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Arzneimittel und Therapie
Querschnittsgelähmte Mäuse laufen wieder
Bochumer Forscher machen Nervenzellen mittels Gentherapie zum „Apotheker“
DAZ: Die Schlagzeilen hören sich ja wirklich unglaublich an, querschnittsgelähmte Mäuse können nach Gentherapie wieder laufen. Wie können wir uns das vorstellen?
Fischer: Seit meiner Promotion forsche ich an der Frage, warum Nervenzellen im Gehirn und Rückmark nach Verletzungen normalerweise nicht regenerationsfähig sind. Während meiner Doktorarbeit musste ich verschiedene Substanzen in das Auge von Nagetieren injizieren und habe dabei versehentlich die Linse verletzt. Kurze Zeit später bemerkte ich zu meinem großen Erstaunen, dass sich einzelne Nervenzellen in der Netzhaut regeneriert hatten. Dafür verantwortlich sind bestimmte Zytokine, die sich durch die Verletzung der Linse in der Netzhaut gebildet worden waren und die dann auf die Nervenzellen einwirken und diese so zur Regeneration anregen. Ein Nachteil natürlicher Zytokine ist allerdings, dass sie nur eine begrenzte Wirksamkeit aufweisen und damit nur mäßig regenerativ wirken. Meine Arbeitsgruppe und ich haben deshalb versucht, einen neuen therapeutischen Ansatz mit einem künstlichen und deutlich potenteren Zytokin zu entwickeln: Als Produkt herausgekommen ist das Hyper-Interleukin-6, das ein natürliches Interleukin-6 darstellt, welches mit seinem Rezeptor fusioniert wurde. Und es hat sich gelohnt: Die Anwendung des künstlichen Zytokins im Auge führte zu einer starken Regeneration des Sehnervs.
Im nächsten Schritt wollten wir wissen, ob Hyper-Interleukin-6 auch bei anderen Nervenschädigungen einsetzbar wäre, zum Beispiel bei Querschnittslähmung. Wir wollten aber nicht das Protein direkt injizieren, sondern haben dazu adenovirale Vektoren genutzt, die nach der Injektion in den Motorcortex (dieser liegt direkt unter der Schädeldecke und ist daher leicht zugänglich) die für Hyper-Interleukin-6 codierende DNA in die Nervenzelle transportieren. Anschließend beginnt die Nervenzelle, Hyper-Interleukin-6 zu produzieren, dieses wird freigesetzt und kann dann wieder an die Membranrezeptoren binden und dort das Neuron zur Regeneration anregen. Wir haben die Zelle quasi zum „Apotheker“ gemacht, die ihr eigenes Arzneimittel produziert. Nach der Injektion hatten wir zwar mit einer Regeneration der Nervenfasern im kortikospinalen Trakt gerechnet, niemals jedoch damit, dass die Mäuse wieder laufen können. Umso überraschter waren mein Mitarbeiter und ich, als zwei bis drei Wochen später die Mäuse wieder zu laufen begannen.
Zum Anschauen und Weiterlesen
Geben Sie bitte den Webcode E7YI8 in die Suchfunktion auf DAZ.online ein, und Sie gelangen direkt zu einem Video, in dem Sie die gelähmten Mäuse laufen sehen. Die Originalpublikation finden Sie unter „Leibinger et al. Transneuronal delivery of hyper-interleukin-6 enables functional recovery after severe spinal cord injury in mice. Nature Communications 2021. doi:10.1038/s41467-020-20112-4“.
DAZ: Welcher Mechanismus steckt dahinter?
Fischer: Wir haben herausgefunden, dass die Nervenzelle nicht nur Hyper-Interleukin-6 bildet, sondern dieses auch entlang der Axone weitertransportiert und an den Synapsen von Seitenästen des Axons freisetzt. Auf diese Art werden noch weitere durch die Rückenmarksverletzung geschädigte Nervenzellen im tiefen Hirnstamm zur Regeneration angeregt. Durch einen kleinen Eingriff können also mehrere Trakte im verletzten Rückenmark zur Regeneration angeregt werden, wodurch die Maus wieder laufen konnte. Wir nennen diesen Applikations- bzw. Verteilungsmechanismus innerhalb der Zelle, der so noch nie zuvor definiert wurde, „transneuronale Applikation“.
DAZ: Was sind die nächsten Schritte in Ihrer Forschung?
Fischer: Theoretisch könnte man auch andere pharmakologisch aktive Peptide injizieren und die transneuronale Verteilung testen, wobei wir davon ausgehen, dass diese nicht so potent sein dürften wie Hyper-Interleukin-6 selbst. Auch eine Kombination mit anderen Therapieformen ist denkbar. Weiterhin wollen wir die Hyper-Interleukin-6 an anderen Indikationen testen, bei denen es auch zu axonalen Schädigungen kommt: Hier sind insbesondere Schlaganfall und Multiple Sklerose zu nennen. Daneben soll untersucht werden, ob eine zweite Injektion den Effekt möglicherweise noch verstärken kann.
DAZ: Sind die Erkenntnisse auf den Menschen übertragbar? Was könnten mögliche Hürden sein?
Fischer: Zunächst einmal müsste der Erweis erbracht werden, dass das Verfahren auch an größeren Säugetieren wie Schweinen und letztlich auch Affen funktioniert. Sollte das der Fall sein, muss sichergestellt sein, dass die Therapie für den Menschen unbedenklich und tolerabel ist. Vorstellbar wäre, die Vektoren mithilfe von biotechnologischen Verfahren so zu verändern, dass die Hyper-Interleukin-6-Produktion gezielt an- und ausgeschaltet werden kann. Auf molekularer Ebene haben wir das Verfahren bereits an primären humanen Zelllinien erfolgreich getestet. Daher gehen wir davon aus, dass die Therapie prinzipiell auch beim Menschen funktioniert, auch wenn sie natürlich angepasst werden muss. Ob das Verfahren dann auch in die klinische Forschung übergeht, hängt von vielen Faktoren ab: Es müssen Sponsoren und Pharmafirmen für die klinischen Studien gefunden werden. Bis es so weit ist, dass das Verfahren am Menschen angewandt wird, dauert es sicher etliche Jahre, und das haben wir als Forscher, die die Tür geöffnet haben, nicht mehr in der Hand.
DAZ: Herr Prof. Fischer, vielen Dank für das Gespräch. |
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