Arzneimittel und Therapie

Kühlung zur Prophylaxe, Capsaicin zur Therapie

Chemotherapie-induzierte Polyneuropathien vorbeugen und lindern

Chemotherapie-induzierte periphere Polyneuropathien sind häufige Langzeitfolgen einer medikamen­tösen Tumorbehandlung. Die derzeit bekannten therapeutischen Möglichkeiten sind nur bedingt wirksam, und nach einer effektiven Prophylaxe wird noch immer gesucht. Neuere Ansätze sind die topische Anwendung von Capsaicin zur Therapie sowie eine prophylaktische Hand-Fuß-Kühlung.

Chemotherapie-induzierte periphere Polyneuropathien (CIPN) sind häufige Langzeitfolgen einer medikamentösen Tumortherapie, die den Alltag der Betroffenen stark beeinträchtigen. Die Polyneuropathie kann sensorische, motorische und autonome Nerven betreffen. Sie manifestiert sich meist symmetrisch an distalen Extremitäten und führt zu Ausfallserscheinungen, Parästhesien bis hin zu neuropathischen Schmerzen (s. Tab.). Meist tritt sie dosisabhängig auf und ist dann auch dosislimitierend. Ausgelöst werden kann eine Polyneuropathie durch verschiedene systemisch eingesetzte Substanzen wie etwa Platinderivate, Taxane, Vincristin, Bortezomib oder Immun-Checkpoint-Inhibitoren. Nach Ende der Chemotherapie leiden etwa 30 bis 40% der Patienten chronisch an einer CIPN. Angesichts hoher Inzidenzen (je nach Wirkstoff zwischen 20 und 85%), einem hohen, anhaltenden Leidensdruck, wenig bis keinen präventiven Maßnahmen und überschaubaren therapeutischen Optionen sind neue Möglichkeiten gefragt [1].

Foto: ZayNyi/AdobeStock

Von leichtem Kribbeln in Händen und / oder Füßen bis hin zu starken Schmerzen und Parästhesien, kann eine Chemotherapie-induzierte periphere Polyneuropathie ausgeprägt sein.

Was empfehlen Leitlinien?

Die von Leitlinien (der Amerikanischen Gesellschaft für Klinische Onkologie [ASCO], Europäischen Gesellschaft für Medizinische Onkologie [ESMO] und der Arbeitsgemeinschaft Gynäkologische Onkologie [AGO]) empfohlenen Interventionen zur Therapie einer Chemotherapie-induzierten peripheren Polyneuropathie sind rar [2, 3, 4]. Am besten wird die Einnahme von Duloxetin bewertet, dessen moderater klinischer Benefit unter anderem in einer randomisierten Studie im Vergleich zu Venlafaxin und Placebo nachgewiesen wurde [5]. Mögliche Alternativen, die erwogen werden können, sind Antikonvulsiva und tricyclische Anti­depressiva. Zu den positiv beurteilten nicht-pharmakologischen Maßnahmen werden Physiotherapie und Akupunktur gezählt. Die Evidenz für die Scrambler-Therapie (elektronische Stimula­tion der peripheren Nerven) ist derzeit nicht eindeutig bestimmt. Topika werden teilweise unterschiedlich bewertet. Sie fallen unter die Maßnahmen, die – teilweise im Rahmen von Studien – erwogen werden können. Untersucht wurden topische Zubereitungen mit Menthol, Capsaicin oder mit Kombinationen aus Baclofen/Amitriptylin/Ket­amin bzw. Ketamin/Amitriptylin. Weder die ESMO-, AGO- noch ASCO-Leitlinien sprechen sich für eine medikamentöse Prophylaxe aus. Eine Kryotherapie kann – eventuell im Rahmen von Studien – versucht werden [2, 3, 4].
 

