Pradaxa

Staatsanwaltschaft lehnt Anzeige gegen Boehringer ab

Stuttgart - 19.05.2016, 17:00 Uhr

Bleibt in den Schlagzeilen: Pradaxa von Boehringer Ingelheim. (Foto: dpa)

Bleibt in den Schlagzeilen: Pradaxa von Boehringer Ingelheim. (Foto: dpa)


Orale Antikoagulanzien stehen unter kritischer Beobachtung, besonders in den USA. Im vergangenen Dezember hatte es erstmals auch in Deutschland eine Strafanzeige gegen Verantwortliche von Boehringer Ingelheim gegeben. Die Staatsanwaltschaft Mainz hat die Eröffnung eines Ermittlungsverfahrens jetzt abgelehnt.

Roland Holtz wird weitermachen. Der Pharmakritiker, der lange Jahre in Vertrieb und Marketing in verschiedenen Pharmaunternehmen gearbeitet hat, respektiert die Entscheidung der Staatsanwaltschaft Mainz, wie er DAZ.online sagt. Doch sein Anliegen bleibe bestehen: Zu umfangreich seien die Zweifel, die er in den Unterlagen zu Pradaxa, hergestellt und vertrieben durch Boehringer Ingelheim, gefunden habe. Holtz, der zusammen mit Bruno Müller-Oerlinghausen Patienten berät, hat 18 Monate zu Pradaxa recherchiert. „Und die Zweifel wurden letztendlich nie aufgeklärt“, sagt Holtz. In einer persönlichen Stellungnahme legt er die Beweggründe offen, die ihn bewogen haben, ein Strafverfahren gegen Boehringer Ingelheim wegen Pradaxa auf den Weg zu bringen. Es war das erste Mal, dass in Deutschland eine Privatperson gegen einen internationalen Pharmakonzern Anzeige erstattet hat. 

Die Position von Roland Holtz

Nach seinen Recherchen sei er zu der Überzeugung gekommen, dass der Pharmahersteller Boehringer Ingelheim Patienten gefährdet und getäuscht habe, weil er gegenüber der europäischen Arzneimittelbehörde EMA interne Erkenntnisse über seinen Blutgerinnungshemmer Pradaxa verschwiegen hat, schreibt Roland Holtz. So habe das Unternehmen 2012 die Plasmavariabilität der in der RE-LY Studie erreichten Dabigatran-Spiegel falsch angegeben. Auf Basis dieser Zahlen habe die EMA auf Schutzmaßnahmen zugunsten der Patienten, etwa das verbindliche Messen des Blutspiegels, verzichtet.

Hier liegt Holtz‘ wesentliche Kritik: Patienten seien einem unnötigen Risiko ausgesetzt worden. Doch dieses Mehr an Vorschriften hätte natürlich ein wesentliches Verkaufs-Argument von Boehringer für Pradaxa ins Wanken gebracht, sagt Holtz: dass regelmäßige Bluttests beim Arzt – anders als etwa bei Marcumar – nicht mehr nötig sind. Bereits 2014 hatte das „British Medical Journal“ (BMJ, 2014; 349, Seite 4, erste Spalte Absätze 6-12; Seite 4 2. Spalte Absatz 1) von entsprechenden internen Analysen des Konzerns aus dem Jahr 2011 berichtet.

Was die Staatsanwaltschaft sagt:

Wie die Staatsanwaltschaft Mainz jetzt bekannt gab, hat sie von der Einleitung eines Ermittlungsverfahrens gegen Verantwortliche der Firma Boehringer Ingelheim abgesehen und die Anzeige abgelehnt. Staatsanwältin Andrea Keller begründet diesen Schritt sehr ausführlich. 

So sei vielfältiges Material gesichtet worden. Roland Holtz wurde als der Anzeigende vernommen und Informationsmaterial seitens der Behörden wie etwa des Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte geprüft.

