Foto: MoiraM/AdobeStock

Medizin

Leben mit Querschnittlähmung

Was eine Läsion des Rückenmarks für die Betroffenen bedeutet

Das Rückenmark ist die Datenautobahn unseres Körpers. Jeden Moment werden unzählige Impulse durch die Axone geleitet. Dass wir gehen können, unseren Stuhlgang und unsere Blasenfunktion kontrollieren oder ein Kitzeln an den Füßen spüren können – ohne das Rückenmark wäre all das unmöglich. Eine Querschnittlähmung bedeutet deshalb mehr als den ohnehin schon schwer zu verkraftenden Verlust von Bewegung und Mobilität. Es handelt sich um ein komplexes Krankheitsbild, das kein Organsystem verschont. | Von Tony Daubitz 

Wer den Begriff Querschnittlähmung hört, denkt sicherlich zuerst an eine Lähmung durch Unfälle oder Verletzungen, also traumatisch verursachte Querschnittlähmungen. Zahlenmäßig bildet diese Art der Rückenmarksverletzung deutschlandweit aber nur 45% der circa 2350 neuen Fälle pro Jahr ab (Stand 2018) [1]. Der demografische Wandel sorgt dafür, dass die Zahl der nicht-traumatisch bedingten Querschnittlähmungen, die durch akute und chronische Erkrankungen entstehen, stetig steigt. Hierzu zählen beispiels­weise Tumore, die das Rückenmark komprimieren, Infektionen, degenerative Erkrankungen der Wirbelsäule (z. B. Spondylose) sowie Autoimmunerkrankungen (z. B. Multiple Sklerose, Guillain-Barré-Syndrom). Spinale Blutungen oder auf der anderen Seite Ischämien der versorgenden Blut­gefäße können das Rückenmark schädigen und Lähmungen hinterlassen. Eine Querschnittlähmung kann aber auch angeboren sein. Bei der Spina bifida schließt sich das Neuralrohr von Feten nicht. Über den Wirbelsäulenspalt wölben sich je nach Schweregrad Rückenmarkshäute und Rückenmark aus der Wirbelsäule heraus, wodurch die Nerven irreparabel geschädigt werden können [2].

Höhe der Läsion entscheidend für Einschränkung

Vereinfacht vermittelt das Rückenmark mit seinen absteigenden motorischen Bahnen Bewegungen, mit seinen aufsteigenden sensorischen Nervenbahnen ermöglicht es Empfindungen und steuert mit dem vegetativen Nervensystem die Funktion vieler Organe.

Eine komplette Lähmung setzt all diese Funktionen unterhalb der Läsion außer Kraft. Welche Einschränkungen der Einzelne zu verkraften hat, entscheidet sich nach der Höhe der Rückenmarksläsion, dem sogenannten neurologischen Niveau. Dieses wird in einer neurologischen Untersuchung nach den Standards der American Spinal Injury Association (ASIA), den International Standards for Neurological Classification of Spinal Cord Injury, festgestellt [3]. Eine Querschnittlähmung wird nach dem tiefsten intakten Rückenmarkssegment charakterisiert, bei dem Sensibilität und Motorik auf beiden Körperseiten gegeben sind (s. Abb. 1). Hierzu werden die Dermatome und Myotome, also die Hautareale und Muskeln, die von den Spinalnerven der einzelnen Segmente innerviert werden, untersucht. Dazu werden entsprechende Kennmuskeln angespannt und Hautareale berührt beziehungsweise mit Nadelstichen versetzt.

In der Mehrzahl der Fälle bedeutet eine Querschnittlähmung aber nicht, dass wirklich der komplette Querschnitt des Rückenmarks zerstört wurde. Oftmals liegt eine inkomplette Lähmung vor, die je nach Ausmaß noch bestimmte Funktionen erlaubt. Ob eine Querschnittlähmung komplett oder inkomplett ist, wird nach der Klassifikation der American Spinal Injury Association durch eine Untersuchung der Sensibilität und Kontraktilität am Anus festgestellt, da dieser von den letzten relevanten Rückenmarksegmenten S4 und S5 (Sakralsegment 4 bis 5) versorgt wird [3]. Abhängig davon, inwieweit motorische und sensible Funktionen unterhalb des neurologischen Niveaus erhalten sind, werden verschiedene Grade sensibel oder motorisch inkompletter Querschnittlähmungen unterschieden [3].

