Arzneimittel und Therapie

Neuartige Gentherapie bei Hämophilie A

Roctavian ist vielversprechend, aber das Ansprechen sehr individuell

dab | Um den Mangel an Faktor VIII auszugleichen, müssen sich Patienten mit Hämophilie A regelmäßig spritzen. Eine einmalige virusbasierte Gentherapie mit Valoctocogene Roxaparvovec (Roctavian) hat nun in einer Phase-III-Studie vielversprechende Ergebnisse gezeigt. Der Hersteller BioMarin hatte im November 2020 seinen ersten Zulassungsantrag bei der Europäischen Arzneimittel-Agentur zurückgezogen mit der Erklärung, angeforderte Daten nicht schnell genug vorlegen zu können. Im Juni 2021 wurde erneut ein Antrag gestellt, dessen Bewertungsverfahren aktuell noch läuft. Ob die neuen Erkenntnisse für eine Zulassung ausreichen, ist fraglich.

Die X-chromosomale Erbkrankheit Hämophilie A betrifft vor allem Männer. Frauen können Überträgerinnen sein und erkranken in der Regel allenfalls an einer leichten Form. Die zugrunde liegende Genmutation führt zu einem Mangel des Gerinnungsfaktors VIII. Komplikationen der Erkrankung sind unter anderem Blutungen in Weichteilen und Gelenken, die zu Schmerzen und Funktionseinschränkungen führen können. Aktuell erfolgt die Behandlung prophylaktisch mit Faktor-VIII-Präparaten oder dem monoklonalen Antikörper Emicizumab (Hemlibra®), der den Gerinnungsfaktor IX und den Gerinnungsfaktor X verbindet, um die Funktion des fehlenden aktivierten Faktors VIII nachzuahmen. Jedoch müssen die Injektionen häufig erfolgen, und Blutungen treten weiterhin auf.

Foto: Denira/AdobeStock

Gentherapie im Test

In der offenen, einarmigen Phase-III-Studie GENEr8-1 wurde eine einmalige gentherapeutische Behandlung mit Valoctocogene Roxaparvovec (Roctavian) an 134 Männern über 18 Jahren mit schwerer Hämophilie A (Faktor-VIII-Spiegel ≤ 1 IE/dl) untersucht. Die Nachbeobachtung erfolgte über mindestens 52 Wochen bis zu zwei Jahre. Valoctocogene Roxaparvovec basiert auf einem Adeno-assoziierten Virus Typ 5 als Vektor, der eine modifizierte Form der codierenden Sequenz des ­humanen Faktors VIII enthält. Vor ­Studienbeginn hatten die Probanden für mindestens ein Jahr Faktor-VIII-Präparate erhalten und wiesen keine Faktor-VIII-Hemmkörper auf. Ausschlusskriterien waren unter anderem Antikörper gegen das Adeno-assoziierte Virus-5-Kapsid, eine HIV-Infektion sowie eine erhebliche Leberfunktionsstörung. 112 der Probanden wurden aus einer prospektiven, nicht interventionellen Studie rekrutiert. Für sie ­lagen bereits Daten von mindestens sechs Monaten zu Blutungen und zum Gebrauch von Faktor-VIII-Präparaten vor. Zwei Studienteilnehmer erhielten die Therapie, wurden aber später wegen einer HIV-Infektion von weiteren Analysen ausgeschlossen. Daraus ergab sich eine modifizierte Intention-to-­treat-Population von 132 Männern, die im Median 30 Jahre (18 bis 70 Jahre) alt waren. Alle Probanden erhielten zu Studienbeginn per infusionem eine einmalige Dosis von 6 × 1013 Vektorgenomen pro kg Körpergewicht und Faktor-VIII-Präparate prophylaktisch bis zu vier Wochen nach der Gentherapie und danach nur noch bei Bedarf. Ziel war es, die endogene Produktion von Faktor VIII wiederherzustellen sowie Blutungsereignisse und den Bedarf an Faktor-VIII-Präparaten zu verringern.