Boehringer Ingelheim: Die Verteidigungsschrift

Boehringer Ingelheim wiederum führte in einer Verteidigungsschrift aus, dass sämtliche durch den Anzeige-Erstatter vorgetragenen Vorwürfe und Verdächtigungen falsch und klar widerlegbar seien:

Pradaxa sei in Europa in folgenden Indikationen zugelassen:

  • Thrombose-Prävention nach Hüft- und Kniegelenkoperationen(seit 2008)
  • Vorhofflimmern ohne Herzklappenerkrankung (seit 2011)
  • Therapie und Sekundärprophylaxe von rezidivierender tiefer Beinvenenthrombose und Lungenembolie (2014)

Dabei sei die Zulassung von Pradaxa bei Vorhofflimmern besonders bedeutsam gewesen, da hiermit erstmals eine Alternative zu den bei dieser Indikation standardmäßig eingesetzten Vitamin-K-Antagonisten bestanden habe.

Die Nutzen-Risiken-Relation des Pradaxa-Wirkstoffs Dabigatran sei gegenüber den Vitamin-K-Antagonisten im Rahmen der RE-LY-Studie überprüft worden, schreibt Boehringer.

Die Studie habe ergeben, dass Dabigatran bei Patienten mit Vorhofflimmern effektiver einem Schlaganfall vorbeugt bei gleichem Blutungsrisiko bzw. ein geringeres Blutungsrisiko bei gleich effektiver Schlaganfallprophylaxe hätte als eine engmaschig kontrollierte Therapie mit Vitamin-K-Antagonisten, heißt es weiter.

Der Vorwurf, Mitarbeiter von Boehringer Ingelheim hätten aus Marketinggründen auf eine routinemäßige Untersuchung der Blutwerte beim Einsatz von Pradaxa verzichtet, entspreche nicht den Tatsachen. „Diese Behauptung sei auf eine – aus dem Zusammenhang gerissene – E-Mail aus dem Jahr 2011 gestützt worden.“ Tatsächlich habe Boehringer Ingelheim allein aus wissenschaftlichen Gründen auf ein engmaschiges Monitoring der Plasmaspiegel oder des Gerinnungsfaktors bei Pradaxa verzichtet.

Die Dabigatran-Behandlung als solche sowie die Dosisauswahl orientiere sich an individuellen Risikofaktoren für einen Schlaganfall bzw. der Blutungsneigung des jeweiligen Patienten. Einen therapeutischen Plasmakonzentrationsbereich, der ein optimales Nutzen-Risiko-Verhältnis für sämtliche Patienten darstellen würde, gebe es nicht.

Die regelmäßige Bestimmung des Plasmaspiegels im Therapieverlauf neben der Berücksichtigung des Patientenalters und der Nierenfunktion würde daher keinen zusätzlichen Nutzen für die Dosierungsauswahl ergeben, so der Konzern weiter.

Darüber hinaus habe man sich – entgegen den Behauptungen des Anzeige-Erstatters – sowohl gegenüber der EMA als auch den anderen involvierten Behörden stets vollkommen transparent verhalten. Die EMA habe die wissenschaftliche Diskussion um die Frage eines regelmäßigen Monitorings von Beginn an verfolgt und sich auch daran aktiv beteiligt. Daher sei die EMA auch in der Folgezeit im Rahmen von Diskussionen zur Frage der Notwendigkeit eines regelmäßigen Monitorings stets der Auffassung von Boehringer Ingelheim gefolgt.

Als Folge dieses „Prozesses“ seien „sämtliche Fragen“ von der EMA im Januar 2016 als „abgeschlossen“ bewertet und das Verfahren ohne Auflagen ebenfalls beendet worden.

Mit Stand Januar 2016 ist das Medikament Pradaxa in 106 Ländern für die Behandlung von Patienten mit Vorhofflimmern zugelassen. In keinem einzigen Land sei – trotz umfangreicher zivilrechtlicher Schadensersatzprozesse in den USA und Kanada und trotz zum Teil intensiver Diskussionen – von den zuständigen Aufsichtsbehörden ein regelmäßiges Monitoring der Gerinnungswerte bei einer Behandlung mit Pradaxa verlangt worden.

