19. eppendorfer Dialog

RCT - Goldstandard oder Auslaufmodell?

Hamburg - 21.04.2016, 16:00 Uhr

Thema im Eppendorfer Dialog: Evidenzgenerierung in der Medizin  über randomisierte klinische Studien möglich? (Screenshot: DAZ.online)

Thema im Eppendorfer Dialog: Evidenzgenerierung in der Medizin über randomisierte klinische Studien möglich? (Screenshot: DAZ.online)


Für die GKV sind randomisierte klinische Studien der Goldstandard, aber die Wissenschaft denkt schon weiter. Wie Evidenz in der Medizin zu generieren ist, war das Thema des 19. Eppendorfer Dialogs - Apotheker Thomas Müller-Bohn berichtet.

Beim Eppendorfer Dialog am 20. April in Hamburg stellte Gastgeber und Moderator Prof. Dr. Achim Jockwig die Frage, ob Evidenzgenerierung in der Medizin nur über klinische Studien möglich ist. Prof. Dr. Lilia Waehlert, Frankfurt/Main, beschrieb randomisierte kontrollierte klinische Studien (RCTs) als Goldstandard, um kausale Zusammenhänge zu ermitteln. Doch die aufwendige Gestaltung mache RCTs anfällig für Fehler.

Hauptkritikpunkte an RCTs seien, dass sie nicht auf die reale Versorgung übertragbar oder wegen der nötigen Studiendauer oder Probandenzahl nicht geeignet seien. Waehlert zeigte zudem die Ambivalenz des Nutzenbegriffs. Bei der Zulassung seien Wirksamkeit, Sicherheit und Qualität gefragt. Die Zusatznutzenbewertung ziele dagegen auf den Alltagsnutzen im Vergleich zu Behandlungsalternativen. Aus der Patientenperspektive wiederum sei der abnehmende Grenznutzen zu bedenken, sodass schwer Kranke eine kleine Verbesserung oft höher bewerten als Gesunde.

(Foto: DAZ/Thomas Müller-Bohn)

Die Teilnehmer des 19. Eppendorfer Dialogs, von links: Thomas Müller, Dr. Jens Peters, Dr. Andreas Reimann, Prof. Dr. Lilia Waehlert, Michael Hennrich, Gastgeber und Moderator Prof. Dr. Achim Jockwig.

Rolle des G-BA

Doch geht es nicht immer um die Frage nach der bestmöglichen Therapie, sondern in einer solidarisch finanzierten Krankenversicherung soll das medizinisch Notwendige ermittelt werden, erklärte Thomas Müller, Gemeinsamer Bundesausschuss (G-BA). Dabei stoße die Individualität auf eine statistische Methode, die Ergebnisse mitteln solle. Daraus entstehe ein Spannungsfeld. Studien liefern Wahrscheinlichkeiten, aber keine Sicherheit über individuelle Verläufe. Für den G-BA seien die statistischen Ergebnisse entscheidend, denn der Gesetzgeber habe zum Maßstab gemacht, dass Patienten im Mittel profitieren müssen. Allerdings räumte Müller ein, dass Langzeiteffekte mit RCTs nicht zu erfassen seien. Für die Bewertung nach der Zulassung sieht er eine Entwicklung, auch andere Studienformen zu nutzen.  

Weiterentwicklung gefragt 

Dr. Jens Peters, BPI, betonte die Vielfalt des Evidenzbegriffes. David Sackett als Pionier der Evidenzbasierten Medizin habe nach der bestmöglichen Evidenz unter Berücksichtigung der klinischen Ergebnisse und der Präferenzen und Wertvorstellungen des Patienten gestrebt. Daher sei auch der Blick auf den individuellen Patienten nötig. Die Frage, ob es Evidenz außerhalb von RCTs gibt, beantwortete Peters mit „Ja, wir müssen sie nur nutzen und weiterentwickeln“. Dazu beschäftige sich die Industrie mit vielen Studienformen. 

Für den Apotheker und Unternehmensberater Dr. Andreas Reimann, der in der Runde die Patientenperspektive vertrat, treten neben RCTs mittlerweile weitere Methoden der Erkenntnisgewinnung. Der G-BA müsse vom System her denken, aber der Arzt müsse im Rahmen des Systems für den Patienten denken. Da das Leben bunt sei, bräuchten wir viele Methoden, erklärte Reimann. RCTs würden ihre Grenzen erreichen, wenn es zu wenige Patienten gibt, die Studie ethisch nicht vertretbar ist oder kein Sponsor zu finden ist. Außerdem würden RCTs keine validen Ergebnisse liefern, wenn die Adhärenz, die Sicherheit in der Langzeitanwendung, der Versorgungskontext oder komplexe therapeutische Situationen mit vielen Interventionen geprüft werden sollen. Dies betreffe beispielsweise seltene Erkrankungen, Maßnahmen in der Pflege oder Einnahmeerleichterungen für Tabletten. „Wir kommen nicht allein mit RCTs aus“, folgerte Reimann. Durch Integration von Daten würde man sehr viel mehr erfahren. Für Reimann bleiben RCTs wichtig, aber er konstatierte: „Wir befinden uns in einer neuen Ära der Evidenzgenerierung."