 

Abb. 1: Übersicht der Rückenmarksegmente (links) und Dermatome bzw. Kennmuskeln verschiedener Myotome (rechts). Das Rückenmark wird in gedachte Segmente eingeteilt, aus denen pro Segment ein Spinalnervenpaar entspringt. Jedes Nervenpaar tritt durch eine Öffnung zwischen den benachbarten Wirbeln aus. Die Segmente und Nerven tragen meist den Namen desjenigen Wirbels, unterhalb dessen die Nerven austreten. Die Nerven innervieren spezifische Regionen des Körpers, beispielsweise Hautareale (Derma­tome) und Muskeln (Myotome). Die Segmente der Wirbelsäule entsprechen aber nicht genau den Wirbeln. Die Wirbelsäule wächst nach der Geburt schneller als das Rückenmark, weshalb das Rückenmark bereits auf Höhe des zweiten Lendenwirbels endet. Daher müssen die Nervenwurzeln der letzten Segmente eine lange Strecke zurücklegen, bevor sie aus der Wirbelsäule austreten. Diese Nervenwurzeln bilden die Cauda equina (Pferdeschweif). Verletzungen der Cauda equina zählen streng genommen nicht zu den Rückenmarksläsionen, da die Nervenwurzeln zum peripheren Nervensystem gehören, die Symptome ähneln sich aber (modifiziert nach [2]). C: Zervikalsegmente, Th: Thorakalsegmente, S: Sakralsegmente (Abkürzungen gelten auch für Wirbel und Spinalnerven)

Einschränkungen der Motorik und Mobilität

Je nach Höhe und Ausmaß der Läsion ergeben sich unterschiedliche Konsequenzen für die Betroffenen (s. Kasten „Welche Einschränkungen haben Läsionen in den jeweiligen Rückenmarksegmenten zur Folge?“). Was für den Einzelnen zweifellos im Vordergrund steht, ist der Verlust der Mobilität und Beweglichkeit. Betroffene mit hohen Läsionen im Halsbereich können all ihre Gliedmaßen nicht mehr bewegen (Tetraplegie) und sind auf eine intensive Pflege und Begleitung angewiesen. Läsionen im Thorakalmark und darunter lähmen die untere Körperhälfte, man spricht von Paraplegie. Betroffene sind in der Lage, ihre Arme zu bewegen, und erlangen dadurch im Alltag mehr Freiheit. Bei tiefen Läsionen können Betroffene mithilfe von Ganzbeinorthesen und weiteren Gehhilfen stehen oder gar laufen. Lähmungen bedeuten dabei nicht immer, dass die Muskeln schlaff sind. Ein Großteil der Patienten, über 70%, berichten von spastischen Bewegungsstörungen [4]. Solch eine Spastik kommt durch die gesteigerten spinalen Eigenreflexe der Muskeln zustande. Das heißt, der Muskeltonus ist erhöht, sobald eine Extremität passiv bewegt wird. Auch unwillkürliche Bewegungen können Teil der Symptomatik sein. Nicht immer muss die Spastik von Nachteil sein. Viele Betroffene nutzen diese unwillkürliche Muskelsteifigkeit, um beispielsweise Umlagerungen oder ihre Haltung besser zu steuern [5]. Je nach Ausprägung kann die Spastizität das tägliche Leben aber deutlich beeinträchtigen und muss therapiert werden, hauptsächlich mittels Physiotherapie. Unterstützend können auch antispastische Wirkstoffe wie Baclofen (Lioresal®) oder Tizanidin (Sirdalud®) eingesetzt werden, oder auch Botulinum-Toxin Typ A (Xeomin®) bei fokalen Spastiken [6].