Tab.: Schweregrade und Ausprägung Chemotherapie-induzierter Polyneuropathien. Bei Grad 1 kann die Chemotherapie in der Regel fortgeführt werden. Ab Grad 2 sollte eine Anpassung der Chemotherapie erwogen werden (modifiziert nach [11, 12]).
Polyneuropathie Grad 1
leicht
Polyneuropathie Grad 2
mäßig
Polyneuropathie Grad 3
schwer
Symptome
leichtes Kribbeln
Kribbeln, moderates Taubheitsgefühl
ausgeprägtes Taubheitsgefühl, eingeschränkte Motorik
Schmerzintensität
schmerzlos
schmerzhaft
sehr schmerzhaft
Aktivitäten im Alltag
nicht beeinträchtigt
beeinträchtigt, z. B. kochen, einkaufen, telefonieren, kleine Gegenstände greifen
sehr stark beeinträchtigt, zusätzlich z. B. waschen, zur Toilette gehen, essen, trinken, Arzneimittel einnehmen

Topika mit Capsaicin

Die Europäische Gesellschaft für Medizinische Onkologie empfiehlt hoch dosierte Capsaicin-Pflaster als Zweit­linientherapie zur Behandlung schmerzhafter Chemotherapie-induzierter Polyneuropathien und beruft sich dabei auf Studien mit geringer Aussagekraft (s. Kasten „Wie wirkt Capsaicin?“). Einige neuere Arbeitsgruppen untersuchten daher dieses Vorgehen erneut. Auf der letztjährigen Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Hämatologie und Medizinische Onkologie (DGHO) wurden erste Ergebnisse einer prospektiven Beobachtungsstudie (QUCIP) vorgestellt, die die Wirksamkeit eines Capsaicin-haltigen Pflasters (179 mg bzw. 8% Wirkstoff) bei Brustkrebspatientinnen mit Chemotherapie-induzierter peripherer Polyneuropathie untersuchte. Der primäre Endpunkt war die Verringerung der schmerzhaften Neuropathie. In eine Interimsanalyse wurden 30 von 70 Patientinnen eingeschlossen. Die Daten zeigen eine signifikante Reduktion neuropathischer Schmerzen und Symptome sowie eine Verbesserung der CIPN-assoziierten Beeinträchtigung der Lebensqualität [6].
 

Wie wirkt Capsaicin?

Capsaicin ist ein hoch selektiver Agonist des TRPV1-Rezeptors (transient receptor potential vanilloid 1). Nach dermaler Applikation aktiviert der Wirkstoff TRPV1-exprimierende kutane Nozizeptoren und führt dadurch zunächst zu Stechen und Erythem­bildung durch Freisetzung vasoaktiver Neuropeptide (Ersteffekt). Im Folgenden werden die kutanen Nozizeptoren für unterschiedliche Reize weniger empfindlich. Man geht davon aus, dass diese späteren Effekte von Capsaicin zur Schmerzlinderung führen, und spricht in diesem Zusammenhang häufig von einer Desensibili­sierung [9].

In Studien zur Chemotherapie-induzierten peripheren Polyneuropathie werden hoch dosierte Capsaicin-Pflaster eingesetzt. In Deutschland ist ein solches Präparat unter dem Handelsnamen Qutenza® (Rx) verfügbar. Jedes Pflaster mit einer Fläche von 280 cm² enthält insgesamt 179 mg Capsaicin entsprechend 640 µg Capsaicin pro cm² Pflaster. Gemäß Fachinformation wird Qutenza® zur Behandlung von peripheren neuropathischen Schmerzen bei Erwachsenen angewendet [9]. Im Vergleich dazu enthält ein ABC® Wärme-Pflaster Capsicum Hansaplast med, das zur Linderung von Muskelschmerzen indiziert ist, 11 mg Capsaicin [10].

Eine Anfang 2023 publizierte retrospektive Studie mit 57 Patienten untersuchte ebenfalls die Wirksamkeit und Verträglichkeit eines Capsaicin-Pflasters mit 8% Wirkstoff bei einer Chemotherapie-induzierten peripheren Polyneuropathie. Bei 43,9% der Patienten erfolgte eine deutliche oder vollständige Schmerzlinderung. Die Wirksamkeit war bei Patienten, die mit Platinsalzen therapiert wurden, geringer als bei Behandlung mit anderen zytotoxischen Wirkstoffen. Ferner stieg die Wirksamkeit mit der Häufigkeit der Anwendung. Unerwünschte Wirkungen wie Brennen oder Missempfindungen traten bei rund zwei Dritteln der Patienten auf [7].
 

Wie wirkt eine Hilotherapie?

Bei der Hilotherapie wird destilliertes Kühlwasser über Hand- und Fußmanschetten gepumpt und dabei eine kontinuierliche Kühlung bei 10 °C angestrebt. Durch die so erzeugte Vasokonstriktion wird der Sauerstoffbedarf des Gewebes gesenkt, und in der Folge werden Stoffwechsel und Durchblutung vermindert. Dies verringert wiederum die Nervenschädigung durch toxische Substanzen [8].

