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Evidenz in der Medizin
Medizinische Literaturdatenbanken in Deutschland vor dem Aus
Das DIMDI will Ende 2016 den Betrieb seiner umfangreichen Datenbanken einstellen, mit denen systematische Recherchen zur medizinischen Evidenz möglich sind. Ein Teil der Angebote soll eigentlich an die ZB MED abgegeben werden – doch für diese kam jetzt eine Hiobsbotschaft: Sie könnte komplett geschlossen werden.
Die evidenzbasierte Medizin in Deutschland könnte vor einem herben Rückschlag stehen: Wichtige Informationsangebote sollen eingestellt werden. So verkündete das Deutsche Institut für Medizinische Dokumentation und Information (DIMDI) im Februar, seine Literaturdatenbanken zum Ende des Jahres 2016 praktisch komplett aufzugeben – und nur einen Teil des Angebots an die Deutsche Zentralbibliothek für Medizin (ZB MED) abzugeben.
Doch diese könnte nach einer negativen Begutachtung geschlossen werden. „Für das deutsche Gesundheitswesen ist das katastrophal, weil es dann keinen Zugang zu der Literatur mehr gibt“, sagt Helge Knüttel, der bei der Universitätsbibliothek Regensburg für die Informationsvermittlung in der Medizin zuständig ist.
Konzentration auf die „gesetzlichen Aufgaben“
Bereits seit 40 Jahren stellt das DIMDI umfangreiche Angebote zur Recherche medizinischer Literatur bereit. Sie werden genutzt, um für systematische Übersichtsarbeiten oder medizinische Leitlinien den Stand der Wissenschaft zu recherchieren. Doch das Institut will seine Ressourcen zukünftig auf seine „gesetzlichen Aufgaben“ konzentrieren, so ein Sprecher – obwohl der Gründungsauftrag des DIMDI die Versorgung der fachlich interessierten Öffentlichkeit mit medizinischer Literatur sogar an erster Stelle nennt.
Inzwischen übernimmt das Institut vielfach Dienstleistungen für Behörden wie das Bundesgesundheitsministerium oder die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung. Über die letzten Jahre habe es enorme Aufgabenzuwächse beispielsweise im Bereich Klassifikation gegeben, so der DIMDI-Sprecher – oder bei den Versorgungsdaten der Krankenkassen.
Mit lachendem und weinendem Auge
Während die Datenbanken zu medizinischer Literatur nach dem Entschluss des DIMDI fast vollständig gestrichen werden sollen, will sich das Institut zukünftig auf datenbasierte Angebote konzentrieren. Hierunter fallen auch die ADBA-Datenbanken. Das Bundesgesundheitsministerium, dem das DIMDI zugeordnet ist, sei in die Entscheidung mit einbezogen gewesen, so der Sprecher – während das Ministerium dies nicht kommentiert. „Wir machen es mit einem lachenden und einem weinenden Auge“, sagt er gegenüber DAZ.online.
„Das DIMDI und das Bundesministerium für Gesundheit stellen sich hier diametral gegen den Trend der Zeit zu größerer Transparenz“, schreibt der Direktor der Universitätsbibliothek Regensburg Albert Schröder in einem Protestbrief an DIMDI-Direktor Dietrich Kaiser. „Mit Ihrer Entscheidung baut Deutschland hier massiv ab“, so Schröder. In Jahrzehnten aufgebautes Know-how der öffentlichen Hand in Deutschland gehe verloren.
Angebote seien unverzichtbar
Dabei sind die Angebote des Instituts für die Literaturrecherche eigentlich unverzichtbar, sagen Fachleute. „Speziell für systematische Übersichtsarbeiten braucht man breites Angebot an Quellen und Datenbanken“, so Knüttel. Er unterstützt Mediziner an seiner Universität dabei, für Übersichtsarbeiten die Literatur zu recherchieren.
Über das Angebot des DIMDI ist bisher ein breiter Zugang zu den Datenbanken möglich, gleichzeitig erlaube der DIMDI-Zugang eine effiziente Recherche. So könnten Nutzer über die Oberfläche auf viele Datenbanken gleichzeitig zugreifen, durch ausgefeilte Filterfunktionen würde unnötige Arbeit erspart und die teilweise anfallenden Kosten seien in einem überschaubaren Rahmen.
Der Sprecher des DIMDI räumt gegenüber DAZ.online ein, dass es für die bisherigen Nutzer durch die Einstellung der DIMDI-Datenbanken wohl zu Einschränkungen kommen wird. Sie müssen sich zukünftig an die einzelnen kommerziellen Anbieter wenden und Verträge mit ihnen abschließen. „Das wird wohl etwas teurer sein“, sagt er.
