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Pandemie Spezial
Antikoagulation für alle COVID-19-Patienten?
Leitlinien und Robert Koch-Institut bieten Orientierung
Eine Infektion mit SARS-CoV-2 kann vermehrt mit thromboembolischen Komplikationen einhergehen. So treten bei bis zu jedem dritten Patienten auf Intensivstation tiefe Beinvenenthrombosen und Lungenembolien auf. Bei schweren Krankheitsverläufen sind sie häufig mitverantwortlich für den Tod des Patienten [1].
Überschießende Aktivierung der Blutgerinnung
Welche Mechanismen der Thrombogenese bei COVID-19 zugrunde liegen, werden immer mehr entschlüsselt. Für den Eintritt in die Wirtszellen bindet das Virus an die Angiotensin-converting-enzyme(ACE)-2-Rezeptoren – die besonders auf Endothelien und alveolären Epithelzellen vorhanden sind. Daraufhin kann es zur Schädigung der Zellen kommen – entzündliche Infiltrationen und eine überschießende Produktion proinflammatorischer Zytokine sind die Folge. Darüber hinaus kommt es zu einer verstärkten Aktivierung des Blutgerinnungssystems – neben venösen Thromboembolien (VTE) treten auch Mikrothromben in verschiedenen Geweben auf [1, 2, 3, 4]. In den Blutuntersuchungen der Patienten finden sich sowohl erhöhte Zytokinspiegel (insbesondere Interleukin 6) als auch erhöhte Werte spezifischer Thrombose-Biomarker [5, 1].
Thromben-Netzwerk besonders dicht und stabil - Fibrinolyse erschwert
Ein internationales Forschungsteam unter Federführung der Universität Gießen untersuchte die gestörte Blutgerinnung bei COVID-19 Patienten genauer. So wurden in der Studie die Gerinnungsparameter, die Struktur der gebildeten Thromben und die Gerinnbarkeit im Blutplasma von COVID-19-Patienten mit an Influenza erkrankten Patienten verglichen. Hier konnte gezeigt werden, dass die Thromben bei einer Corona-Infektion deutlich effektiver gebildet wurden und ein dichteres und stabileres Netzwerk aufwiesen. In den Fokus der Untersuchung rückte der Gerinnungsfaktor XII – laut den Studienautoren scheint eine verstärkte Aktivierung des Faktors mitverantwortlich für die gesteigerte Gerinnselbildung bei COVID-19 zu sein. Im Blut der COVID-19-Patienten zeigten sich ebenfalls erhöhte Spiegel von Fibrinolyse-Inhibitoren – ein Hinweis, dass diese Thromben einer Auflösung nicht so leicht zugänglich sind. Inwieweit diese neuen Forschungsergebnisse auf die alltägliche Praxis übertragbar sind, muss jedoch durch weitere klinische Studien untermauert werden [1].
Komplikationen auch nach Infektionsende
Dass venöse Thromboembolien eine gefürchtete Komplikation von COVID-19 sind, ist bekannt – aber auch nach überstandener Erkrankung ist die Gefahr nicht gebannt. Einer schwedischen Studie zufolge bleibt das Thromboserisiko auch nach der Genesung monatelang erhöht. Ein erhöhtes Risiko für tiefe Venenthrombosen war bis zu drei Monate nach positivem Testergebnis nachweisbar. Das Risiko für die Entwicklung einer Lungenembolie war sogar bis zu sechs Monate nach Infektion signifikant erhöht. Besonders gefährdet waren Patienten mit schwerem COVID-19-Verlauf. Dennoch sollte laut den Studienautoren aufgrund des erhöhten Blutungsrisikos nicht jeder Patient automatisch eine medikamentöse Thromboseprophylaxe erhalten [6].
Leitlinienempfehlungen ...
In der Praxis stellt sich häufig die Frage, welche Patienten von einer möglichen Antikoagulationstherapie profitieren. Hilfestellung dazu liefern zwei aktuelle Leitlinien (S2e-Leitlinie „SARS-CoV-2/Covid-19-Informationen und Praxishilfen für niedergelassene Hausärztinnen und Hausärzte“; S3-Leitlinie „Empfehlungen zur stationären Therapie von Patienten mit COVID-19“). Ergänzend dazu liefert die Fachgruppe COVRIIN am Robert Koch-Institut eine Übersichtstabelle zur medikamentösen Therapie bei COVID-19 mit Bewertung [7, 8, 9].