Gleichzeitig bedeutet die fehlende mechanische Belastung durch die Lähmung, dass Muskeln atrophieren und Gelenke an Beweglichkeit verlieren. Physiotherapie kann auch hier gegensteuern. Verbliebene aktive Muskeln und Gelenke auf der anderen Seite werden schnell überlastet, z. B. durch das Rollstuhlfahren. Paraplegiker leiden deshalb oft unter dem Karpaltunnelsyndrom [7]. Die fehlende mechanische Belastung unterhalb des Lähmungsniveaus reduziert zudem die Knochendichte und kann zu einer zu behandelnden Osteoporose führen. Auch Dekubitusulzera und Schmerzen sind häufige, unangenehme Begleiter einer Querschnittlähmung [7].

Welche Einschränkungen haben Läsionen in den jeweiligen Rückenmarksegmenten zur Folge?

Die Einschränkungen eines Betroffenen entscheiden sich nach der Höhe der Läsion im Rückenmark. Eine komplette Lähmung setzt alle Funktionen unterhalb der Läsion außer Kraft. Eine inkomplette Lähmung erlaubt je nach Ausmaß noch bestimmte Funktionen. Im Folgenden ist aufgeführt, welche Einschränkungen Läsionen in den verschiedenen Segmenten zur Folge haben und welche Fähigkeiten erhalten bleiben (modifiziert nach [23]):

C1 bis C4

  • Tetraplegie
  • oftmals keine selbstständige Atmung
  • Sprechen unter Umständen eingeschränkt
  • vollständige bzw. überwiegende Pflegeabhängigkeit
  • Beeinträchtigung der Blasen-, Darm-, Sexual- und eventuell der Schluckfunktion

C5 bis C8

  • eingeschränkte Funktion der oberen Extremitäten und Hände
  • Atmung selbstständig, gegebenenfalls eingeschränkt, Husten eingeschränkt
  • weitgehend selbstständig bei täglichen Tätigkeiten
  • Fortbewegung in motorisiertem Rollstuhl und in angepassten Kraftfahrzeugen unter Umständen möglich
  • Beeinträchtigung der Blasen-, Darm-, Sexualfunktion
  • Darmmanagement und Katheterisierung möglicherweise selbstständig

Th1 bis Th5

  • normale Arm- und Handfunktion
  • Paraplegie
  • Husten gegebenenfalls eingeschränkt
  • Beeinträchtigung der Blasen-, Darm-, Sexualfunktion
  • Darmmanagement und Katheterisierung selbstständig
  • Nutzung eines manuellen Rollstuhls möglich
  • Fortbewegung in angepassten Kraftfahrzeugen

Th6 bis Th12

  • normale Arm- und Handfunktion
  • Beweglichkeit des Oberkörpers
  • Paraplegie
  • Balance im Sitzen
  • produktives Husten möglich
  • Beeinträchtigung der Blasen-, Darm-, Sexualfunktion
  • Darmmanagement und Katheterisierung selbstständig
  • meist Nutzung eines manuellen Rollstuhls

L1 bis L5

  • Funktionsverlust in Hüften und Beinen
  • Beeinträchtigung der Blasen-, Darm- und Sexualfunktion
  • Darmmanagement und Katheterisierung selbstständig
  • Nutzung eines Rollstuhls oder Laufen mit Hilfsmitteln

S1 bis S5

  • gewisser Funktionsverlust in Hüften und Beinen
  • Beeinträchtigung der Blasen-, Darm- und Sexualfunktion
  • Darmmanagement und Katheterisierung selbstständig
  • Laufen möglich