Doch „etwas teurer“ scheint deutlich untertrieben zu sein. Helge Knüttel von der Universitätsbibliothek Regensburg etwa berichtet, das die Kosten für kommerzielle Datenbanken so hoch sind, dass viele der wichtigsten Angebote nicht einmal an Universitätsbibliotheken zur Verfügung gestellt werden können. „Wir sind aufs DIMDI angewiesen“, sagt er.
Wichtigste Aufgaben würden abgeschafft
Da über kostenlose Angebote wie die Metadatenbank PubMed scheinbar die komplette Literatur verfügbar ist, gelte die klassische Literaturrecherche inzwischen teils als etwas altbacken, so Knüttel weiter. Doch sie sei weiterhin sehr wichtig: Einerseits müssten für umfassende Übersichtsarbeiten alle Quellen einbezogen werden, nicht nur die in freien Datenbanken indizierten – und andererseits seien die eigentlichen Texte der Artikel oft nicht frei zugänglich. Auch seien die Recherchemöglichkeiten in den öffentlichen Datenbanken beschränkt. „Das was für die Öffentlichkeit eine der wichtigsten Aufgaben ist, schafft das DIMDI jetzt ab."
Wie soll es weitergehen?
„Die elektronische Literaturversorgung ist für die Medizin damit ab 2017 bei der ZB MED konzentriert“, schrieb das DIMDI Anfang Februar. Dabei sollte die ZB MED nur einen Teil der Datenbanken übernehmen – für die zahlungspflichtigen Angebote ist dies bisher noch ungeklärt. Doch am vergangenen Freitag schlug der Senat der Leibniz-Gemeinschaft Bund und Ländern vor, die ihr zugehörige ZB MED aufgrund einer negativen Begutachtung abzuwickeln.
Als Begründung ist angegeben, dass dem ZB MED bei einer letzten Begutachtung vor vier Jahren aufgetragen wurde, sich von einer klassischen Bibliothek zu einem forschenden Informationszentrum neu aufzustellen – was aus Sicht des Senats nicht ausreichend umgesetzt wurde.
Das Rad wird wohl nicht zurückgedreht
Daher dürfte die Ankündigung des DIMDI überholt sein. Inwiefern die Aufgaben der ZB MED an andere Institute abgegeben werden, wenn sie tatsächlich abgewickelt werden sollte, wird wohl nicht so bald feststehen.
Wird das DIMDI seinen Schritt nun nochmal überdenken? „Ich glaube nicht, dass wir die Uhr zurückdrehen“, sagt der Sprecher des DIMDI. Der Entschluss, die ZB MED aufzulösen, sei aus Sicht des Instituts „generell nicht so erfreulich“.
Der Entschluss des Senats der Leibniz-Gemeinschaft ist auch für Ina Kopp besorgniserregend – sie leitet das Institut für Medizinisches Wissensmanagement der Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften. „Selbstverständlich haben die früher über das DIMDI angebotenen Datenbanken eine hohe Bedeutung“, so Kopp. „Neben dem Zugang zu den Datenbanken selbst ist in Deutschland vor allem der Zugang zu den darin indexierten Volltexten kritisch.“ Angebote, die die Recherche von medizinischer Evidenz zu unterstützen, müssten in Deutschland dringend verbessert werden.
Das Gesundheitsministerium will beraten
Aus dem Haus von Gesundheitsminister Gröhe kam auf Anfrage von DAZ.online nur ein kurzes Statement: „Nach der Empfehlung der Leibniz-Gemeinschaft geht es für das Bundesgesundheitsministerium jetzt darum, gemeinsam mit dem nordrhein-westfälischen Ministerium für Innovation, Wissenschaft und Forschung (MIWF) weitere Schritte zu beraten“, schreibt es. „In den Beratungen werden auch die von Ihnen angesprochenen Fragen eine Rolle spielen.“
Nach Einschätzung von Knüttel ist die Informationsversorgung in der Medizin in Deutschland ohnehin sehr schlecht aufgestellt. „Dass jetzt die letzten Angebote abgeschafft werden, ist ein Armutszeugnis“, sagt er. Es steht zu befürchten, dass zukünftig Informationsangebote noch häufiger aus interessengeleiteten Quellen kommen könnten – wenn die Entscheidungen nicht doch noch überdacht werden. Gegen die Schließung der ZB MED wurde zwischenzeitlich eine Petition gestartet.
Update 25.03.2016: Präzisierung des Abschnittes zur Metadatenbank PubMed.
2 Kommentare
DIMDI
von Dr. Stefan Böhler am 28.04.2016 um 4:24 Uhr
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Negative Entwicklung
von Ricardo Cadima am 24.03.2016 um 23:52 Uhr
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