieoption, die vor Kurzem noch nicht infrage kam, zu einem späteren Zeitpunkt doch eine Alternative darstellt.

Eine besondere Herausforderung im palliativen Kontext ist die ohnehin schon nicht immer einfache Unterscheidung zwischen Krankheitssymptom und unerwünschten Arzneimittelwirkungen, die limitierte Zeit für Therapie­versuche sowie die Berücksichtigung von besonderen Patientenbedürfnissen, wie z. B. eine Versorgung im häuslichen Umfeld. Weiterhin ist zu berücksichtigen, dass durch die Schwere der Erkrankung bei den meisten Patienten eine Polypharmazie vorliegt, die das Risiko für Neben- und Wechselwirkungen erhöht. Hinweise zum Off-Label-Use finden sich bereits teilweise in der Fachliteratur [1, 4, 5], häufig mangelt es aber an ausreichender wissenschaftlicher Evidenz. Einige Beispiele für gängige Arzneistoffe, die off label in der Palliativmedizin eingesetzt werden, sind in Tabelle 2 aufgeführt. Oft sind lediglich der Applikationsweg oder die Dosierung anders als in der Zulassung des Herstellers.

Tab. 2: Beispiele für Arzneistoffe, die häufig off label in der Palliativmedizin eingesetzt werden.
Arzneistoff
Anwendung im Off-Label-Use
Metamizol
Dosierung: > 4 g bzw. 5 g/24 Stunden (abhängig von Darreichungsform)
Applikation: s.c., Dauerinfusion
Metoclopramid
Indikation: Opioid-induzierte Nausea und Emesis
Dosierung: > 30 mg/Tag,
Anwendung länger als fünf Tage
Applikation: s.c.
Midazolam
Indikation: Angst, Unruhe
Applikation: s.c., intranasal
Morphin und andere Opioide
Indikation: Atemnot
Scopolamin
Indikation: Siallorhö
Venlafaxin
Indikation: neuropathische Schmerzen

Die Datenlage für den Off-Label-Use in der Palliativmedizin ist sehr unterschiedlich. Die Anwendung von Opioiden für die Behandlung von Atemnot ist wissenschaftlich gut belegt und etabliert. In Australien wurde inzwischen sogar Morphin für diese Indikation zugelassen [6, 7]. Für die häufig eingesetzte subkutane Gabe von Midazolam finden sich dagegen nur wenige Daten [8]. In jedem Fall ist also für jeden Patienten eine individuelle und begründete Therapieentscheidung durchzuführen. Die vermeintlich bestmögliche Therapie für die zu behandelnde Person darf nicht zum unstrukturierten Behandlungsversuch werden, der Patienten unnötig gefährdet.

Die Aufklärung und das Einverständnis der zu behandelnden Person sind Voraussetzung für die Anwendung eines zugelassenen Arzneimittels außerhalb der Zulassung. Genauso ist es auch erforderlich, dass Ärztinnen und Ärzte auf die Möglichkeit einer Behandlung mit Medikamenten im Off-Label-Use hinweisen, wenn es keine anderen Behandlungsmöglichkeiten gibt. Wie im Bürgerlichen Gesetzbuch (BGB) § 630e und f verankert, ist jede Behandlung inklusive der Aufklärung und Information zu dokumentieren. Unter besonderen Umständen kann jedoch darauf verzichtet werden, insbesondere wenn die Maßnahme unaufschiebbar ist oder die behandelte Person auf die Aufklärung ausdrücklich verzichtet hat. Auch ist es zu empfehlen anderes medizinisches Fachpersonal zu informieren, das an der Betreuung der Patientinnen und Patienten beteiligt ist, z. B. Apotheker, Pflegende, Hausärzte, um Missverständnisse zu vermeiden.

In der Palliativmedizin ist die Verwendung von Arzneimitteln bei nicht zugelassenen Indikationen oder Applikationswegen so weit verbreitet, dass diese Vorgehensweise in vielen Fällen nicht praktikabel ist. Für den klinischen Alltag bedeutet dies, dass vielfach darauf verzichtet wird, über jede einzelne Anwendung außerhalb der Zulassung aufzuklären [9]. Sobald es für eine Therapie jedoch keine oder kaum wissenschaftliche Belege gibt und bislang auch noch kaum eigene Erfahrungen dazu vorliegen sollte eine patientenindividuelle Aufklärung erfolgen.