Auswirkung auf Körperfunktionen

Motorische Einschränkungen, so verheerend sie auch sind, bilden aber nur die Spitze des Eisberges. Die Querschnittlähmung verursacht ein komplexes Krankheitsbild mit weitreichenden Störungen vieler Körperfunktionen [2]. Bei einer Tetraplegie ist z. B. oft mit Atemstörungen und Schluckstörungen zu rechnen. Je nach Lähmungshöhe ist außerdem das autonome Nervensystem unterschiedlich stark in Mitleidenschaft gezogen, wodurch sich Störungen des Herz-Kreislauf-Systems, der Temperaturregulation, des Immunsystems sowie der Darm-, Blasen- und Sexualfunktion ergeben. Auch Schlafstörungen, Schmerzen und Thrombosen können zum Beschwerdebild gehören.

Gestörte Atmung

Je höher die Rückenmarksläsion liegt, umso mehr ist die Atemfunktion beeinträchtigt: Bei tieferen Läsionen (Th7 bis L1, Thorakalsegment 7 bis Lumbalsegment 1) geht lediglich die Steuerung der Bauchmuskeln verloren und damit vor allem die Fähigkeit zur forcierten Ausatmung und zum Husten. Je höher die Läsionen in den thorakalen Segmenten lokalisiert ist, umso mehr Atemmuskeln verlieren ihre Funktion: die inneren (exspiratorischen) und äußeren (inspiratorischen) Zwischenrippenmuskeln sowie inspiratorische Hilfsmuskeln am Hals. Bei Läsionen von C3 bis C5 (Zervikalsegment 3 bis 5) wird der wichtigste Atemmuskel ausgeschaltet, das Zwerchfell [8]. In diesen Fällen sind Betroffene ununterbrochen auf eine mechanische Beatmung angewiesen, dabei werden sie über eine Trachealkanüle mit Luft versorgt . Eine Alternative bietet die Zwerchfellstimulation, die auch bei Betroffenen mit hohen Läsionen eingesetzt werden kann. Der Zwerchfellschrittmacher wird an die versorgenden Nerven des Diaphragmas angeschlossen und ermöglicht den Atemzug. Bei etwas tieferen Läsionen sind zudem nicht-invasive Formen der Beatmung mit Gesichts- bzw. Nasenmaske einsetzbar. Nächtliche Atemstörungen treten bei Querschnittgelähmten generell häufiger auf und müssen gegebenenfalls mit einer CPAP-Überdruck-Therapie (CPAP, continuous positive airway pressure) behandelt werden. Bei Läsionen oberhalb Th6 (Thorakalsegment 6) werden außerdem wichtige sympathische Nervenbahnen von der Kontrolle des Gehirns entkoppelt. Da der Vagusnerv nicht im Rückenmark verläuft und bei Querschnittgelähmten meist intakt ist, überwiegt der parasympathische Einfluss und führt dazu, dass sich die Bronchien verengen und vermehrt Bronchial­sekret produziert wird [9]. Betroffene benötigen ein effektives Sekretmanagement, beispielsweise durch assistiertes Ab­husten oder mechanische Abhusthilfen.

Auf den Blutdruck achten

Querschnittgelähmte weisen außerdem ein erhöhtes kardiovaskuläres Risiko auf. Die Gründe hierfür sind vielschichtig. Ob sich ein Bluthochdruck entwickelt, hängt nicht zuletzt von der Höhe der Läsion ab. Tetraplegiker neigen eher zur Hypotonie und orthostatischer Dysregulation, da weite Teile des Sympathikus außer Kraft gesetzt sind und der Einfluss des meist nicht betroffenen Vagusnervs überwiegt [10, 11]. Querschnittgelähmte mit tiefer liegenden Läsionen und damit weniger geschädigtem sympathischem Nervensystem entwickeln hingegen häufiger eine Hypertonie als die Allgemeinbevölkerung [12]. Eine wichtige Rolle spielt dabei möglicherweise die körperliche Inaktivität, die dazu führt, dass Querschnittgelähmte oftmals übergewichtig sind. Übergewicht bzw. Adipositas wiederum erhöhen zusätzlich das Risiko für eine Insulin-Resistenz und Diabetes mellitus Typ 2. Aber nicht nur das Körpergewicht, auch das Lipidprofil von Querschnittgelähmten zeigt häufig Verschiebungen, die das kardiovaskuläre Risiko erhöhen, allen voran ein erniedrigter High-Density-Lipoprotein-Wert (HDL-Spiegel) [13]. Durch die Immobilität der Patienten fällt außerdem die Muskelpumpe der tiefen Beinvenen aus. Blut versackt in den Beinen und sorgt vor allem im ersten Jahr nach der Querschnittlähmung für ein hohes Thrombose-Risiko. Deshalb ist im ersten Jahr eine Thrombose-Prophylaxe mit niedermolekularem Heparin für 6 bis 24 Wochen indiziert, gegebenenfalls in Verbindung mit physikalischer Kompression [14].