... für ambulante Patienten
Die aktuellen Leitlinien empfehlen bei ambulant behandelten COVID-19-Patienten ohne Risiko für einen schweren Krankheitsverlauf keine prophylaktische Antikoagulation. Hierunter wird eine medikamentöse Antikoagulation im Dosisbereich der Prophylaxe venöser Thromboembolien verstanden. Die Empfehlung stützt sich auf zwei randomisierte kontrollierte klinische Studien (RCT), in denen bei an COVID-19-erkrankten Patienten die Standard-Thromboseprophylaxe im Vergleich zu Placebo keine Vorteile bezüglich des Auftretens thromboembolischer Komplikationen, Hospitalisierungsrate oder Mortalität zeigte. Für eine routinemäßige Thromboseprophylaxe im ambulanten Setting ist derzeit keine ausreichende Evidenz vorhanden [7, 9, 10, 11].
Bei alten und/oder vorerkrankten COVID-19-Patienten mit einem hohen Risiko für einen schweren Krankheitsverlauf kann hingegen eine medikamentöse Thromboseprophylaxe mit einem niedermolekularen Heparin (NMH) in Erwägung gezogen werden. Zur Prophylaxe thromboembolischer Ereignisse wird z. B. Enoxaparin je nach Risikoprofil in einer Dosierung zwischen 2000 IE und 4000 IE einmal täglich s. c. appliziert [19]. Bei Patienten, die in der Dauermedikation orale Antikoagulanzien erhalten, darf keine Therapie mit niedermolekularem Heparin erfolgen – bei bestehender ASS-Dauertherapie sollte vorsichtig abgewogen werden [7, 9].
... für stationäre Patienten
Alle hospitalisierten COVID-19-Patienten, für die keine therapeutische Antikoagulation (z. B. bei bestehender VTE) indiziert ist, sollten unter Berücksichtigung entsprechender Kontraindikationen eine standardmäßige medikamentöse Thromboseprophylaxe erhalten. Vorzugsweise sollten niedermolekulare Heparine in einer für den Hochrisikobereich zugelassenen Dosierung (z. B. Enoxaparin 4000 IE einmal täglich s. c., Dalteparin 5000 IE einmal täglich s. c.) angewendet werden. Alternativ (z. B. bei Heparinunverträglichkeit) kann auch Fondaparinux zum Einsatz kommen [8, 9]. Dabei beziehen sich die Leitlinienautoren auf die S3-Leitlinie „Prophylaxe der venösen Thromboembolie“ – in mehreren prospektiv durchgeführten klinischen Studien konnte eine signifikante Wirksamkeit der medikamentösen Thromboseprophylaxe bei stationären Patienten mit akuten internistischen Erkrankungen gezeigt werden ohne Zunahme schwerer Blutungen. Die Ergebnisse seien laut der Leitlinienautoren auf das aktuelle Pandemiegeschehen übertragbar [8, 12].
In einer amerikanischen Kohortenstudie an über 4000 COVID-19-Patienten konnte gezeigt werden, dass eine innerhalb von 24 Stunden nach stationärer Aufnahme eingeleitete Thromboseprophylaxe im Vergleich zu keiner oder später eingeleiteten Antikoagulation die kumulative 30-Tages-Mortalität von 18,7% auf 14,3% senkte [13]. Die Ergebnisse untermauern den Nutzen einer prophylaktischen Antikoagulation bei hospitalisierten COVID-19-Patienten.
Keine halbtherapeutische Antikoagulation
Die aktuellen Leitlinien raten von einer halbtherapeutischen Antikoagulation (Gabe der halben volltherapeutischen Dosis, z. B. Enoxaparin 0,5 mg/kg Körpergewicht zweimal täglich s. c.) bei hospitalisierten COVID-19-Patienten ab. Dabei bezieht sich die evidenzbasierte Empfehlung auf drei randomisierte klinische Studien, in denen die intensivierte (halbtherapeutische) Antikoagulation im Vergleich zur standarddosierten Prophylaxe keine signifikanten Unterschiede in Bezug des Auftretens venöser thromboembolischer Ereignisse nach 30 Tagen oder Mortalität nach 30 bzw. 90 Tagen zeigte. Hingegen zeigte sich bei Patienten unter halbtherapeutischer Antikoagulation eine leichte Tendenz für das vermehrte Auftreten schwerwiegender Blutungen. Eine routinemäßige halbtherapeutische Antikoagulation kann daher derzeit nicht empfohlen werden. In begründeten Einzelfällen (z. B. venöse Thromboembolien in der Vorgeschichte) kann nach sorgfältiger Abwägung des Nutzen-Risiko-Verhältnisses gegebenenfalls eine intensivierte Prophylaxe in Erwägung gezogen werden [8, 14, 15, 16, 19].
