Arzneimittel und Therapie

Großer Nocebo-Effekt bei Statinen

Muskelschmerzen im Beratungsgespräch aufgreifen

Statine sind als Lipidsenker das Mittel der Wahl und weit verbreitet – jedoch durch ihren Ruf auch ebenso gefürchtet. Auf potenzielle Gefahren stellen sich Patienten ein, Nebenwirkungen sind somit oft vorprogrammiert. In einer aktuellen Studie mit Betroffenen, die eine Therapie aufgrund negativer Erfahrungen zuvor abgebrochen haben, wurde dieses Phänomen untersucht – mit dem Ergebnis, dass 50% der Teilnehmer nach Abschluss der ­Studie wieder eine Therapie mit ­Statinen aufnahmen.

Myopathien und auch die seltene, lebensbedrohliche Rhabdomyolyse sind den meisten Statin-Anwendern als Nebenwirkungen bekannt. Häufig werden die Patienten jedoch übermäßig für diese Begleiterscheinungen sensibilisiert, weswegen Statine oft mit einer grundlegend negativen Erwartungshaltung eingenommen werden. Dadurch können vermehrt Nebenwirkungen auftreten, die eigentlich nicht durch das Arzneimittel selbst bedingt sind. Man spricht dann vom „negativen“ Placebo-Effekt, dem Nocebo-Effekt. Wie stark dieser Nocebo-Effekt unter Statinen sein kann, wurde vor Kurzem untersucht.

Foto: Dzmitry – stock.adobe.com

Der Nocebo-Effekt (lat.: „ich werde schaden“) ist das negative Pendant zum Placebo-Effekt.

Statin, Placebo oder keine Tablette

Für die Studie wurden Patienten rekrutiert, die bereits Statine eingenommen haben, die Therapie aber nach zwei Wochen aufgrund von Nebenwirkungen abgebrochen hatten. Von ursprünglich 60 Probanden schlossen 49 die Untersuchung ab. Die doppelblinde, randomisierte Studie erfolgte von 2016 bis 2019 nach dem n = 1-Studienprinzip: Bei diesem Format einer Crossover-Studie dient jeder Patient als seine eigene Kontrolle. Alle Probanden erhielten vier Fläschchen mit Atorva­statin in einer Dosis von 20 mg, vier Fläschchen mit Placebo und vier leere Fläschchen. Jedes Fläschchen sollte nach einer zufälligen Reihenfolge über einen Zeitraum von einem Monat eingenommen werden. Per Smartphone-App notierten die Teilnehmer täglich Nebenwirkungen und deren Intensität (0 = keine Symptome, 100 = nicht auszuhalten). Anschließend wurde der Quotient der Symptom-Intensitäten von Placebo zu Statin unter Berücksichtigung der leeren Flaschen berechnet. Dieses so ermittelte „Nocebo-Verhältnis“ verdeutlicht die Stärke des Nocebo-Effekts und stellte den primären Endpunkt der Studie dar.

Eindeutiges Ergebnis

Die mittlere Symptom-Intensität unter allen Teilnehmern betrug während der Einnahme von Placebo 15,4 (95%-Konfidenzintervall [KI]: 12,1 bis 18,7), unter Atorvastatin 16,4 (95%-KI: 13,0 bis 19,6) und 8,0 (95%-KI: 4,7 bis 11,3) beim leeren Fläschchen. Unter Berücksichtigung patientenindividueller Faktoren ergab sich ein gepooltes Nocebo-Verhältnis von 0,9. Das bedeutet, dass 90% der unter Statin wahrgenommenen Nebenwirkungen auch unter Placebo wahrgenommen worden waren. Das Ergebnis zeigt deutlich, dass sich die individuell wahrgenommenen Nebenwirkungen von Statin zu Placebo kaum unterscheiden bzw. nahezu gleich stark sind.

Mit den Patienten sprechen

In der Regel wird bei auftretenden Muskelschmerzen unter Statinen die Dosis reduziert oder das Präparat gewechselt. Dr. James Howard, der die Studienergebnisse auf der American Heart Association 2020 präsentierte, merkte jedoch an, dass es das Wichtigste sei, mit den Patienten über einen möglichen Nocebo-Effekt zu sprechen. Neben der Erläuterung der Wahrscheinlichkeit, unter der es bei einer Statin-Therapie zu Nebenwirkungen kommen kann, soll der behandelnde Arzt dabei auch auf die Erwartungen des Patienten eingehen und welche Rolle diese beim Auftreten von Nebenwirkungen spielen können. So nahmen immerhin 30 Teilnehmer der Studie die abgebrochene Statin-Therapie wieder auf, nachdem sie über die Hintergründe und die Ergebnisse der Studie informiert worden waren. |

Literatur

Wood F et al. N-of-1 Trial of a Statin, Placebo, or No Treatment to Assess Side Effects. NEJM 2020, doi: 10.1056/NEJMc2031173

Statin-Nebenwirkungen sind meist ein Nocebo-Effekt. Informationen der Deutschen Gesellschaft für Kardiologie – Herz- und Kreislaufforschung e. V., www.kardiologie.org/aha-kongress-2020/lipidstoffwechselstoerungen/statin-nebenwirkungen-sind-meist-ein-nocebo-effekt-/18588582, Abruf am 27. Januar 2021

SAMSON Trial Makes Its Case to Cut Statin Side Effects, Kommentar auf medscape.com, www.medscape.com/viewarticle/940801, Abruf am 27. Januar 2021

Apothekerin Ann-Katrin Vogt

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