Faktor-VIII-Spiegel sehr variabel

Der primäre Endpunkt war die Veränderung des Faktor-VIII-Spiegels in den Wochen 49 bis 52 nach Infusion. Als Ausgangswert wurde ein Faktor-VIII-Spiegel von 1 IE/dl angenommen. Dieser war in der modifizierten Intention-to-treat-Population nach 49 bis 52 Wochen im Mittel auf 42,9 IE/dl ge­stiegen. Damit erreichten in diesem Zeitraum 50 Teilnehmer (37,9%) einen nicht-hämophilen Zustand (Faktor-VIII-Aktivität ≥ 40 IE/dl) und die Hälfte der Probanden eine milde Hämophilie (Faktor-VIII-Aktivität ≥ 5 < 40 IE/dl). Bei 16 Probanden (12,1%) lag die Faktor-VIII-Aktivität unter 5 IE/dl, bei zwölf (9,1%) von ihnen sogar unter 3 IE/dl. 17 Probanden wurden zwei Jahre nachbeobachtet: Bei zehn von ­ihnen zeigte sich in Woche 104 eine Faktor-VIII-Aktivität im Bereich einer milden Hämophilie.

Als Einflussfaktoren auf die Faktor-VIII-Produktion sehen die Studien­autoren biologische Variablen und ­Unterschiede auf molekularer Ebene, z. B. bei der Gen-Übertragung auf die Hepatozyten, bei der Faktor-VIII-Proteinfaltung und -sekretion oder der Reaktion auf das Virus-Kapsid. Generell sank die Faktor-VIII-Aktivität über die Zeit: Im Median lag sie in den Wochen 49 bis 52 bei 23,9 IE/dl und in der Gruppe, die zwei Jahre nachbeobachtet wurde, bei 14,7 IE/dl in Woche 104. Laut den Autoren sind noch weitere Studien nötig, um herauszufinden, ob eine wiederholte Behandlung nötig bzw. überhaupt möglich ist. Letzteres ist fraglich, weil sich Antikörper gegen den viralen Vektor bilden können.

Weniger Faktor-VIII-Präparate benötigt

Es zeigte sich, dass der jährliche Verbrauch an Faktor-VIII-Präparaten bei den 112 Probanden nach der vierten Woche im Schnitt um 98,6% sank. Ebenso verringerten sich die Blutungen nach der vierten Woche im Schnitt um 83,8% von 4,8 auf 0,8 Ereignisse pro Jahr und zeigte damit die Überlegenheit der Gentherapie mit Roctavian gegenüber der prophylaktischen Therapie mit Faktor-VIII-Präparaten. Obwohl im Durchschnitt die jährliche Blutungsrate nach der Infusion sank, war sie bei 9,7% der insgesamt 134 behandelten Probanden sogar gestiegen.

Häufig erhöhte Alanin-­Aminotransferase-Werte

Alle 134 Studienteilnehmer hatten mindestens eine unerwünschte Arzneimittelwirkung. Zu den häufigsten Nebenwirkungen zählten eine Erhöhung des Alanin-Aminotransferase-Werts (85,8% der Probanden), Kopfschmerzen (38,1%), Übelkeit (37,3%) und erhöhte Aspartat-Aminotrans­ferase-Werte (35,11%). Insgesamt 22 (16,4%) der Teilnehmer hatten eine schwerwiegende UAW, die aber behandelt werden konnte. Es traten ­keine Thromboembolien oder Faktor-VIII-Hemmkörper auf. Einzelne Teilnehmer zeigten Reaktionen während der Infusion. So kam es unter anderem bei sieben Studienteilnehmern (5,2%) zu einer systemischen Überempfindlichkeitsreaktion. Durch eine Begleitmedikation (z. B. ein Antihistaminikum) oder langsamere bzw. ­pausierte Gabe konnten letztlich aber alle Probanden die komplette ­Infusion erhalten.

Die erhöhten Alanin-Aminotransferase(früher: Glutamat-Pyruvat-Transaminase)-Spiegel zeigten sich im Median acht Wochen nach der Infusion und hielten für 15 Tage an. Ein Grund für die frühzeitig aufgetretenen Erhöhungen könnte laut den Studienautoren eine entzündliche bzw. immunologische Antwort auf den Gen-Transfer sein. Trotz unterschiedlichem Schweregrad trat kein Fall eines arzneimittelinduzierten Leberschadens auf. Die Behandlung erfolgte vorwiegend mit Glucocorticoiden und dauerte zwischen 22 und 551 Tagen an. Bei 79 (71,8%) von 110 mit Corticoiden behandelten Probanden kam es dabei zu einer typischen Nebenwirkung wie Akne, Insomnie oder Cushing-Syndrom.

Vergleich zu Emicizumab

Aus der Studie kann kein direkter Vergleich mit dem monoklonalen Antikörper Emicizumab (Hemlibra®) gezogen werden. Allerdings sind laut Studienautoren die jährlichen Raten an behandelten Blutungen unter Valoctocogene Roxaparvovec ähnlich wie die der Langzeit-Prophylaxe mit Emicizumab. Weitere Studien sind auch an dieser Stelle nötig.