Therapeutische Antikoagulation bei nichtintensivpflichtigen Patienten
Unter einer therapeutisch dosierten Antikoagulation wird die Dosis, die zur Therapie tiefer Venenthrombosen und Lungenembolien zum Einsatz kommt, verstanden. Derzeit wird sie nicht routinemäßig empfohlen. Bei nichtintensivpflichtigen COVID-19-Patienten und erhöhtem Risiko (z. B. D-Dimere ≥ 2 mg/l) kann unter Berücksichtigung des Blutungsrisikos eine therapeutische Antikoagulation erwogen werden. Bevorzugt sollten niedermolekulares Heparin oder unfraktioniertes Heparin (UFH) eingesetzt werden. Die Dosis beträgt z. B. Enoxaparin 1,5 mg/kg Körpergewicht einmal täglich s. c. bzw. 1 mg/kg Körpergewicht zweimal täglich s. c. Der Nutzen einer therapeutischen versus einer prophylaktischen Antikoagulation bei nichtintensivpflichtigen COVID-19-Patienten wurde in drei kontrollierten klinischen Studien (ATTACC, ACTIV-4a, REMAP-CAP) prospektiv untersucht. Dabei zeigte sich ein Vorteil unter der therapeutischen Antikoagulation – das Krankenhausüberleben ohne Organunterstützung konnte bei Patienten, die zu Beginn der Studie keine ventilatorische Unterstützung oder die Anwendung von Vasopressoren/inotropen Medikamenten benötigten, um 4% gesteigert werden. Der Nutzen konnte sowohl bei Patienten mit niedrigen D-Dimer-Spiegeln als auch bei Patienten mit hohen D-Dimer-Spiegeln beobachtet werden, wobei Patienten mit hohen Spiegeln am meisten profitierten [8, 9, 17, 19].
Wenn die therapeutische Antikoagulation indiziert ist, sollte bei deutlich eingeschränkter Nierenfunktion (eGFR < 30 ml/min) der Einsatz von unfraktioniertem Heparin unter engmaschigem Monitoring bevorzugt werden. Bei UFH-Resistenz kann alternativ Argatroban angewendet werden (CAVE: hohes Blutungsrisiko) [8].
Zur Dauer der therapeutischen Antikoagulation bei nichtintensivpflichtigen COVID-19-Patienten nimmt die COVRIIN-Fachgruppe am RKI Stellung. Sie empfehlen eine Dauer von 14 Tagen bzw. bis zur Entlassung – eine Fortführung kann nach individueller Risikobewertung erfolgen. Sollte es im Verlauf zur Intensivpflichtigkeit kommen, ist bei fehlender Indikation (z. B. VTE) die therapeutische Antikoagulation zu beenden [9].
Therapeutische Antikoagulation bei intensivpflichtigen Patienten
Außerhalb der etablierten Indikationen (z. B. VTE) wird für intensivpflichtige COVID-19-Patienten keine therapeutische Antikoagulation empfohlen [8, 9]. In einer Studie an über 1000 COVID-19-Patienten konnte gezeigt werden, dass die therapeutische Antikoagulation keinen Einfluss auf das Auftreten thromboembolischer Ereignisse bzw. Mortalität bis Tag 28 hatte – aber vermehrt zu starken Blutungen führte [18]. Auch in den REMAP-CAP-, ACTIV-4a- und ATTACC-Studien konnte kein signifikanter Unterschied der therapeutischen versus der prophylaktischen Antikoagulation bei intensivpflichtigen COVID-19-Patienten gezeigt werden. Auch hier traten signifikant mehr schwerwiegende Blutungen auf [17]. Aufgrund der fehlenden Nutzenbelege und dem vermehrten Auftreten von Blutungen raten sowohl die Leitlinienautoren als auch die Fachgruppe am RKI ohne entsprechende Indikation von einer therapeutischen Antikoagulation bei intensivpflichtigen COVID-19-Patienten derzeit ab [8, 9].