Der Blutdruck kann aber auch akut ansteigen. Verantwortlich hierfür ist eine überschießende Reaktion des vegetativen Nervensystems, die autonome Dysreflexie. Diese Komplikation tritt vor allem bei Läsionen oberhalb von Th6 (Thorakalsegment 6) auf, da weite Teile des sympathischen Nervensystems von der Kontrolle des Gehirns dann entkoppelt sind [15]. Durch bestimmte Stimuli, in den meisten Fällen eine überfüllte Blase oder medizinische Eingriffe, werden sympathische Neuronen im Rückenmark getriggert und vermitteln das Engstellen von Gefäßen unterhalb der Rückenmarksläsion. Der Blutdruck steigt akut gefährlich an und kann durch fehlende Weiterleitung inhibierender Impulse aus dem Gehirn nicht wieder gesenkt werden. Nur oberhalb des neurologischen Niveaus reagiert der Körper mit einer Erweiterung der Gefäße und einer Absenkung des Pulses. Der Auslöser, falls bekannt, muss so schnell wie möglich behoben werden und der Blutdruck mit schnell wirk­samen Präparaten abgesenkt werden. Hierunter zählen z. B. Nitratsprays oder Nifedipin 10 mg (z. B. Nifedipin AL) [15].

Foto: Igor Nikushin/AdobeStock

Neurogene Darmfunktionsstörung

Weitreichende Folgen hat die Querschnittlähmung auch auf die Funktion des Verdauungssystems. Unter dem Begriff der Neurogenen Darmfunktionsstörung werden die Folgen für den Gastrointestinaltrakt zusammengefasst. Besonders belastend sind für die Betroffenen die Leitsymptome Verstopfung und Stuhlinkontinenz.

Wie sich die Darmstörung beim Einzelnen ausprägt, hängt von der Lokalisation der Rückenmarksläsion ab [16]: Wichtig für die Regulierung der Darmfunktion sind parasympathische Fasern im Endbereich des Rückenmarks, dem Conus medullaris, der Teil des Sakralmarks ist. Eine Querschnittlähmung oberhalb dieser Segmente verlangsamt den Weitertransport des Darminhalts nur in bestimmten Bereichen, der Defäkationsreflex bleibt intakt („reflexiver Darm“). Dafür erhöht sich die Kontraktilität des Darms und der Tonus des Sphinkters sowie der Beckenbodenmuskulatur, was die Darmentleerung erschwert. Liegt die Schädigung im unteren Rückenmark, fehlen die reflektorische Darmperistaltik und Entleerung komplett. Die Darmbewegungen werden lediglich vom Darmnervensystem gesteuert („areflexiver Darm“). Um in beiden Fällen eine regelmäßige Darm­entleerung zu ermöglichen, müssen patientenindividuelle Maßnahmen getroffen werden (s. Tab.).