Dauerhafter Therapieerfolg?

Privatdozent Dr. Robert Klamroth, Chefarzt der Klinik für Innere Medizin – Angiologie und Hämostaseologie des Vivantes Klinikum im Friedrichshain, Berlin, äußerte gegenüber dem Science Media Center, dass die Gentherapie mit Valoctocogene Roxaparvovec eine „vielversprechende Therapieoption darstellt“. Er gab aber zu bedenken, dass sie bislang „keine dauerhafte Lösung“ bietet. Ein Problem sieht er in den individuell sehr variablen Ergebnissen. Daher lasse sich „sehr schwer beziehungsweise gar nicht voraussagen“, ob eine Therapie bei einem einzelnen Patienten zum ­Erfolg führt. Allerdings spreche „der überwiegende Anteil der Patienten […] positiv auf die Therapie an“. Klamroth merkte außerdem an, dass die eingeschleuste Erbinformation aufgrund der Regeneration der Leberzellen verloren ginge. Seiner Meinung nach sei eine Gentherapie aufgrund der Bildung neutralisierender Antikörper nicht mit demselben Virus wiederholbar. In diesem Zusammenhang verwies er auf eine Phase-I-Studie mit ­einem lentiviralen Vektor, der dazu führt, dass das Zielgen direkt ins Genom der Zelle integriert wird und dadurch länger erhalten bleiben könnte. Hier bestünde allerdings das Risiko der Aktivierung von Onkogenen und der Entstehung von Krebs.

Prof. Dr. Wolfgang Miesbach, Leiter des Schwerpunkts Hämostaseologie in der Medizinischen Klinik II am Universitätsklinikum Frankfurt wies darauf hin, dass die Studie mit 134 Patienten mit schwerer Hämophilie die weltweit größte Anzahl an Studienteilnehmern in einer Gentherapie-Studie der Bluterkrankheit einschloss. Sie sei die am „weitesten fortgeschrittene Studie zur Gentherapie der Hämophilie A.“ Ferner erläuterte er: „Darüber hinaus gibt es weitere Phase-III-Studien mit anderen Virus-Kapsiden und Gentherapiekonstrukten. Es bleibt abzuwarten, welcher Ansatz am erfolgreichsten sein wird und wie sich die Faktor-VIII-Aktivität im zeitlichen Verlauf weiter entwickeln wird.“

Verfügbarkeit der Therapie

Das Zulassungsverfahren von Roctavian in der EU läuft derzeit. Wie hoch die Therapiekosten sein werden, konnte der Hersteller auf Anfrage nicht mitteilen, da noch keine Preisverhandlungen mit Kostenträgern stattgefunden hätten. Nach Schätzungen von GlobalData im August 2021 könnte sich der Preis für eine Dosis auf drei Millionen US-Dollar belaufen. Wann Patienten außerhalb der Studie Zugang zu der neuen Therapie bekommen können, ist ebenfalls offen. Bis zur finalen Zulassung ist laut BioMarin kein Off-Label-Use vorgesehen. |

Literatur

BioMarin’s Roctavian could transform the treatment landscape for severe hemophilia A, says GlobalData. Informationen von GlobalData, 9. August 2021, www.globaldata.com/biomarins-roctavian-transform-treatment-landscape-severe-hemophilia-says-globaldata/

EU/3/16/1622: Orphan designation for the treatment of haemophilia A. Informationen der Europäischen Arzneimittelagentur (EMA), www.ema.europa.eu/en/medicines/human/orphan-designations/eu3161622

Gentherapie gegen Bluterkrankheit Hämophilie A – Research in Context – Informationen des Science Media Centers, 16. März 2022

Kalnins W et al. Frauen mit Blutungserkrankungen. Broschüre der Deutsche Hämophilie-Gesellschaft zur Bekämpfung von Blutungserkrankungen e. V., Österreichischen Hämophilie-Gesellschaft, Schweizerische Hämophilie-Gesellschaft, Stand September 2013

Korrespondenz der DAZ-Redaktion mit dem Hersteller BioMarin, 21. April 2022

Ozelo MC, Mahlangu J, Pasi KJ et al. Valoctocogene Roxaparvovec Gene Therapy for Hemophilia A. NEJM 2022;386(11): 1013 – 1025

Roctavian: Withdrawal of the marketing authorisation application. Informationen der Europäischen Arzneimittelagentur (EMA), www.ema.europa.eu/en/medicines/human/withdrawn-applications/roctavian

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