Pradaxa: Das Fazit der Staatsanwaltschaft

Für Staatsanwältin Keller besteht „nach dem Ergebnis der Ermittlungen kein hinreichender Tatverdacht für Verstöße gegen das Arzneimittelgesetz." Ein Verstoß gegen das Verbot des Inverkehrbringens von bedenklichen Arzneimitteln liege ebenfalls nicht vor, da zu dem maßgeblichen Zeitpunkt des Inverkehrbringens des Medikamentes im Jahr 2008 – selbst nach dem Vorbringen des Anzeige-Erstatters – keine wissenschaftlichen Erkenntnisse über eine schädliche oder bedenkliche Wirkung des Medikamentes Pradaxa im Rahmen einer Nutzen-Risiko-Abwägung bekannt waren. Auf Basis der RE-LY-Studie habe sich für Pradaxa ein positives Risiken-Nutzen-Verhältnis ergeben, das auch im Rahmen der fortlaufenden Überwachung bestätigt worden sei.

Interessant sind die weiteren Ausführungen Kellers: Ein strafbares Verhalten – welches vorliegend konstruktiv bestritten wird – liege nicht vor, wenn sich die Nebenwirkungen – wie hier – nach einem Schaden-Nutzen-Vergleich im Rahmen des erlaubten Risikos bewegen. Dabei seien Häufigkeit und Schwere der Nebenwirkungen der Schwere der Krankheit gegenüberzustellen. Bei der sodann zu erfolgenden Abwägung ist von dem jeweiligen Stand der wissenschaftlichen Erkenntnisse auszugehen; die Nebenwirkungen müssen sich in einem danach vertretbaren Maß halten. Die Abwägung ist auch Gegenstand arzneimittelrechtlicher Zulassungsverfahren und deren fortlaufender Überprüfungen.  


Nicola Kuhrt, DAZ.online
nkuhrt@daz.online


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5 Kommentare

Pradaxa. NOAK

von Prof.Dr.Bruno Müller-Oerlinghausen am 21.05.2016 um 21:45 Uhr

Herr Dr. Schweikert-Wehner hat bereits wesentliche kritische Punkte benannt. Es ist auch aus Sicht der Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft nicht einzusehen, warum Patienten, die auf Phenprocoumon gut eingestellt sind, mit einem mehrminder stabilen INR, unbedingt auf eines der neueren, teureren und keine ersichtlichen Vorteile bietenden NOAK umgestellt werden. Das gleiche gilt für die Ersteinstellung. Für Phenprocoumon spricht die jahrzehntelange Erfahrung die wir damit haben und die Tatsache, dass wir mittels der INR Bestimmung wissen, in welchem Bereich der antikoagulatorischen Aktivität wir uns befinden. Die Therapie von z.B. Dabigatran ist dagegen ohne Messung des Plasmaspiegels bzw. der akkurat damit korrelierten antikoagulatorischen Aktivität ein Blindflug, insbesondere angesichts der großen Variabilität der in Studien gemessenen Plasmaspiegel nach einer einheitlichen Dosis. Dem Industrie-Insider-und Aussteiger Roland Holtz ist zu danken dass er auf diese Zuzsammenhänge und die fragwürdige Vermarktungsstrategie des Herstellers aufmerksam gemacht hat. Er hat für seine Position vertrauenswürdige Garanten, nämlich mehrere einschlägige kritische Artikel im international hoch angesehenen British Medical Journal.

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Wie einfach ist die Sicht auf die Dinge wirklich

von Roland Holtz am 21.05.2016 um 0:34 Uhr

Erstens
Dabigatranetexilat ist ein Prodrug, das in 2 metabolischen Schritten zu Dabigatran, dem wirksamen Agens, verstoffwechselt wird. Der Sicht auf die renale Funktion muss also zwingend auch die Sicht auf die hepatische Funktion hinzugefügt werden. Platt gesagt, einem Alkoholiker mit einer hochgradigen Leberinsuffizienz braucht man Pradaxa wirklich nicht zu geben. Es würde überhaupt nicht wirken.