 

Tab.: Ziele und Maßnahmen des Darmmanagements (modifiziert nach [16])
reflexiver Darm (Defäkationsreflex intakt)
areflexiver Darm
Ziele
Entleerung täglich bis alle zwei Tage
Entleerung ein- bis zweimal täglich
Stuhlkonsistenz Typ 2 bis Typ 4 der Bristol-Stuhlformenskala (wurstartig mit rissiger bis glatter Oberfläche)
Stuhlkonsistenz Typ 2 bis Typ 3 der Bristol-Stuhlformenskala (wurstartig, klumpig bzw. mit rissiger Oberfläche)
Therapie
ballaststoffreiche Ernährung, adäquate Flüssigkeitsmenge, Bewegung, Entspannung
gastrokolische Antwort ausnutzen (erhöhte Kolonmotilität nach Nahrungsaufnahme)
Kolonmassage
digitales Ausräumen (manuelle Entfernung von Kot aus dem Enddarm)
Ampullencheck (mit dem Finger überprüfen, ob anale Ampulle leer, 10 Minuten nach Darmentleerung)
Beeinflussen der Stuhlkonsistenz (Stuhlmodulation)
Quellmittel und/oder osmotisch wirksame, langzeitverträgliche Laxanzien (Macrogol, Lactulose)
transanale Irrigation (Einbringen von Wasser in Rektum und Dickdarm über den Anus)
digitale Stimulation (Stimulation der Darmentleerung mit dem Finger)
rektaler Entleerungsreflex positiv: Suppositorium: CO2, Glycerol, Bisacodyl
Mikroklistier, Klysma

Generell sollte eine ballaststoffreiche Ernährung angestrebt und ausreichend getrunken werden. Pharmako­therapeutisch kommen Quellmittel, z. B. Flohsamenschalen, und osmotische Laxanzien, z. B. Macrogol oder Lactulose, infrage, um den Stuhl zu erweichen. Laxanzien wie Sennesblätter, CO2-Suppositorien (Lecicarbon®), Glycerolzäpfchen (Glycilax®) und Klistiere mit osmotisch aktiven Substanzen (Microlax®) können eingesetzt werden, wenn der Defäkationsreflex intakt ist (s. Tab.). Nicht immer gelingt mit diesen Maßnahmen ein erfolgreiches Darmmanagement. Dann sind auch invasive Maßnahmen nötig. Beispielsweise können ein Kolostoma, also ein künstlicher Darmausgang, oder ein Darmschrittmacher die Lebens­qualität verbessern, wenn sich die Darmentleerung nicht kontrollieren lässt [16].

Überaktive oder schlaffe Blase

Ähnliches gilt auch für die Blasen- und Sexualfunktion [17]. Besonders wichtig für die Miktion ist das sakrale Miktionszentrum. Bei Läsionen oberhalb dieser Segmente bleibt die reflektorische Kontrolle intakt, aber die willentliche Kontrolle geht verloren, was zur Überaktivität des Blasenmuskels, des Detrusors, bei gleichzeitig geschlossenem Sphinkter führt [18]. Bei Rückenmarksläsionen im Bereich des Sakralmarks wird der Blasenentleerungs­reflex zerstört. Detrusor und Sphinkter erschlaffen. Damit Querschnitt­gelähmte trotzdem ihre Blase entleeren können, katheterisieren sie sich mehrmals täglich selbst, oder Pflegepersonal hilft ihnen dabei. Anticholinergika wie Tolterodin (Detrusitol®) oder Solifenacin (Vesikur®) werden eingesetzt, um die Blase zu entkrampfen [17]. Auch Injektionen mit Botulinum-Toxin Typ A können den überaktiven Detrusor dämpfen. Zu den operativen Verfahren zählen die Implantation eines Blasenschritt­machers oder ein künstlicher Blasenausgang. Eine besondere Gefahr sind Harnwegsinfektionen, die die häufigste Komplikation von Querschnittlähmungen und die führende Ursache für eine Hospitalisierung sind [19]. Bei häufigen Blaseninfekten können eine antibiotische Prophylaxe oder ein Impfprophylaxe infrage kommen, z. B. mit inaktivierten Enterobakterien (StroVac®).