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Neben den bereits genannten Unsicherheiten und Risiken die mit der Anwendung eines zugelassenen Arzneimittels außerhalb der Zulassung einhergehen, hat diese jedoch durchaus auch Chancen. Zum einen wird das Spektrum an Behandlungsmöglichkeiten erweitert. Zum anderen kann ein Off-­Label-Use dem Erkenntnisgewinn dienen. Dafür müssen die Anwendungen bewusst und gut begründet entschieden, dokumentiert und strukturiert gesammelt werden. Die positiven und negativen Erfahrungen sollten an zentraler Stelle gebündelt und in den Kontext der aktuellen wissenschaftlichen Evidenz gesetzt werden, um diese einem breiteren Fachpublikum zugänglich zu machen. Zu diesem Zweck wurde an der Klinik und Poliklinik für Palliativmedizin am Klinikum der Universität München das Kompetenzzentrum Palliativpharmazie mit der Zentralstelle Off-Label-Use eingerichtet. Unter www.arzneimittel-palliativ.de kann ein entsprechender Dokumentationsbogen für den Off-Label-Use heruntergeladen werden. Auch ein Aufklärungsbogen für Patienten sowie eine Broschüre zur Anwendung eines zugelassenen Arzneimittels außerhalb der Zulassung mit weiteren Informationen stehen zum Download auf Deutsch und Englisch bereit.

Zudem startete im Januar 2021 ein von der Deutschen Krebshilfe gefördertes Projekt zur Entwicklung von Therapieempfehlungen zum Umgang mit Off-Label-Use in der Palliativmedizin. Ziel des dreijährigen Projektes ist die Entwicklung und Konsentierung von Arzneimittelmonographien palliativmedizinisch relevanter Substanzen mit einer Bewertung der Einsatzmöglichkeiten außerhalb der Zulassung. Der Erstellungsprozess beinhaltet die systematische Literaturrecherche sowie die Extraktion und Evaluation der identifizierten Evidenz. Auf Basis der vorliegenden Daten, verfügbarer, gegebenenfalls zugelassener Alternativen und den zu erwartenden Risiken der Anwendung wird dann eine konkrete Therapieempfehlung formuliert und auf einer frei zugänglichen Internetseite Ärzten, Pflegekräften und Apothekern zur Verfügung gestellt. Das Projekt soll eine bestehende Informationslücke im klinischen Alltag schließen und den Behandelnden eine Unterstützung für die Auswahl der bestmöglichen Therapieoptionen in die Hand geben. |

Literatur

[1] Palliativmedizin für Patienten mit einer nicht-heilbaren Krebserkrankung. Erweiterte S3-Leitlinie, Langversion 2.2 Stand: September 2020, AWMF-Registernummer: 128/001OL 2020, www.dgpalliativ­medizin.de/images/stories/pdf/LL_Palliativmedizin_Langversion_2.2.pdf

[2] Rémi C, Bausewein C. Zum Umgang mit Off-Label-Use in der Palliativmedizin: Deutsche Gesellschaft für Palliativmedizin 2020, www.dgpalliativmedizin.de/images/RZ_200219_Offlabel_DS_ONLINE_aktuell_v2.pdf

[3] Rémi C, Gerlach C. „Off label use“ in der Palliativmedizin. Der Schmerz. 2021;35(1):61-73

[4] Rémi C, Bausewein C, Twycross R, Wilcock A, Howard P, editors. Arzneimitteltherapie in der Palliativmedizin. 3 ed. München, Elsevier Urban & Fischer 2018

[5] Twycross R, Wilcock A, Howard P, editors. PCF6 Palliative Care Formulary. 6 ed. Nottingham, Pharmaceutical Press 2018

[6] Barnes H, McDonald J, Smallwood N, Manser R. Opioids for the palliation of refractory breathlessness in adults with advanced disease and terminal illness. Cochrane Database Syst Rev 2016;3:Cd011008

[7] Australian Product Information Kapanol® (Morphine Sulfate Penta­hydrate) modified release capsules. Australian Government Department of Health (DoH), Therapeutic Goods Administration 2021

[8] Kaneishi K, Kawabata M, Morita T. Single-Dose Subcutaneous Benzodiazepines for Insomnia in Patients With Advanced Cancer. J Pain Symptom Manage 2015;49(6):e1-2

[9] Hagemann V, Bausewein C, Rémi C. Off-label-prescriptions in daily clinical practice – a cross-sectional national survey of palliative medicine physicians. Progress in Palliative Care 2019:1-6

Autorin

Apothekerin Stefanie Pügge, Pharmaziestudium an der TU Braunschweig, seit Januar 2021 im Kompetenzzentrum Palliativpharmazie am Klinikum der Ludwig-Maximilians-­Universität München angestellt,

Schwerpunkt: Off-Label-Einsatz von Arzneimitteln in der Palliativmedizin

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