Arzneimittel und Therapie

Schnelle Hilfe bei MTX-Vergiftung

Glucarpidase bietet Ausweg bei eingeschränkter Nierenfunktion

Eine Überdosierung von Methotrexat (MTX) kann tödliche Folgen ­haben. Für den Ernstfall steht seit dem 15. April 2022 ein neues Antidot zur Verfügung. Das Enzym Glucarpidase (Voraxaze®) öffnet den alternativen Pfad der hepatischen Eliminierung von MTX und kann bei beeinträchtigter Nierenfunktion vor toxischen Plasmaspiegeln schützen. Die Zulassung sichert nun auch die Kostenübernahme des teuren Notfallmedikaments.

Die falsche Anwendung von Metho­trexat kann zu irreversiblen Schäden (z. B. am Knochenmark) führen und hat jedes Jahr mehrere Todesfälle zur Folge. Niedrig dosiertes MTX, wie es beispielsweise bei rheumatischen Erkrankungen einmal wöchentlich zum Einsatz kommt, birgt das Risiko einer versehentlichen täglichen Anwendung.

Täglich statt wöchentlich

So erklärte die Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft (AkdÄ) auf Anfrage, dass MTX-Überdosierungen, teilweise auch mit tödlichem Ausgang, immer wieder vorkommen. Ursächlich sei bei den an die AkdÄ gemeldeten Fällen meist eine versehentliche tägliche anstatt wöchentliche Anwendung, häufig nach Einweisung ins bzw. Entlassung aus dem Krankenhaus. Immer wieder würde z. B. nach einer Operation auch eine Kombination mit Metamizol dazukommen.

Cave Niereninsuffizienz

Ein weiterer Anwendungsfehler betrifft die fehlende Dosisanpassung bei Niereninsuffizienz. Bei einer geschätzten glomerulären Filtrationsrate (eGFR) von unter 30 ml/min/1,73 m2 ist MTX kontraindiziert.

Auch im Rahmen einer hochdosierten Krebstherapie besteht die Gefahr einer Überdosierung. Diese Komplikation ist bei guter Vorauswahl der Patienten zwar sehr selten, aber nicht vollständig zu vermeiden. In aller Regel handelt es sich dabei nicht um einen iatrogenen Dosierungsfehler.

Zur Kompensation toxischer Nebenwirkungen steht Calciumfolinat zur Verfügung. In schweren Fällen sollte eine Hämodialyse oder die Anwendung von Glucarpidase erwogen werden.

Abb.: Das Enzym Glucarpidase spaltet MTX in seine Metaboliten 2,4-Diamino-N10-methylpteroinsäure (DAMPA) und Glutamat, die über die Leber verstoffwechselt werden. Das Antidot bietet somit bei eingeschränkter Nierenfunktion einen alternativen Weg der Ausscheidung.

Ein Enzym kann helfen

Glucarpidase (Voraxaze®) wird als Ultima ratio angewendet, um toxische Methotrexat-Plasmakonzentrationen zu reduzieren. Es ist indiziert bei Erwachsenen und Kindern (im Alter ab 28 Tage) mit verzögerter Ausscheidung von Methotrexat, oder wenn das Risiko einer Methotrexat-Toxizität besteht. Zulassungsinhaber ist das ­Unternehmen Serb aus Frankreich, das sich auf Arzneimittel gegen seltene und lebensbedrohliche Krankheiten spezialisiert hat.

Glucarpidase ist ein rekombinantes bakterielles Enzym, das den carboxyterminalen Glutamat-Rest von Fol­säure und Strukturverwandten wie MTX hydrolysiert. MTX wird in seine Metaboliten 2,4-Diamino-N10-­methylpteroinsäure (DAMPA) und Glutamat umgewandelt, die über die Leber verstoffwechselt werden (s. Abb.). Glucarpidase bietet damit einen alternativen Eliminationsweg von MTX bei Patienten mit Nierenfunktionsstörung während einer MTX-Hochdosistherapie. Aufgrund seiner Größe gelangt das Protein Glucarpidase nicht ins Zellinnere und hebt die antineoplastischen Wirkungen von MTX nicht auf.

Die Wirksamkeit wurde in vier offenen, multizentrischen, einarmigen Compassionate-Use-Studien bei insgesamt 476 Patienten mit Nierenfunktionsstörungen untersucht. Innerhalb von 15 Minuten nach der Anwendung trat eine mediane Reduktion der MTX-Konzentration von > 98% auf. Glucar­pidase kann das Risiko einer anhaltenden Nierentoxizität verringern, eine vorbestehende Nierenschädigung infolge der MTX-Gabe kann das Antidot aber nicht rückgängig machen.

Keine Dosisanpassung nötig

Voraxaze® wird im Kühlschrank bei 2 °C bis 8 °C gelagert. Nach Rekonstitution mit 1 ml steriler 0,9%iger Natriumchloridlösung enthält jede Durchstechflasche 1000 Einheiten Glucar­pidase. Die Anwendung sollte optimalerweise innerhalb von 60 Stunden nach Beginn der MTX-Hochdosisinfusion stattfinden. Klinische Daten deuten jedoch darauf hin, dass das Antidot auch später noch wirksam ist. Die empfohlene Dosis ist eine Einzeldosis von 50 Einheiten pro kg Körpergewicht als intravenöse Bolusinjektion über fünf Minuten. Bei Patienten mit Nierenfunktionsstörung ist keine Dosisanpassung nötig, ebenso wenig bei Kindern und Jugendlichen. Zugelassen ist Glucarpidase ab einem Alter von 28 Tagen. Die klinische Datenbank für gepoolte Sicherheitsdaten zu Glucar­pidase enthält Daten von 232 Patienten im Alter bis 17 Jahre.