Auch für die Sexualfunktion spielt das Sakralmark eine wichtige Rolle, denn die Genitalreflexe sind dort verschaltet. Die psychogene sexuelle Erregung hingegen wird von sympathischen Fasern vermittelt, die auf Höhe der Segmente Th11 bis L2 (Thorakalsegment 11 bis Lumbalsegment 2) entspringen [20]. Je nach Lage der Querschnittlähmung können sexuelle Erlebnisse unterschiedlich erfahren werden. Beeinträchtigungen können beim Mann vor allem die Erektion, Ejakulation, das Orgasmusempfinden, Fertilität und Libido betreffen. Bei Frauen treten vor allem Lubrikationsstörungen und Orgasmusstörungen auf [19].

Abb. 2: Arzneimittelgruppen und ihre Anwendungs­häufigkeit bei Querschnittgelähmten, laut einer Befragung von Betroffenen in den USA (nach [21])

Veränderte Pharmakokinetik

Auch wenn in den vorangegangenen Abschnitten nur einige Aspekte der Konsequenzen einer Querschnitt­lähmung beleuchtet werden konnten, wird schnell klar, wie komplex die Nachsorge für Querschnittgelähmte ist. Eine Konsequenz, die daraus folgt und die insbesondere für die Betreuung in den Apotheken im Mittelpunkt steht, ist die Polypharmazie. Querschnittgelähmte nehmen eine Vielzahl von Medikamenten ein. Das Potenzial für arzneimittelbezogene Probleme ist dementsprechend hoch. Zu den am häufigsten verordneten Medikamenten zählen Muskelrelaxanzien, Anticholinergika, Laxanzien, Analgetika und Antidepressiva (s. Abb. 2) [21]. Erschwerend kommt hinzu, dass eine Querschnittlähmung sich auch auf die Pharmakokinetik von Wirkstoffen auswirkt [22]. Magenentleerung und Motilität des Gastrointestinaltrakts sind verlangsamt, was die orale Aufnahme von Wirkstoffen (z. B. Dantrolen, Carbamazepin, Baclofen) erschwert, während eine verminderte Durchblutung die dermale oder intramuskuläre Applikation beeinträchtigen kann. Eine oftmals anzutreffende Hypoalbumin­ämie führt zu einer höheren Konzentration an freier Wirksubstanz bei Arzneistoffen mit hoher Plasmaproteinbindung (z. B. Naproxen), während die verminderte Nierenfunktion zu längeren Eliminations-Halbwertszeiten von Medikamenten (z. B. Amikacin, Doxycyclin, Diclofenac, Vancomycin) führen kann. Die metabolischen Auswirkungen, z. B. durch eine geringere Durchblutung der Leber, fallen weniger stark ins Gewicht, können aber bei Wirkstoffen, die in hohem Maße in der Leber verstoffwechselt werden (z. B. Methylprednisolon, Ciclosporin) zum Tragen kommen. |

Literatur

 [1] Pressemappe Querschnittlähmung. Information der Deutschen Medizinischen Gesellschaft für Paraplegiologie e. V. (DMGP), Stand: 2019, www.dmgp.de/presse/dsq-pressemappe-querschnittlaehmung

 [2] Ahuja CS et al. Traumatic spinal cord injury. Nat Rev Dis Primers 2017;3:17018

 [3] International Standards for Neurological Classification of SCI (ISNCSCI). Worksheet der American Spinal Injury Association, Stand 2019, asia-spinalinjury.org/international-standards-neurological-classification-sci-isncsci-worksheet/

 [4] Brinkhof MW et al. Health conditions in people with spinal cord injury: Contemporary evidence from a population-based community survey in Switzerland. J Rehabil Med 2016; 48:197-209

 [5] Billington ZJ et al. Spasticity Management after Spinal Cord Injury: The Here and Now. J Pers Med 2022;12:808

 [6] Therapie des spastischen Syndroms. S2k-Leitlinie der Deutschen Gesellschaft für Neurologie e. V. (DGN), AWMF-Registernummer: 030-078, Stand: November 2018