Antikoagulation nach Krankenhausentlassung
Ein routinemäßiges Fortführen der prophylaktischen oder therapeutischen Antikoagulation nach Krankenhausentlassung wird derzeit nicht empfohlen. Die Entscheidung zur Fortführung sollte individuell bewertet werden und bleibt eine Einzelfallentscheidung [9]. |
Literatur
[1] Wygrecka M et al. Altered fibrin clot structure and dysregulated fibrinolysis contribute to thrombosis risk in severe COVID-19. Blood Adv 2021, doi:10.1182/bloodadvances.2021004816
[2] Walls AC et al. Structure, function, and antigenicity oft he SARS-CoV-2 spike glycoprotein. Cell 2020;181(2):281-292
[3] Fang XZ et al. Immunothrombosis in acute respiratory dysfunction of COVID-19. Front Immunol 2021;12:651541
[4] Thachil J et al. ISTH interim guidance on recognition and management of coagulopathy in COVID-19. J Thromb Haemost 2020;18(5):1023-1026
[5] Quin Qin C et al. Dysregulation of immune response patients with COVID-19 in Wuhan, China. Clin Infect Dis 2020;71:762-768
[6] Katsoularis I et al. Risks of deep vein thrombosis, pulmonary embolism, and bleeding after COVID-19: nationwide self-controlled cases series and matched cohort study. BMJ 2022;377:e069590
[7] SARS-CoV-2/COVID-19-Informationen und Praxishilfen für niedergelassene Hausärztinnen und Hausärzte. S2e-Leitlinie, Stand: 2022, AWMF-Register-Nr. 053-054
[8] Empfehlungen zur stationären Therapie von Patienten mit COVID-19. S3-Leitlinie, Stand: Februar 2022, AWMF-Register-Nr. 113/001
[9] Medikamentöse Therapie bei COVID-19 mit Bewertung durch die Fachgruppe COVRIIN beim Robert Koch-Institut. www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/COVRIIN_Dok/Therapieuebersicht.pdf?__blob=publicationFile
[10] Ananworanich J et al. Randomized study of rivaroxaban vs. placebo on disease progression and symptoms resolution in high-risk adults with mild COVID-19. Clin Infect Dis 2021;ciab813
[11] Connors JM et al. Effect of Antithrombotic Therapy on Clinical Outcomes in Outpatients With Clinically Stable Symptomatic COVID-19: The ACTIV-4B Randomized Clinical Trial. JAMA 2021;326:1703-1712
[12] Prophylaxe der venösen Thromboembolie (VTE). S3-Leitlinie, Stand: Oktober 2015, AWMF-Register-Nr. 003/001
[13] Rentsch CT et al. Early initiation of prophylactic anticoagulation for prevention of coronavirus disease 2019 mortality in patients admitted to hospital in the United States: cohort study. BMJ 2021;372:n311
[14] Sadeghipour P et al. Effect of intermediate-dose vs. standard-dose prophylactic anticoagulation on thrombotic events, extracorporeal membrane oxygenation treatment, or mortality among patients with COVID-19 admitted to the intensive care unit: the INSPIRATION randomized clinical trial. JAMA 2021;325(16):1620-1630
[15] Perepu US et al. Standard prophylactic versus intermediate dose enoxaparin in adults with severe COVID-19: A multi-center, open-label, randomized, controlled trial. J Thromb Haemost 2021;19(9):2225-2234
[16] Morici N et al. Enoxaparin for thromboprophylaxis in hospitalized COVID-19 patients: The X-COVID-19 randomized trial. Eur J Clin Invest. 2021;e13735.doi:10.1111/eci.13735
17] The REMAP-CAP, ACTIV-4a, and ATTACC Investigators. Therapeutic anticoagulation in critically ill patients with COVID-19. N Engl J Med 2021; doi.org/10.1056/NoEJMa2103417
18] Goligher EC et al. Therapeutic anticoagulation with heparin in critically ill patients with COVID-19. N Engl J Med 2021;385 (9):777-789
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