Zweitens
Das Ganze zeigt aber auch, wie erschreckend simplifiziert diese Diskussion geführt wird. In der wissenschaftlichen Diskussion werden scheinbar nur Blutungen als relevante UAWs wahrgenommen. Dass in der Realität das Spektrum der UAWs viel größer ist, zeigt ein Blick auf die Datenbank des Uppsala Monitoring Centers. (www.vigiaccess.org) Wenn Sie dort den Begriff Pradaxa eingeben, dann werden Sie in der Sicht auf die Verteilung der UAWs auf die Organsysteme, ein ganz anderes Bild vorfinden.

Drittens
Sicher die Simplifizierung der Pharmakotherapie steigert die Adhärenz bei den Patienten, so die Theorie. Aber eine Industrie, die landauf landab über die genetische Prädisposition bei der Verstoffwechselung von Pharmaka redet, sollte wissen, dass die Realität im täglichen Medizinbetrieb eine andere ist.

Viertens
Welches Dogma wird hier verfolgt? Das Wissen um die Neigung von Therapeuten, Therapie einfach zu gestalten. (Für sich, für den Patienten?) Aber in einem komplexen Regelkreislauf kann ein simplifizierender Ansatz fatale Auswirkungen haben. Hinzu kommt: Je älter die Patienten werden, desto komplizierter wird das Spiel. Hochbetagte sind aber die in der Mehrzahl angesprochenen/betroffenen Patienten.

Was wäre die Folge, wenn ich der medizinischen Sicht der Dinge den pharmakologischen Sachverstand hinzufüge? (Was wenige wissen ist, dass Fachinformationen vom BfArM als Werbemittel eingestuft werden)

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Risiko?

von Schöll am 20.05.2016 um 8:22 Uhr

So ein Unsinn! Jeder, der nach Zulassung die Fachinformation gelesen hat, wusste, dass die Nierenfunktion absolut relevant ist - schon, um die richtige Dosierung zu wählen. Und dass Neueinführungen immer gerne in den Himmel gelobt werden ist auch kein Geheimnis. Die Adressaten sind studierte Akademiker und zu einer eigenen Meinung und Einschätzung fähig! Sollte jemand solche neuen Arzneimittel nicht vorsichtig und kritisch anwenden, macht er sich der Fahrlässigkeit schuldig. Etwas anderes ist das Verschweigen oder vertuschen von Daten. Hier sind wir voll auf die Zulassungsbehörden angewiesen. Ich kann nur hoffen, dass die ihren Job ordentlich machen!

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AW: Risiko

von Dr Schweikert-Wehner am 20.05.2016 um 9:24 Uhr

Lieber Kollege Schöll
im Prinzip haben Sie ja Recht, nur die Pharmavertreter von BI haben immer erzählt man brauche nichts zu messen. Genau hier lag und liegt das Problem: Labersäcke und Hochglanzbrochüren treffen auf Naivität.

Risiko verschwiegen?

von Dr Schweikert-Wehner am 19.05.2016 um 14:53 Uhr

Obwohl Dabigatran zu 80% renal eliminiert wird hat BI erst mit dem Rote HAnd Brief aus Oktober 2011 und nachdem es zahlreiche Todesfälle unter Pradaxa bei älteren Menschen mit eingeschränkter Nierenfuktion gab auf die Notwendigkeit des Messens der Nierenfunktion hingewiesen. Die Vergleichzahlen zu Warfarin sind auch deshalb immer bescheiden, weil in den Vergleichsstudien die Patienten in der Warfaringruppe nur zu etwa 70% im Zielbereich waren. Die korrelierende Gerinnungstests: Hömoclot oder Ecarin-Test würden die Therapiesicherheit deutlich erhöhen aber die Therapie verteuern...

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