 [7] Lebenslange Nachsorge für Menschen mit Querschnittlähmung. S2k-Leitlinie der Deutschsprachigen Medizinischen Gesellschaft für Paraplegiologie e. V., AWMF-Registernummer: 179-014, Stand Dezember 2022

 [8] March A. A review of respiratory management in spinal cord injury. J Orthop Nurs 2005;9:19-26

 [9] Atmung, Atemunterstützung und Beatmung bei akuter und chronischer Querschnittlähmung. S2k-Leitlinie der Deutschsprachigen Medizinischen Gesellschaft für Paraplegiologie e. V., AWMF-Registernummer: 179-011, Stand August 2022

[10] Wecht JM et al. Prevalence of Abnormal Systemic Hemodynamics in Veterans with and without Spinal Cord Injury. Arch Phys Med Rehabil 2015;96:1071-1079

[11] Claydon VE et al. Orthostatic hypotension following spinal cord injury: understanding clinical pathophysiology. Spinal Cord 2006;44:341-351

[12] Adriaansen JJE et al. Prevalence of hypertension and associated risk factors in people with long-term spinal cord injury living in the Netherlands. Disabil Rehabil 2017;39:919-927

[13] Nash MS et al. Identification and Management of Cardiometabolic Risk after Spinal Cord Injury. Top Spinal Cord Inj Rehabil 2018;24:379-423

[14] Thromboembolieprophylaxe bei Querschnittlähmung. S1-Leitlinie. Der Deutschsprachigen Medizinischen Gesellschaft für Paraplegiologie e. V., AWMF-Registernummer: 179-015, Stand September 2020

[15] Neuro-urologische Versorgung querschnittgelähmter Patienten. S2k-Leitlinie der Deutschsprachigen Medizinischen Gesellschaft für Paraplegiologie e. V., AWMF-Registernummer: 179-001. Stand September 2021

[16] Neurogene Darmfunktionsstörung bei Querschnittlähmung. S2k-Leitlinie der Deutschsprachigen Medizinische Gesellschaft für Paraplegiologie e.V, AWMF-Registernummer: 179-004, Stand August 2019

[17] Medikamentöse Therapie der neurogenen Dysfunktion des unteren Harntraktes (NLUTD). S2k-Leitlinie der Deutschen Gesellschaft für Urologie e. V, AWMF-Registernummer: 043-053, Stand Februar 2022

[18] Perez NE et al. Neurogenic Bladder Physiology, Pathogenesis, and Management after Spinal Cord Injury. J Pers Med 2022;12:968

[19] Neuro-urologische Versorgung querschnittgelähmter Patienten. S2k-Leitlinie der Deutschsprachigen Medizinischen Gesellschaft für Paraplegiologie e. V., AWMF-Registernummer: 179-001, Stand September 2021

[20] Previnaire JG et al. Prediction of sexual function following spinal cord injury: a case series. Spinal Cord Ser Cases 2017;3:17096

[21] Hwang M et al. Medication profile and polypharmacy in adults with pediatric-onset spinal cord injury. Spinal Cord 2015;53:673-788

[22] Mestre H et al. Spinal cord injury sequelae alter drug pharmacokinetics: an overview. Spinal Cord 2011;49:955-960

[23] Understanding Spinal Cord Injury. Information des Shepherd Center, Stand 2019, www.spinalinjury101.org/details

Autor

Dr. Tony Daubitz, Studium der Pharmazie an der Universität Leipzig; Di­plomarbeit in Basel an der Hochschule für Life Sciences der Fachhochschule Nordwestschweiz (FHNW) zu antientzündlichen Eigenschaften von Bambus-Extrakten; Promotion am Max-Delbrück-Centrum für Molekulare Medizin in Berlin zur Pharmakologie von Anionenkanälen.

0 Kommentare

Das Kommentieren ist aktuell nicht möglich.