Politik oder Wissenschaft

Der Bundestagsabgeordnete Michael Hennrich, Obmann der CDU/CSU im Gesundheitsausschuss, erklärte, dass in einem solidarisch finanzierten System anhand klarer Fakten entschieden werden müsse. Die Politik habe den RCTs bei Arzneimitteln eine wichtige Rolle zugewiesen, aber sie lasse Raum für die Selbstverwaltung. Die Probleme bei seltenen Erkrankungen würden durch Sonderregeln angegangen, die in ähnlicher Weise auf Arzneimittel für Kinder übertragen werden sollten. 

In der Diskussion warnte Müller, dass solche Sonderregeln zu Mitnahmeeffekten führen könnten. Während Hennrich RCTs im Arzneimittelbereich weiter als „Maß aller Dinge“ sieht, forderte Reimann, zu jeder Frage nach der besten Methode zu suchen. Nicht jeder Neuerungsschritt sollte mit der aufwendigsten Methode nachgewiesen werden müssen. Dagegen warnte Müller, die Individualität als Deckmantel für Unwissenschaftlichkeit zu nutzen. Reimann mahnte, die Fragen der Sozialversicherung von der methodisch-naturwissenschaftlichen Ebene zu trennen. Die GKV müsse konservativer sein, aber wer Methoden weiter entwickeln wolle, dürfe nicht in Gesetzen denken. Reimann prognostizierte daher: „Wir werden RCTs weiter denken.“


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1 Kommentar

Es lohnt sich, über individuellen Patientennutzen nachzudenken

von Claus Günther am 12.05.2016 um 18:22 Uhr

Die Gesundheitsberufe heißen auch Heilberufe und es ist ein Armutszeugnis, wenn Heilung aus Effekten bestehen soll, die nur in randomisierten, doppelblinden und meist placebokontrollierten Studien erkannt werden können. Blinde sehend und Lahme gehend machen haben eine lange Tradition unmittelbarer Überzeugungskraft. Ein künstliches Hüftgelenk kann ein zerstörtes ersetzen und so ohne „doppelblinde“ Studien Überzeugungskraft entfalten, was natürlich die Frage nach dem Zusatznutzen immer neuerer (und teurerer) Hüftprothesen unbeantwortet lässt. Das Ausmaß dieses Zusatznutzens sollte als erheblicher Zuwachs des Primärnutzens wahrnehmbar sein und zwar mit relativer Sicherheit, nicht mit bloßer Wahrscheinlichkeit.
Der G-BA ist der Aufgabe der Nutzenmessung noch nicht gewachsen, solange die Meinung vertreten wird, dass statistische Wahrscheinlichkeiten und nicht die – zugegeben als relativ einzugrenzende – Sicherheit über individuelle Verläufe entscheidend seien. Zudem werden die in der Regel aus Gruppenvergleichen resultierenden statistischen Ergebnisse von RCT entscheidend verkannt, wenn angenommen wird, dass dadurch einem gesetzgeberischen Maßstab entsprochen wird, „dass Patienten im Mittel profitieren müssen“. In Endpunkt-Studien ist es eher die Regel, dass nur für einen kleinen Prozentsatz der Patienten ein Nutzen aufgezeigt wird. Der G-BA sollte mehr über die Relevanz von Endpunkten im Sinne von Heilung nachdenken und darüber, welche Prozentsätze an Heilung (als Number Needed To Treat) akzeptabel sind.
Die Gesundheitswirtschaft sollte auf Heilung orientiert sein, nicht auf die Bewirtschaftung von Krankheit. Wo Heilung nicht möglich ist, kommt die Palliativmedizin ins Spiel, welche derzeit überwiegend als „Sterbebegleitung“ fehlinterpretiert wird. Der Horizont der Palliativmedizin ist der einer Medizin jenseits „therapeutischer Illusionen“ (siehe Casarett: The science of choosing wisely – overcoming the therapeutic illusion. NEJM 374:1203-5).

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