Abstand zu Folinsäure

Es ist nicht ratsam, mehrere Antidote gleichzeitig einzusetzen. Folinsäure ist ein kompetitives Substrat der Glucarpidase, das mit MTX um die Bindungsstellen konkurrieren kann. Es wird daher empfohlen, Folinsäure nicht innerhalb von zwei Stunden vor oder nach einer Glucarpidase-Gabe ­anzuwenden. Die Folat-Reserven aufzufüllen, lohnt sich frühestens zwei Stunden nach der Glucarpidase-Gabe, da das intrazelluläre MTX sonst die Reduktion von Folat zu seiner aktiven Form behindert.

Verdachtsfälle melden

Als häufigste Nebenwirkungen nach Anwendung von Glucarpidase werden ein brennendes Gefühl (< 1%), Kopfschmerzen (< 1%), Parästhesien (2%), Hautrötung (2%) und Hitzegefühl (< 1%) berichtet. Möglich ist auch ein Rebound-Effekt, der im Studienrahmen bei etwa jedem fünften Patienten auftrat.

Voraxaze® wurde unter „außergewöhnlichen Umständen“ zugelassen. Das bedeutet, dass es aufgrund der Seltenheit der Erkrankung und aus ethischen Gründen nicht möglich war, vollständige Informationen zu diesem Arzneimittel zu erhalten. Das schwarze Dreieck auf dem Präparat weist darauf hin, dass das Arzneimittel einer zusätzlichen Überwachung unterliegt. Die Europäische Arzneimittel-Agentur wird die Sicherheit jährlich bewerten und fordert Angehörige von Gesundheitsberufen auf, jeden Verdachtsfall einer Nebenwirkung zu melden.

NUB 1 sichert Kostenübernahme

In den USA ist Glucarpidase bereits seit 2012 zugelassen. Von dort aus wurde das Antidot in den vergangenen Jahren importiert – allerdings mit einem großen Haken: Die Kliniken blieben in der Regel auf den Kosten sitzen. Für eine Einmalgabe ist mit Gesamtkosten von ca. 90.000 bis 110.000 Euro zu rechnen. Die Deutsche Gesellschaft für Hämatologie und Medizinische Onkologie (DGHO) stellte mehrfach den Antrag, Glucar­pidase als „Neue Untersuchungs- und Behandlungsmethode“ (NUB) den Status 1 zu verleihen, um dessen Einsatz über Case-Mix-Änderungen zu finanzieren. Im Jahr 2022 trugen die Bemühungen nun endlich Früchte. DGHO-Vertreter Dr. Markus Thalheimer, ­Universitätsklinikum Heidelberg: „Der NUB-Status 1 kam vor allem ­wegen der bevorstehenden Zulassung. Gleichzeitig hatten wir dem Institut für das Entgeltsystem im Krankenhaus (InEK) sehr ausführlich den Stellenwert des Medikaments in den Leitlinien trotz fehlender Zulassung und die hohen Verluste der Kliniken im Fall des notwendigen Einsatzes erklärt. Dazu kam sicher auch hilfreich die Vielzahl der Anfragen der Krankenhäuser hinzu, die die bundesweite und flächendeckende Problematik der fehlenden Erstattung verdeutlichten.“ Durch den NUB-Status 1 können die Kliniken, die es benötigen, nun ein Entgelt mit den Krankenkassen vereinbaren, was vorher nicht möglich war. Die Bestellung erfolgt über die Klinikapotheken. Einen Mehrverbrauch oder breiteren Einsatz erwartet Thalheimer aber nicht, da die Zentren Glucarpidase auch schon bisher bei medizinischer Notwendigkeit eingesetzt haben. |

Literatur

Hirsch S et al. Methotrexat: Todesfälle durch falsche Dosis. Dtsch Arztebl 2020;117(3):A-76/B-68/C-64

NUB Antrag 2021/2022 zu Glucarpidase, gestellt von der Deutschen Gesellschaft für Hämatologie und Medizinische Onkologie (DGHO), Stand: 15. September 2021, www.dgho.de/arbeitskreise/a-g/drg-gesundheitsoekonomie/nub-2022/22-53-glucarpidase-nub-anfrage-dgho-stand-2021-09-15-final.pdf

Rausch R. So lässt sich die MTX-Therapie korrigieren. DAZ.online vom 3. September 2021, www.deutsche-apotheker-zeitung.de/news/artikel/2021/09/03/so-laesst-sich-die-mtx-therapie-korrigieren/chapter:all

Zusammenfassung der Merkmale des Arzneimittels Voraxaze®. Europäische Arzneimittel-Agentur (EMA), www.ema.europa.eu/en/documents/product-information/voraxaze-epar-product-information_de.pdf

Apothekerin Rika Rausch

0 Kommentare

Das Kommentieren ist aktuell nicht möglich.