Neues zur Prävention

Auf dem diesjährigen Kongress der Deutschen Gesellschaft für Senologie e. V. wurden Folgeergebnisse einer Studie zur prophylaktischen Hand-Fuß-Kühlung, einer sogenannten Hilotherapie, vorgestellt (s. Kasten „Wie wirkt eine Hilotherapie?“). Zwischen 2018 und 2019 wurden bei 151 Brustkrebspatientinnen Hände und Füße prophylaktisch bei jeder Taxan-haltigen Chemotherapie gekühlt. Dies erfolgte kontinuierlich über 30 Minuten vor bis 60 Minuten nach Beendigung der Chemotherapie bei Temperaturen von 10 bis 12 °C. Die Symptome einer Polyneuropathie wurden nach jeder Zytostatika-Gabe mithilfe der Common-Termino­logy-Criteria-for-Adverse-Events­(CTCAE)­-Kriterien erfasst. Im aktuellen Follow-up nach 4 Jahren, in dem Daten zu 129 Teilnehmerinnen ausgewertet werden konnten, hatten knapp 94% von ihnen keine oder nur milde Symptome. 6% der untersuchten Patientinnen litten an einer Chemotherapie-induzierten peripheren Polyneuropathie Grad 2 [8]. |

Literatur

 [1] Maihöfner C et al. Chemotherapy-induced peripheral neuropathy (CIPN): current therapies and topical treatment option with high-concentration capsaicin. Support Care Cancer 2021;29(8):4223-4238, doi: 10.1007/s00520-021-06042-x

 [2] Loprinzi CL et al. Prevention and Management of Chemotherapy-Induced Peripheral Neuropathy in Survivors of Adult Cancers: ASCO Guideline Update. J Clin Oncol 2020;38(28):3325-3348, doi: 10.1200/JCO.20.01399

 [3] Jordan B et al. Systemic anticancer therapy-induced peripheral and central neurotoxicity: ESMO-EONS-EANO Clinical Practice Guidelines for diagnosis, prevention, treatment and follow-up. Ann Oncol 2020;31(10):1306-1319, doi: 10.1016/j.annonc.2020.07.003

 [4] Supportive Therapie und Nebenwirkungsmanagement. Leitlinie der Arbeitsgemeinschaft Gynäkologische Onkologie, Stand: 15. April 2023

 [5] Farshchian N et al. Comparative study of the effects of venlafaxine and duloxetine on chemotherapy-induced peripheral neuropathy. Cancer Chemother Pharmacol 2018;82(5):787-793, doi: 10.1007/s00280-018-3664-y

 [6] Brustkrebs: Capsaicin-Pflaster lindert neuropathische Schmerzen. Meldung des Deutschen Ärzteblatts, 10. Oktober 2022

 [7] Bienfait F et al. Evaluation of 8% Capsaicin Patches in Chemotherapy-Induced Peripheral Neuropathy: A Retrospective Study in a Comprehensive Cancer Center. Cancers 2023;15(2):349, doi: 10.3390/cancers15020349

 [8] CIPN-Prophylaxe: Hand-Fuß-Kühlung im Langzeit-Follow-up erfolgreich. Meldung des Deutschen Ärzteblatts, 4. August 2023

 [9] Fachinformation Qutenza®, Stand: Mai 2023

[10] ABC® Wärme-Pflaster Capsicum Hansaplast med 14 × 22. Lauer-Taxe, Datenstand: 15. September 2023

[11] Hand- und Fußkühlung als Schutz gegen Nervenschädigungen bei einer Chemotherapie. Informationen der Stiftung Mammazentrum Hamburg, https://stiftung-mammazentrum.de/angebot/hand-und-fusskuehlung-als-schutz-gegen-nervenschaedigungen-bei-einer-chemotherapie/

[12] Wenn Füße und Hände kribbeln und schmerzen: Polyneuropathie durch Chemotherapie (CIPN). Informationen der Hamburger Krebsgesellschaft e. V., April 2016, https://krebshamburg.de/wordpress/wp-content/uploads/2016/10/Patientenratgeber-Polyneurophathie-2016.pdf

Apothekerin Dr. Petra Jungmayr

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